Belarus: Der kranke Staat Europas
Die Proteste scheinen beendet zu sein, aber Regime und Opposition werden sich radikalisieren
Seit Beginn der belarussischen Revolution war es Lukaschenkos Konzept, den Protestierenden einige Zugeständnisse zu machen. Im August 2020, während eines Besuchs in einer Minsker Traktorfabrik, formulierte er: „Sie sagen es und ich schließe es nicht aus, dass ich zu vorgezogenen Präsidentschaftswahlen gehen werde, aber nicht jetzt, nicht unter dem Druck der Straße.“
Nach einem Treffen zwischen Lukaschenko und Putin meinte der russische Außenminister Lawrow im September 2020: „Wie der belarussische Staatschef sagte, wird er nach der Verfassungsreform bereit sein, vorgezogene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen anzukündigen.“
Die Idee einer Verfassungsreform wurde erfunden, vielleicht auf Vorschlag Moskaus. Diese soll die Befugnisse des Präsidenten einschränken und die anderer Behörden, insbesondere des Parlaments, erweitern.
Staatliche Medien kolportieren, dass die Rolle der Parteien zunehme und ein proportionales Wahlsystem eingeführt werde. Es gab Hinweise auf die Abschaffung der Todesstrafe. Das heißt, die Regierung versprach Schritte in Richtung Demokratie und suchte den Kompromiss mit der Gesellschaft. Es war ein „Zuckerbrot“ für die Demonstranten, um zu zeigen, dass die Regierung bereit für Veränderungen sei.
Der Höhepunkt dieses Trends war Lukaschenkos Besuch in einem Gefängnis und ein Treffen mit politischen Gefangenen. Dies konnte man als ersten Schritt zum Dialog sehen.
Ende 2020 änderte sich die Situation. Die massiven Proteste wurden eingeschränkt und im Jahr 2021 nicht wieder aufgenommen.
Warum gingen die Proteste zurück?
- Eine revolutionäre Explosion ist ein seltenes Phänomen in der Geschichte. Dazu sind viele Umstände erforderlich. Was im Jahr 2020 geschah, ist in gewisser Weise vorbei.
- Massenproteste sind von Natur aus nicht dauerhaft. Es ist unmöglich, eine große Anzahl von Menschen für lange Zeit in einem Zustand emotionaler Spannung zu halten.
- Die politische Unterdrückung hat dramatisch zugenommen. Eine weitreichende Offensive gegen alle, die mit der Politik der Behörden nicht einverstanden sind, geht weiter, ebenso die politischen „Säuberungen“. Täglich finden Festnahmen, Durchsuchungen und Gerichtsverfahren statt. Im Notfall werden „antirevolutionäre“ Gesetze verabschiedet, um sicherzustellen, dass alle öffentlichen Aktivitäten, die von den Behörden nicht kontrolliert werden bzw. einfach nur abweichend sind, gesetzlich verfolgt werden. Diese groß angelegte Unterdrückung hat Wirkung. Im Sommer und Herbst 2020 hatten die Menschen keine große Angst vor Inhaftierungen, viele dachten, dass dies nicht so lange dauern würde. Alles würde bald zusammenbrechen. Jetzt ist die Situation anders.
- Die Teilnahme an Straßenaktionen erfordert eine starke Motivation. Im letzten Sommer und Herbst hofften die Menschen, dass Lukaschenko angesichts der Massenproteste gezwungen sein würde, zurückzutreten, Verhandlungen aufzunehmen und somit Neuwahlen erreichbar seien. Jetzt sind die Hoffnungen reduziert. Im Vergleich zum Vorjahr ist eine Demobilisierung und Entpolitisierung der Gesellschaft deutlich geworden. Die Zahl der Nutzer unabhängiger Medien ist zurückgegangen. Auf dem Höhepunkt des Jahres 2020 haben sich rund 1,5 Millionen Menschen registriert und an der Abstimmung auf der Golos-Plattform teilgenommen. Jüngst haben nur etwa 700000 Bürger auf den Aufruf von Swetlana Tichanowksaja reagiert und für Verhandlungen zwischen den Behörden und ihren Gegnern gestimmt.
- Hinzu kommt, dass in den letzten Monaten eine massive politische Auswanderung aus Belarus stattfand. Die Aktivsten gehen und verstecken sich vor der Verfolgung.
Das Thema eines Dialogs mit der Gesellschaft ist erledigt. Laut Lukaschenko bestehe kein Bedarf mehr an einem Kompromiss mit der Gesellschaft. Er sprach auf der sogenannten VI. Allbelarussischen Volksversammlung (VNS) über einen „Fahrplan der Veränderungen“. In Kürze werde eine neue Verfassung vorgelegt, die Anfang 2022 per Referendum verabschiedet werden soll.
In seinen Schlussbemerkungen betonte Lukaschenko, dass sich aber noch alles ändern könne. Er versucht, sich nicht an feste Versprechen zu binden. Bei einem Treffen am 2. März 2021 deutete Lukaschenko an, dass möglicherweise nach dem Referendum über die Verfassung vorgezogene Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden.
Plan B zum Machterhalt
Ein Verfassungsreferendum Anfang 2022 ist nur dann sinnvoll, wenn nachfolgend Wahlen stattfinden. Wenn dies nicht der Fall sein wird und Lukaschenko noch fünf Jahre im Amt bleibt, wäre es logisch, dieses Referendum Ende 2024 oder Anfang 2025 abzuhalten – mit der Begründung, dass die neue Verfassung mit der Amtseinführung des neuen Präsidenten in Kraft tritt.
