Putins Krieg und Europas Geschichte

Das Lernen aus der Geschichte steht erneut vor einer großen Bewährungsprobe

von Rachel Salamander
Rachel Salamander zu Putins Krieg
Rachel Salamander: Was heißt für uns heute "Nie wieder"?

Eigentlich wollte ich heute und hier an der Universität Regensburg über Erinnerung sprechen. Eigentlich – das war vor dem russischen Überfall auf die Ukraine. Mit einem Schlag ist jetzt die Welt eine andere geworden. Darum fällt es mir schwer, über Erinnerungskultur im Allgemeinen und im Besonderen zu sprechen, so wie ich es vorhatte. Kultur umfasst nicht nur all die Künste, wie Literatur, Musik, Malerei etcetera, sondern eben auch jenes komplexe gesellschaftliche Gespräch, in dem es um Wissen und Lernen aus der Geschichte geht.

Durch Putins Krieg steht das Lernen aus der Geschichte erneut vor einer großen Bewährungsprobe. Die Erinnerungskultur in Deutschland galt bisher vor allem dem epochalen Menschheitsverbrechen der Naziherrschaft mit ihrem präzedenzlosen Massenmord an den europäischen Juden.

Dieser Konsens ist in unserer Erinnerungskultur als das stolze Ergebnis jahrzehntelanger „Aufarbeitung der Vergangenheit“ abgespeichert. Mehrere Generationen versuchen diese Verbrechen zu verstehen, die wir als „Zivilisationsbruch“ bezeichnen und von denen Hannah Arendt im Interview mit Günter Gaus 1964 sagte: „Dieses hätte nicht geschehen dürfen. Da ist irgendetwas passiert, womit wir alle nicht fertig werden.“

Die Nation der Ukrainer

Weit entfernt, dieses Menschheitsverbrechen zu begreifen, werden wir im Augenblick wieder zu Zeitzeugen: von sinnlosem Tod und unendlichem Leid, das Putin mit seiner imperialen Expansion, mit seiner Angst vor einer freiheitlichen Gesellschaft in einem ersten Schritt über die Ukraine bringt.

Was sehen wir? Wir sehen, dass die politische Nation der Ukrainer seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine andere, gewandelte Nation geworden ist, eine andere als jene, die zu Teilen trotz des Vernichtungskriegs der Deutschen gegen die Ukraine mit den Deutschen kollaborierten und sich am Massenmord an den Juden beteiligten.

Die Ukrainer führen uns jetzt gerade vor, was sie aus der Geschichte gelernt haben. 2019 wählten sie den Juden Wolodymyr Selensky – der sich jetzt von Putin und seinen Vasallen als „Neonazi“ beschimpfen lassen muss – mit 73 Prozent zu ihrem Staatspräsidenten. Sein Großvater kämpfte seinerzeit in der Roten Armee gegen Hitlers Wehrmacht.

In der jüdischen Erfahrung steht der biblische Imperativ „Zachor“, „Erinnere Dich“, im Zentrum. Diese Aufforderung geht einher mit der Mahnung, nicht zu vergessen. Doch die Juden bedürfen dieser Mahnung nicht. Es gibt kaum eine jüdische Generation ohne Diskriminierung, Verfolgung und Opfer. Auch und seit jeher bei Juden in der Ukraine.

Was heißt für uns „Nie wieder“?

Adorno hat einen „neuen kategorischen Imperativ“ in dem Sinne gefordert, dass die nächsten Generationen „ihr Denken und Handeln so einrichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“. Das ist zum „Nie wieder!“ geworden.

Aber was verbinden die Nachkommen mit diesem Slogan für ihre Zukunft? Was darf sich nie wieder wiederholen? Auschwitz? Vierzig Prozent der Deutschen wissen nicht einmal mehr, was der Holocaust war.

Oder heißt „Nie wieder“ nie wieder die Demokratie aufs Spiel setzen? Oder heißt „Nie wieder“ nie wieder Unfreiheit zulassen? Oder heißt „Nie wieder“ nie wieder ein wehrloses Opfer sein?

Wolodymyr Selensky aktualisiert all diese „Nie wieders“ als Lehre aus der jüdischen Erfahrung. Er kämpft gerade für all das, was wir meinten, aus der Geschichte gelernt zu haben.

Welchen Preis sind wir bereit zu bezahlen? Es erscheint mir geradezu wohlfeil, den nächsten Generationen die Aufarbeitung der heutigen Gegenwart mit auf den Weg zu geben.

Mir geht stattdessen in diesen schweren Tagen das Lied des jiddischen Volksdichters Mordechaj Gebirtig nicht aus dem Sinn, das er 1938 nach einem Pogrom in seiner Heimatstadt Krakau verfasste. Am 4. Juni 1942 wurde Mordechaj Gebirtig auf der Straße im Ghetto Podgórze, einem Stadtteil von Krakau, von einem deutschen Soldaten erschossen. Mit den Überlebenden der Shoah aufgewachsen, war sein Lied für uns alle immer eine Art Hymne, und sie ist es bis heute:

Unser Schtetl brennt

S' brennt! Briderlach, s'brennt!

Oj, unser orem schtetl nebbech brennt!

(…)

Un ihr schtejt un kukt asoj sich

Mit farlejgte Hent

Un ihr schtejt un kukt asoj sich –

Unser schtetl brennt ...

 

Deutsch:

Es brennt! Brüder, es brennt!

Oh, unser armes Schtetl brennt!

Böse Winde mit Zorn

reißen und schüren

noch die wilden Flammen,

alles ringsum schon brennt!

Und ihr steht und schaut umher

mit verschränkten Händen,

und ihr steht und schaut umher –

unser Schtetl brennt ...

(…)

Letzte Strophe:

Es brennt! Brüder es brennt!

Die Hilfe liegt nur bei euch.

Und wenn das Schtetl euch teuer ist,

nehmt die Werkzeuge, löscht das Feuer,

löscht mit eurem eigenen Blut,

beweist, dass ihr das könnt.

Steht nicht, Brüder, hier so herum

mit verschränkten Händen.

Steht nicht, Brüder, löscht das Feuer:

Unser Schtetl brennt.

Dieser Text ist Rachel Salamanders Rede zur Eröffnung des Zentrums für Erinnerungskultur an der Universität Regensburg, gehalten am 10. März 2022. Wir danken der Autorin, diesen Text auf KARENINA veröffentlichen zu dürfen.

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