Gorbatschow: Was er heute anders machen würde
Der letzte sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow über das Scheitern von Perestroika
Michail Gorbatschow blickt zurück auf die Perestroika. In einem etwa 40-seitigen Essay, veröffentlicht in Russia in Global Affairs, schreibt er: „Die Erfahrung und die Lehren von Perestroika bleiben bis heute relevant, für Russland und die Welt.“ Hätte er die Chance für einen Neustart, er würde manches anders machen, aber es sei eine gerechte Sache gewesen. „Das bedeutet zweierlei: Perestroika war notwendig, und wir bewegten uns in die richtige Richtung.“ Wer das anzweifle, habe ein sehr kurzes Gedächtnis bezüglich des Zustands der UdSSR im Jahr 1985. „Die Menschen wollten den Wandel.“
Es habe keinen klaren Plan gegeben, schreibt Gorbatschow, aber eine zentrale Idee: Perestroika war für die Menschen, Ziel war, sie zu emanzipieren, „den Menschen die Verantwortung für ihr Leben und ihr Land zu geben“.
Außenpolitisch sei die Gefahr eines Nuklearkriegs rapide gestiegen. Das Verhältnis der Sowjetunion zu vielen Staaten der Welt sei angespannt gewesen. Der Rüstungswettlauf sei nicht „der Weg zu dauerhaftem Frieden“ gewesen, habe aber die Wirtschaft ausgezehrt. Ein neues Denken war nötig, und die UdSSR tat die ersten Schritte für ein neues Sicherheitssystem und Demilitarisierung. Bis Ende 1988 sei es (dank seines guten Verhältnisses zu Ronald Reagan) gelungen, „die meisten Probleme bezüglich dem Ende des Kalten Kriegs und des atomaren Rüstungswettlaufs zu lösen“.
Freiheit bedeutet auch Verantwortung
Radikale Veränderungen konnten in der UdSSR nur vor oben kommen, von der Partei, so Gorbatschow. Die Transformation konnte zunächst nur innerhalb des bestehenden Systems stattfinden. Aber bald habe ein großer Teil der Nomenklatura die Ideen und Entscheidungen des Plenums als Gefahr für sich selbst gesehen und Perestroika (und deren Initiativen wie Glasnost, die Wahrheit aussprechen, um Feedback der Leute zu erhalten) sabotiert. 1987 sei ihm und seinem Umfeld klar geworden, dass die Perestroika in eine Sackgasse lief und politische Reformen nötig seien.
Aber Glasnost, die freie Rede, habe eine Kehrseite: Die Intelligenzia formulierte Ideen für radikalen Wandel statt einen schrittweisen Prozess. „Sie verstanden nicht die simple Tatsache, dass Freiheit untrennbar mit Verantwortung einhergeht.“ Kritisieren sei einfach, handeln sei schwieriger – vor allem unter den gegebenen (auch wirtschaftlichen) Bedingungen.
Rückblickend wäre nötig gewesen, die Ausgaben fürs Militär und andere Staatsausgaben entschieden zu kürzen und Konsumgüter zu importieren. Das hätte zu radikalen ökonomischen Reformen führen müssen, zuerst des Preissystems. Dagegen hätten Populisten gewütet mit der Parole: „Hände weg von den Preisen!“
Gorbatschow sagt heute: „Hätte ich eine härtere Haltung eingenommen, wären die Dinge anders ausgegangen. Wir hätten den Menschen die schmerzliche Wahrheit sagen müssen, und sie hätten uns verstanden.“ So aber hätten sie 1987/88 den Zug der Reformen verpasst, den Übergang zu einer Marktwirtschaft, eine Revolution. Für Gorbatschow heute „ein strategischer Fehltritt“. Die Revolution sei später doch gekommen, die „Schocktherapie“ mit all ihren „destruktiven Konsequenzen“.
Warum die Sowjetunion zerfiel
Wladimir Putin glaube, der sowjetische Staat sei wegen Lenins Föderalismus zerbrochen. Gorbatschow sieht das anders. Unter Stalin sei Separatismus ausgeschlossen gewesen, er habe „den multinationalen Staat in eine superzentralisierte Einheit zementiert, in dem die Zentrale alles entschied und kontrollierte“. Die Nationen seien deshalb aber nicht verschwunden. Das sei dann an die Oberfläche gekommen.
