Biografien erzählen

Wie Deutsche und Russen wieder in einen Dialog kommen könnten

Sie kam pünktlich, tief erschüttert und doch kampfbereit. Die von mir hochverehrte Schriftstellerin Christa Wolf und ich hatten uns in einem Straßencafé im kalifornischen Santa Monica verabredet. Ende Januar 1993. Das (west-)deutsche Feuilleton hatte soeben die Jagd auf die (ost-)deutsche Literatin eröffnet. Als IM „Margarete“ hatte sie in jungen Jahren drei Berichte über die Kulturszene an die Stasi verfasst. Dem gegenüber standen 42 Aktenordner, in denen das MfS dokumentierte, wie ihre Spitzel bis 1989 Christa Wolf minutiös observiert hatten.

Das ZDF-Magazin „Kennzeichen D“, für das ich damals arbeitete, stellte sich schützend vor die Schriftstellerin und fragte, was wohl schwerer wiege: die „Jugendsünde“ der Christa Wolf oder ihr jahrzehntelanges couragiertes Eintreten für eine Demokratisierung der Verhältnisse in der DDR. Am Ende unseres Gesprächs in Santa Monica schlug Christa Wolf vor, die „Deutschen Ost“ und die „Deutschen West“ sollten endlich beginnen, sich gegenseitig ihre Lebensläufe zu erzählen. Nur so sei es möglich, die Gräben zwischen ihnen zuzuschütten und der zunehmenden Entfremdung der Ost- und Westdeutschen zu begegnen.

Das war vor 28 Jahren, und ich musste gerade jetzt daran zurückdenken, als ich darüber nachdachte, wie es wohl möglich wäre, den eingeschlafenen Dialog zwischen Deutschen und Russen wieder zu beleben. In einer Zeit, in der gegenseitige Vorwürfe und Beschimpfungen, im besten Fall Sprachlosigkeit, unser Verhältnis prägen.

Vielleicht ist es naiv, einander seine Biografien zu erzählen, um Verständnis für das Denken und Handeln seines Gegenübers zu erwecken. Mancher wird einwenden: Zwischen den Deutschen aus Ost und West hat das bis jetzt auch nicht so recht funktioniert. Man hat sogar das Empfinden, dass die Entfremdung zwischen ihnen wächst.

Und dennoch: Lasst es uns versuchen! Erzählen wir den Russen, wer wir sind, und hören wir ihnen zu, wenn sie ihre Lebensgeschichte offenbaren. Vielleicht hilft das. Mir jedenfalls hat es immer geholfen, Russland besser zu verstehen, seine Geschichte, seine Erfolge und Probleme, die Leidensfähigkeit und Obrigkeitshörigkeit seiner Menschen, indem ich den Russen aufmerksam zugehört habe, wenn sie aus ihrem Leben erzählten.

Tante Ira und Onkel Sascha

Mitte der 1970er-Jahre waren meine Frau und ich für zwei Wochen zu Gast bei einer Familie im Städtchen Sagorsk, das heute Sergijew Possad heißt, nordöstlich von Moskau. Bei den Raspopows. Das Ehepaar wohnte mit Tochter, Tante und Onkel, in einer engen Neubauwohnung. Abends saßen wir oft auf einer Bank vor der Haustür oder in der Küche und plauderten aus unserem Leben.

So erfuhr ich die Geschichte von Tanta Ira und Onkel Sascha. Irina Raspopowa stammte aus wohlhabendem Hause in Sankt Petersburg. Ihr Vater war ein angesehener Arzt. Er führte eine große Praxis und behandelte die Reichen der Stadt, Adlige, Kaufleute und Bankiers.

Nach der Oktoberrevolution 1917 verlor die Familie ihren gesamten Besitz, Wohnung, Praxis, Vermögen. Irinas Vater, der nicht emigrieren wollte, arbeitete in einer Seuchenklinik, die Mutter als Krankenschwester. Beide verhungerten im Winter 1942 während der Blockade Leningrads durch hitlerdeutsche Truppen. Tante Irina diente als Sanitäterin in der Roten Armee bis zur Befreiung von Berlin.

Onkel Sascha, Alexander Raspopow, wurde in der Familie eines mittleren Bauern im Gebiet Pskow in Nordrussland geboren. Der Vater, der zwei Gespanne hatte, galt als Kulak, wurde 1929 durch die Bolschewiki enteignet und mit der gesamten Familie nach Sibirien verbannt. Sascha, der älteste Sohn, meldete sich im September 1941, nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion, zur Armee. Er überlebte Stalingrad und den Vormarsch der Roten Armee gen Westen. Auch er war dabei bei der Befreiung von Berlin. Sein Vater und drei seiner Brüder starben an der Front, die Mutter verhungerte im kasachischen Karaganda.

Enteignungen, Bürgerkrieg, Verbannung: Fast jede russische Familie hatte Opfer zu beklagen bei der Sowjetisierung des Landes. Im Großen Vaterländischen Krieg, wie die Russen den Zweiten Weltkrieg nennen, starben mehr als 25 Millionen Sowjetbürger. Das prägt bis heute ihr Verhältnis zu uns Deutschen. Das sollten wir niemals vergessen.

