Gorbatschow: Es ging um Sein oder Nichtsein

Weizsäcker und Gorbatschow über die Perestroika, Reagans Wandlung zum Abrüster und den Putsch im August 1991

von Redaktion KARENINA
Nachdenken über Vergangenheit und Zukunft: Gorbatschow und Weizsäcker 2005 in Bonn

Am 6. Juli 2005 trafen sich Richard von Weizsäcker und Michail Gorbatschow auf dem Bonner Petersberg, um „Wege zu einer Neuen Weltordnung“ zu diskutieren. Eingeladen hatte der Petersburger Dialog. Thomas Roth moderierte das Gespräch, das in eine Diskussion mit jungen Deutschen und Russen mündete. KARENINA dokumentiert die Eröffnung der Debatte.

Thomas Roth: Richard von Weizsäcker, Sie waren an der Spitze unseres Staates, als Michail Sergejewitsch in Moskau die Schritte zur Perestrojka eröffnete. Hatten Sie das Gefühl, dass so etwas sich entwickeln kann?

Richard von Weizsäcker: Wir haben, wie ich nicht bestreiten will, auf eine Reformbewegung in der Sowjetunion lange gehofft und lange vergeblich gehofft. Und umso größer war unsere wirklich dankbare Überraschung dafür, dass als Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU wurde, ein Weg in Richtung auf die Freiheit der Menschen in Angriff genommen wurde. Gewiss war dabei auch das völlig legitime Ziel, dass die Sowjetunion in ihrer Wettbewerbsfähigkeit gegenüber der sogenannten westlichen Welt heranwachsen sollte. Insofern war also Perestrojka und Glasnost nach unserem Verständnis ja die Freigabe dazu, dass die Menschen in der Sowjetunion sich selber sollten beteiligen können und Interesse daran finden, als Bürger ihres riesengroßen Reiches an einer freiheitlichen, prosperierenden Entwicklung teilzunehmen.

Das war das eine, und das löste sofort eine Riesenreaktion in der Welt aus, auch bei uns. Gorbatschow wurde sofort populär, Perestrojka konnte man an allen möglichen Litfaßsäulen lesen als Freude über diese Ankündigung.

Das zweite, was ich aber gleich damit verbinden möchte, ist: Es ist zwar doch wohl wahr, dass im Bereich der Sowjetunion diese Öffnung des Weges zur Freiheit und Selbstbestimmung nicht direkt und auch gar nicht allein zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des östlichen mit dem westlichen Lager benutzt wurde, sondern natürlich auch, um das Recht auf Selbstbestimmung zu nutzen. Und dieses Recht auf Selbstbestimmung anzubieten und nutzen zu können, das war ja ein außerordentlich mutiger Schritt von ihm, mit dem er auf der ganzen Welt wirkte und dem nicht zuletzt wir Deutschen zu verdanken haben, dass er an der Spitze der Sowjetunion den Weg zur Selbstbestimmung für uns Deutsche anerkannte und unterstützte, obwohl das für ihn wirklich ein außerordentlich mutiger Schritt war.

Gorbatschow wollte weg von Aufrüstung und Gewalt

Es hat mich außerdem sehr beeindruckt, wie sein Weg in dieser Welt des Kalten Krieges immer wieder in die Richtung wies, wir wollen weg von der Gewalt, wir wollen uns nicht immer weiter gegenseitig aufrüsten, sondern wir wollen einen Weg der friedlichen Verständigung suchen. Was hat er denn gemacht? Er hat sich mit dem Präsidenten Reagan in Reykjavík getroffen, und dort hat er, fast möchte man sagen, aus dem großen Rüster Reagan einen Abrüster gemacht, gemeinsam mit ihm. Das war eine wirklich große historische Leistung.

Und auf diese Weise von der Gewalt, von dem Gedanken an Gewalt und von dem Gedanken der seligmachenden Rüstung Abschied zu nehmen und aufeinander zuzugehen, das ist das, was in meinen Augen die immer bleibende, welthistorische Bedeutung dieses Mannes mit seinen Freunden zusammen ausmacht.

Und ich will nur noch hinzufügen: Wir wissen ja alle, dass er sich damit seinen Weg in seiner eigenen Heimat nicht gerade immer erleichtert hat. Aber umso wichtiger ist es doch, dass das, was mit Perestrojka und Glasnost gemeint war, sich eben doch auch Schritt für Schritt in seiner eigenen Heimat immer weiter durchsetzen kann.

Und natürlich verlangt doch niemand, dass die Russen alles für bare Münze nehmen, was sie aus dem Westen hören. Aber es wird sie vielleicht eben doch auch beeindrucken, wie stark die Auswirkungen in dieser ganzen Welt, buchstäblich auf allen Kontinenten gewesen sind und wieviel das nicht nur für die Freiheit des einzelnen Menschen, sondern am Ende auch für die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft im ganzen bedeutet. Und das geht mal ein bisschen schneller rauf und dann wieder ein bisschen zurück und dann geht es wieder weiter rauf, aber der Weg, den er eingeschlagen hat, ist unumkehrbar.