Er habe (während des Konflikts zwischen Armenien und Aserbeidschan) die Ansicht vertreten, die betroffenen Regionen müssten selbst eine Lösung finden und die Regierung dabei helfen, die Lage zu beruhigen und die ökonomischen Probleme zu lösen. Damals habe er nach einer demokratischen Lösungsansatz für inter-ethnische Dispute gesucht.
Ursprünglich hätten die nationalen Bewegungen im Baltikum, in Moldawien, in Georgien und in der Ukraine ihre Unterstützung für Perestroika erklärt. „1987 hatte niemand vor, die Sowjetunion zu verlassen.“ Die Nationalbewegungen seien allerdings später „von Separatisten übernommen“ worden. Das gelte für Georgien 1989, wo die Mitglieder des Zentralkomitees der Partei statt zu den Leuten zu gehen „in einem Bunker verharrten“. Am Ende seien 19 Tote zu beklagen gewesen und Dutzende Verletzte. Die Entscheidung, gegen die Protestierer vorzugehen, sei hinter seinem Rücken gefallen.
Auch innenpolitisch kam es zu Änderungen. Die Mehrheit der Delegierten des Volkskongresses im Mai 1989 sei aus freien Wahlen hervorgegangen statt ernannt zu werden (trotzdem zu 85 Prozent Mitglieder der KPdSU, aber 35 hochrangige Mitglieder hatten ihre Wahl verloren). „Wir haben die Gesellschaft erweckt“, so Gorbatschow, „und die Menschen in den politischen Prozess integriert“. Aber wenn die KPdSU die Avantgarde der Perestroika sein wollte, wäre Wandel unabdingbar gewesen. Dazu, so Gorbatschow, sei die Partei nicht bereit gewesen. Sie habe sich als Hindernis erwiesen und gegen Reformen gearbeitet.
Auch die Wiedervereinigung bereitete Gorbatschow Sorgen. Er habe von Anfang an erklärt, sich nicht einzumischen. Aber prominente Politiker äußerten Bedenken. Das sowjetische Volk jedoch habe die Bestrebungen der Deutschen verstanden – trotz der schmerzreichen Geschichte. Neues Denken konstatiert Gorbatschow auch 1990 beim Irakkrieg.
Die „Krise von 1991“
Kritiker hätten ihm allerdings vorgeworfen, über die internationalen Probleme die heimischen Probleme unterschätzt zu haben. Gorbatschow will das nicht als Ursache für die „Krise in 1991“ gelten lassen. Damals habe er den Löwenteil seiner Zeit und Mühen der Innenpolitik gewidmet – „in erster Linie Anstrengungen, unsere Union als eine Einheit zu bewahren“. Als er erkannt hatte, dass inter-ethnische Beziehungen und ökonomische Probleme sich in einem Knoten verbanden, der nur durch resolute Modernisierung der Beziehungen und radikale ökonomische Reformen zu zerschlagen war, habe er gehandelt.
Ende 1990 habe er auf Zusammenarbeit gesetzt, um die Sowjetunion zu erhalten. Aber dann sei „der Sturm ausgebrochen. Es kam zu Blutvergießen in Litauen.“ Er meint den „Blutsonntag von Vilnius“ am 13. Januar 1991. Die Führung Litauens habe die Beziehungen zur Sowjetunion verschärft und „koste, was es wolle“ die Unabhängigkeit angestrebt. Er habe nach einem Kompromiss gesucht und sei bereit gewesen zu verhandeln, so Gorbatschow. „Aber in der Nacht vom 12. auf den 13. Januar wurden mithilfe von Sowjetsoldaten der Fernsehturm und eine Radiostation übernommen; mehrere Menschen wurden getötet.“ Gorbatschow fährt fort: „Als Präsident der Sowjetunion habe ich diese Aktionen nicht befohlen und konnte es auch nicht. Sie waren eine Provokation gegen mich als Präsident.“ Es gäbe Dokumente, die das belegten.