Der König des russischen Goldes

Wadim Tumanow, damals 21 Jahre alt, wurde im Herbst 1948 vom NKWD in Wladiwostok verhaftet. Was war passiert? Tumanow hatte im Zweiten Weltkrieg in der Roten Flotte gedient und fuhr nach Kriegsende als Navigationsoffizier auf dem Frachter „Uralmasch“. Aus Seattle transportierten sie amerikanische Hilfslieferungen nach Wladiwostok. Lastwagen und Getreide. In einer Hafenkneipe hatte der Seemann Tumanow ein Gedicht von Sergej Jessenin vorgetragen. Dieser Dichter aber stand zur Stalinzeit auf dem Index, galt als bürgerlich-dekadent.

Wegen des Rezitierens eines Jessenin-Gedichts wurde Tumanow antisowjetischer Propaganda bezichtigt und für acht Jahre in den Gulag geschickt, in die Goldgruben an der Kolyma. Erst nach Stalins Tod kam er frei, gründete die ersten Genossenschaften der Goldschürfer und wurde noch zu Sowjetzeiten ein reicher Mann.

Seine Artels (Genossenschaften) versorgten den Kreml mit dem begehrten Edelmetall. Seine Landsleute nennen ihn den „König des russischen Goldes“. Seine Geschichte erzählte mir Wadim Tumanow im Spätsommer 1999. Von Magadan aus sind wir die Kolyma-Trasse über 500 Kilometer mit einem Jeep gemeinsam entlanggefahren. Er zeigte mir die Überreste der Straf- und Arbeitslager, die kargen Hütten, in denen die Gulag-Häftlinge hausen mussten.

Mehr als 18 Millionen Menschen waren von 1930 bis 1953 in Stalins Lagern inhaftiert und zu Zwangsarbeit verurteilt, fast drei Millionen starben dort. Stalins Terror hat mehrere Generationen von Russen entscheidend geprägt. Das „Väterchen“ im Kreml, vor dem alle zitterten, der die Treuesten seiner bolschewistischen Kampfgenossen ermorden ließ, wird aber bis heute auch von vielen Russen verehrt. Er gilt vielen als Sieger im Krieg, als „Führer“, der die Sowjetunion zur Weltmacht werden ließ.

Der Putin-Maler

Das Russland der Reichen und Schönen, der Korrupten und Speichellecker, auch das Russland übler Dekadenz lernte ich bei Nikas Safronow kennen. Der begabte Maler, wahlweise auch als „Dali“ oder „Casanova“ Russlands bezeichnet, bewohnt mitten in Moskau ein drei-etagiges Haus mit Atelier, 10-Zimmer-Wohnung und Dachterrasse mit Blick auf den Kreml. Dort haben wir uns einige Male getroffen und er hat mir sein bisheriges Leben offenbart, ein Sittengemälde Russlands zu Zeiten Jelzins und Putins.

Safronow malte Wladimir Putin in heldenhafter Pose, am Fenster seiner Amtsstube im Kreml. Dieses offizielle Putin-Porträt machte den Maler berühmt und begehrt. Fortan wollten sich viele Spitzenpolitiker und Oligarchen, Sportler und Künstler, auch Sophia Loren und Jack Nicholson und viele andere Prominente von ihm malen lassen. Ich war dabei, als eine steinreiche Oligarchengattin ihre Tochter zur Porträtsitzung in Safronows Atelier brachte und über den Preis verhandelte.

Nikas malt manchmal drei Bilder am Tag und kassiert für jedes mindestens zehntausend Euro. Er zieht Russlands obersten Zehntausend das Geld aus der Tasche. Er selbst lebt durchaus luxuriös, fährt große Autos. Aber er ist auch eine Art „Robin Hood Russlands“. Ein Großteil seiner Einnahmen spendet Safronow den Armen, Bedürftigen und Kindern seiner Geburtsstadt Uljanowsk. In dieser Großstadt an der mittleren Wolga finanziert Nikas mehrere Schulen und Kindergärten, Altenheime und Krankenhäuser. Er nimmt den Reichen – und gibt den Armen. Eine Seltenheit im Russland von heute.

Dialog – mit wem?

Wenn wir unsere Biografien kennen, wissen wir auch, wer uns gegenübersitzt. Auch beim Petersburger Dialog. Einige Male habe ich an den Beratungen der Arbeitsgruppe Medien teilgenommen und kannte die Kollegen nicht, die aus Russland angereist waren, um mit uns zu diskutieren. Wenn der Dialog zwischen uns nach der überstandenen Corona-Pandemie hoffentlich bald wieder zustande kommt, sollten wir den Ratschlag von Christa Wolf beherzigen: Lasst uns den Reset-Knopf drücken, einen Neustart hinlegen und zu dessen Beginn uns gegenseitig unsere Biografien erzählen. Wer sind wir? Wo kommen wir her, aus welchen Familien, aus welchen politischen Bewegungen oder Parteien? Warum liegt uns Deutschen Russland (und den Russen Deutschland) besonders am Herzen? Was erwarten wir voneinander?

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