Er hat das selber gesagt. Und insofern, glaube ich, wird auf die Dauer auch eine zunächst etwas skeptische Rezeption seiner Reformprozesse in seinem eigenen Land je länger desto mehr sich in eine positive Rezeption weiterentwickeln.

Thomas Roth: Gestatten Sie mir da eine etwas saloppe Nachfrage, ich geb’s zu, aber haben Sie beide mal von Staatsoberhaupt zu Staatsoberhaupt telefoniert? Hat er Sie mal angerufen oder Sie ihn? Und haben Sie vielleicht gesagt: „Michail Sergejewitsch, erklär mir mal, was hast du denn alles so auf der Agenda? Gibt es einen Gesamtplan?“ Oder aber, und da will ich ihn dann auch, wenn er es gestattet, danach fragen: Entfaltet das auch aus Ihrer Sicht so eine ungeheure Eigendynamik?

Richard von Weizsäcker: Also wissen Sie, was man so miteinander zunächst erlebt, nimmt ja meistens einen ganz anderen Verlauf als den, den man sich vorherdenken kann.

Thomas Roth: Das ist wie im Leben!

Richard von Weizsäcker: Kennengelernt haben wir uns 1987. Damals war die Begeisterung für Perestrojka in der alten Bundesrepublik, also im alten Westdeutschland, sehr groß. Fast ein bisschen gefährlich groß! Da gab es dann plötzlich die eine oder andere Stimme im westlichen Bündnis, welche die Frage stellte: Seid ihr eigentlich noch ‚west-treu‘ oder seid ihr inzwischen ganz und gar ‚perestrojkatrunken‘?

Das führte dann zu allen möglichen Äußerungen, auch öffentlicher Art. Und kurzum, um die ein bisschen richtigzustellen, machte ich im Jahr 1987 einen Besuch in Moskau, einen veritablen Staatsbesuch. Das Problem war, ich war nicht bloß mit einer schönen Maschine der Luftwaffe in Moskau gelandet, sondern unmittelbar vor uns war ein kleines Sportflugzeug mit dem Piloten Rust auf dem Roten Platz vor dem Kreml gelandet.

Die erste Frage, die ich ihm stellen musste, war: „Wir wissen doch, dass der Rust nicht ganz richtig ist, nicht wahr? Aber nun nehmt ihm das nicht sehr übel und schickt ihn bald wieder nach Hause.“ Das ist nach einiger Zeit dann auch geschehen. So fing das an! Wir haben nicht gleich große Philosophien über Perestrojka in der Welt gemacht.

Thomas Roth: Aber dann war es ja wie im richtigen Leben! Haben Sie ihn denn auch gleich gefragt: Wie kam denn der überhaupt durch?

Richard von Weizsäcker: Nicht so was fragen!

Thomas Roth: Michail Sergejewitsch, auch an Sie noch eine Frage, bevor wir dann wirklich zu unseren jungen Leuten der Generation Perestrojka kommen. Ich erinnere mich, wenn mir das gestattet ist, eine meiner Erinnerungen einzubringen, an jene Nacht, wo Perestrojka in allergrößter Gefahr war, das war in den Augusttagen 1991. Ich war gemeinsam mit meinem damaligen Studiochef im ARD-Studio Moskau, Gerd Ruge, in den Straßen Moskaus. Es war gefährlich, es war blutig. Drei Jugendliche mussten ihr Leben lassen. Ich glaube, man darf heute sagen, für die Perestrojka. Es waren ungeheuer viele junge Leute in diesen Nächten auf den Straßen Moskaus, sie haben ungeheuer viel riskiert. Haben Sie mit der Begeisterung und der Teilnahme dieser jungen Moskauer so gerechnet? Sie waren zu dem Zeitpunkt ja noch in Haft, wenn ich das so sagen darf, in der Gefangenschaft, nämlich in Foros?

Michail Gorbatschow: Ich werde gleich zwei Fragen beantworten, weil Sie meinen Freund, den Herrn Bundespräsidenten, gefragt haben, ob da wirklich irgendein Plan existierte, was Gorbatschow vorhabe. Das ist übrigens ein ganz typisches Klischee aller Journalisten.

Versuchen Sie sich mal vorzustellen, ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland, hier gibt es Parteien, eine ist an der Macht, eine andere ist in der Opposition, beide arbeiten an den Projekten, die in der Gesellschaft miteinander konkurrieren. In der Sowjetunion ging das nicht. Es gab nur eine Partei und die Partei hatte immer recht.