Danach seien alle Bemühungen, Litauen und andere baltische Staaten vom Rückzug aus der Sowjetunion abzuhalten, zum Scheitern verurteilt gewesen. „Aber der Kampf um die Union ging weiter.“ Er sei sicher gewesen, dass bei einem Referendum die große Mehrheit den Erhalt der Union und die Verwandlung in eine effektive Föderation unterstützt hätte. Und so hätten im März 1991 mehr als 76 Prozent der Wähler des Landes und 71 Prozent in Russland für die Union gestimmt. Ähnlich eindrucksvoll seien die Ergebnisse in der Ukraine und Belarus gewesen.
„Russlands Präsident Boris Jelzin, der die Rolle des Anführers der radikalen Opposition angenommen hatte, und seine Entourage mussten mit diesem Ergebnis rechnen.“ Ein Ergebnis, mit dem reguläre Treffen des Präsidenten der UdSSR und den Anführern von neun Republiken möglich waren – einschließlich Russland, Ukraine, Belarus, Kasachstan. „Diese Treffen halfen, Spannungen zu beruhigen und die Vorbereitungen eines Unionsvertrags zu beschleunigen.“ Er wurde Ende Juli abgeschlossen. „Die realen Voraussetzungen waren damit in Kraft, den Staat aus der Krise zu ziehen und einen wichtigen Durchbruch bezüglich demokratischer Reformen zu erzielen.“
Das Versagen des Westens
Leider hätten die meisten westlichen Führer nicht verstanden, was auf dem Spiel stand. Die Sowjetunion hätte Unterstützung gebraucht, um in die Weltwirtschaft integriert zu werden – die Aufhebung von Restriktionen, die Beteiligung des UdSSR in ökonomischen Organisationen etc.
Und so sei es im August 1991 zum Putsch gekommen, zum Staatsstreich reaktionärer Kräfte gegen ihn, und zur geheimen Absprache zwischen den Führern Russlands, der Ukraine und Weißrusslands im Dezember. Der Putsch, wenn auch gescheitert, habe den Impuls zur Desintegration gegeben, etliche Staaten erklärten ihre Unabhängigkeit.
Mit der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten entstand noch so etwas wie eine Union, aber die Beteiligten strebten dennoch auseinander. „Jelzin hat nicht Wort gehalten“, schreibt Gorbatschow. „Hätten wir gesiegt, vieles von dem, was später geschah und so vielen Menschen so viel Kummer bereitete, wäre vermieden worden.“
Gorbatschows Erkenntnisse
Sie hätten Fehler gemacht, räumt Gorbatschow ein. Man hätte die Partei und die Union früher reformieren müssen, auch die Wirtschaft. Aber Perestroika habe tatsächliche Ergebnisse gebracht: Er nennt das Ende des Kalten Kriegs, nukleare Abrüstung, Menschenrechte und das Recht auf freie Rede und weitere. Nachdem Perestroika zerbrochen war, sei „die Straße für Russland und andere Republiken hart und uneben“ geworden. „Die Unterbrechung verschiedener Verbindungen, unkluge Wirtschaftspolitik, die Unreife der neuen Regierenden und der Mangel an wirklich demokratischem Geist hatte dramatische und manchmal tragische Folgen. Der Schaden radikaler, unverantwortlicher Attitüden nicht nur für die Wirtschaft, sondern die demokratischen Einrichtungen war substanziell.“
Russland sei noch immer weit entfernt von den Zielen jener Jahre: regelmäßige Übertragung der Macht auf gewählte Führer und tatsächliche Mitsprache der Menschen bei Entscheidungen der Regierung. „Ich bin immer für den Erhalt der Werte von Perestroika eingetreten“, schließt Gorbatschow. „Ohne sie könnten wir künftig die Orientierung verlieren.“
Der Originaltext ist zu finden auf der Webseite von Russia in Global Affairs. Dort ist auch eine englische Übersetzung unter dem Titel „Perestroika and New Thinking: A Retrospective“ veröffentlicht.