Lukaschenko versicherte, dass er nicht vorhabe, für eine neue Amtszeit zu kandidieren: „Ich werde es nicht sein! Es wird ein anderes Staatsoberhaupt geben.“
Eine weitere wichtige Schlussfolgerung: Lukaschenko wird die Macht nicht vollständig verlassen. Es ist unklar, welche Änderungen in der Verfassung vorgesehen sind. Lukaschenko ist hier sehr widersprüchlich. Zunächst wiederholte er, dass es für den künftigen Präsidenten unmöglich sei, Befugnisse aufzuheben, die in der aktuellen Verfassung vorgesehen sind. Und jetzt erklärt er: „Das Staatsoberhaupt darf nicht geschwächt werden.“
Die wichtigste Neuerung ist jedoch, dass die Volksversammlung einen Verfassungsstatus erhält. Darüber hinaus wird diese Institution entweder zu einem parallelen obersten Leitungsorgan oder zu einem Überbau gegenüber allen anderen Regierungszweigen. In der auf dem Forum angenommenen Entschließung heißt es, dass die VNS als „die höchste Form der Volksvertretung mit gesetzgeberischer Konsolidierung ihres besonderen Rechtsstatus“ anerkannt wird.
Laut Lukaschenko soll dieses Gremium die strategischen Probleme der Gesellschaft lösen, eine Art Stabilisator sein, ein Sicherheitsmechanismus für die Übergangszeit. Falls die Opposition überraschend die Wahlen gewinnt, kann die VNS ein Hindernis auf dem Weg der Reformen werden. Es ist klar: Lukaschenko wird selbst die VNS leiten (wie Nasarbajews Plan in Kasachstan).
Somit soll die Reinkarnation seiner Macht in einem neuen Status stattfinden. Dabei ist wichtig, dass die VNS ein nicht-gewähltes Gremium ist. Alle Delegierten werden von der örtlichen Exekutive ernannt. Aktivitäten sowie das Wahlverfahren der VNS sind nicht gesetzlich geregelt. Das Parlament wird so ausgehebelt. Ein nicht-gewähltes Gremium wird das Zentrum der Regierung.
Damit würde die derzeitige demokratische Landschaft beseitigt. Anscheinend betrachtet Lukaschenko diese Struktur als Plan B.
Wie dies funktionieren soll, weiß gegenwärtig keiner. Das wäre dann eine Dyarchie oder sogar Triarchie (Präsident, Parlament, VNS). Belarus wird in naher Zukunft vor einer Reihe von Wahlkämpfen stehen: Kommunalwahlen, ein Referendum über die Verfassung, Präsidentschaftswahlen, Parlamentswahlen. Unter den Bedingungen einer politisierten belarussischen Gesellschaft wird dies zu ständigen Krisen führen.
Der Präsidentschaftswahlkampf im vergangenen Jahr löste Proteste aus. Und nun vier Wahlkampagnen gleichzeitig. Das wird die Politisierung der Gesellschaft noch verstärken.
Russlands Zurückhaltung
Der einzige Faktor, der Lukaschenko dazu veranlassen könnte, einen echten Machtwechsel zu vollziehen, ist Russland. Dieser Faktor ist heute jedoch von geringerer Bedeutung. Erstens ist der Bedarf an russischer Unterstützung stark zurückgegangen, nachdem die Proteste in Belarus minimiert wurden und das Regime nicht mehr ernsthaft bedroht ist.
Zweitens hat sich die politische Situation in Russland selbst geändert. Auch dort kam es zu Protesten. In gewisser Weise delegitimieren sie den belarussischen Protest in den Augen des Kremls.
Die bisherige Position Russlands war: Natürlich wurde die Revolution in Belarus vom Westen organisiert, aber es gibt auch interne Gründe. Daher kritisierte Moskau von Zeit zu Zeit die „übermäßige Härte“ des belarussischen Innenministeriums und forderte Lukaschenko auf, einen Dialog mit der Gesellschaft aufzunehmen.
Jetzt hat sich die Situation geändert. Das belarussische und das russische Regime befinden sich in einer ähnlichen Situation. Praktisch bedeutet dies, dass die Unterstützung Moskaus für Minsk bedingungslos wird.
Bis jetzt hat der Kreml Lukaschenko einige Bedingungen auferlegt, auf einer Verfassungsreform und vorgezogenen Präsidentschaftswahlen bestanden. Es wird künftig für Putin schwierig sein, Lukaschenko zu einem Machtwechsel oder zu einem Dialog zu drängen. Immerhin befand sich der Kreml selbst in einer ähnlichen Position. Auch Putin wird keinen Dialog mit den Protestierenden aufnehmen. Wie kann er dies von Lukaschenko verlangen?
Die Krise wird sich verschärfen
Belarus wird nicht zu dem Status zurückkehren, in dem es sich vor der Präsidentschaftswahlkampagne befand. Der Punkt ist, dass sich Lukaschenko nicht mit den alten Methoden an der Macht halten kann. Um zu überleben, muss das autoritäre Regime in Belarus härter und undemokratischer werden als zuvor.
Infolgedessen werden wir in den kommenden Monaten ein härteres autoritäres Regime und eine politisierte, revolutionäre Gesellschaft sehen, die in Bewegung geraten ist und einen Hauch von Freiheit gespürt hat. Der Konflikt wird akuter, die politische Krise verschärft sich.
Belarus wird zum „kranken Mann Europas“ und des gesamten postsowjetischem Raums. Das ist der Preis, der für ein Vierteljahrhundert dämpfender Stabilität zu zahlen ist.
Dieser Beitrag wurde abgeschlossen am 28. März 2021.
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"Südostasien: Region im Umbruch", Ausgabe 176, Juni 2021