Gorbatschow: Wir hatten keinen Fahrplan

Die Generallinie dieser Partei war die einzig mögliche Variante und keinerlei Schwankungen waren zugelassen. Als die Perestrojka losging, gab es deswegen auch keinerlei Erarbeitungen von Plänen. Es gab kein komplettes Menü mit Beilagen und allem Drum und Dran, geschweige denn schon irgendeinen konkreten Fahrplan.

Nein, Nein! Das ist Unfug! Alle, die versucht hatten, etwas anderes vorzuschlagen – darum sprach man damals auch von ‚Andersdenkenden‘ –diese Andersdenkenden waren entweder im Gefängnis oder in der Verbannung oder im Ausland. Das war ein Kampf!

Ein Projekt auszuarbeiten und dieses gar zur Diskussion zu stellen – eine Chimäre, die man sich vielleicht im Märchen vorstellen könnte. Im Märchen könnte man mit einem Zauberstab versuchen, die gesamte Nomenklatura und das gesamte Politbüro einschlafen zu lassen, um währenddessen mit dem Volk ein Projekt zu diskutieren. Das wäre in einem Märchen möglich…

Wir haben eine Wahl getroffen zugunsten der Freiheit und gegen die Unfreiheit, für die Demokratie.

Dies ist übrigens keine Erfindung. Die Kommunisten mit Lenin an der Spitze wollten die Macht mit der Demokratie ergreifen und das Land demokratisch regieren. Aber bekommen haben wir eine Diktatur. Eine Diktatur, die zu einem Zustand führte, von dem Lenin schon nach vier Jahren sagte, dass wir den falschen Weg eingeschlagen haben, dass wir grundlegende Fehler begangen haben und dass dementsprechend die Sichtweise des Sozialismus geändert werden muss.

So kam es dann zur NÖP (Neue Ökonomische Politik), es gab wieder Privateigentum, den freien privaten Handel, es bildeten sich Konzessionen aus und so weiter. Nach dem Tod Lenins wurde dieser Prozess unterbrochen und das Land beschritt den Weg der Diktatur.

Das ist ein ganz wichtiger Moment, der zu einem besseren Verständnis dient. Es gab jedoch kein Projekt und keinen Fahrplan, darum ist er nicht gelungen.

Zu der zweiten Frage, ob ich mit den Reaktionen meiner Landsleute, auch der in Moskau, die sich gegen die Putschisten erhoben haben, rechnete, möchte ich sagen: Ja, es waren natürlich in erster Linie junge Leute, vor allem diese! Aber auch viele andere Anhänger der Demokratie. Hauptsächlich waren es die jungen Leute, die auf die Straße gingen und die Schutzherrschaft über das Weiße Haus übernahmen.

Ich muss sagen, dass Jelzin in diesem Zusammenhang eine sehr wichtige und positive Rolle für unsere Nation und für unser Land gespielt hat. Aber, ganz offen gesprochen, zu dem Zeitpunkt lag bereits das Antikrisenprogramm vor, das von allen Sowjetrepubliken, einschließlich der baltischen, begutachtet wurde. Diese wollten das Programm zwar noch nicht unterzeichnen, jedoch akzeptierten sie es.

Gleichzeitig wurde der neue Unionsvertrag vorbereitet, der eine Reformierung der Union vorsah und am 20. August schließlich unterzeichnet werden sollte. Noch davor, schon im Juli, verabschiedete ein Plenum des ZK der Partei ein Programm, das inhaltlich ein sozialdemokratisches war. Ich denke, Sie haben es sicherlich gelesen. Deswegen konnte ich nicht einmal daran denken, dass jemand gerade dann darauf kommt, einen Rückzieher zu machen, als wir uns schon auf dem Weg befanden, durch diese Entscheidungen aus der schwierigen Lage herauszukommen.

Trotz aller Versuche, mich auf Parteitagen und öffentlich in freien Auseinandersetzungen aus meinem Amt zu drängen, konnte man die Initiatoren von Reformen und mich, Gorbatschow, nicht unterkriegen. Man wagte den Putsch. Ich aber war immer überzeugt, dass die Menschen für mich sind und mich in Schutz nehmen würden. Ich war zuversichtlich. Das waren aber Tage, an denen es um Sein oder Nichtsein ging.

Die gesamte Veranstaltung ist dokumentiert in: Gorbatschow-Sonderheft der Zeitschrift Rechtstheorie, Bd. 40 (2009), Duncker & Humblot eLibrary

Rechtstheorie

Nach 20 Jahren Perestrojka – Wege zu einer Neuen Weltordnung
Michail S. Gorbatschow und Richard von Weizsäcker im Gespräch auf dem Petersberg in Bonn.
Gorbatschow-Sonderheft
Bd. 40, (2009)

Duncker & Humblot
Seiten
Zeitschrift
42,90 Euro
ISBN 978-3-428-13236-2
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