Gnade für Banderas Mörder
Wie ein KGB-Killer Stepan Bandera tötete und durch die deutsche Justiz Gnade erfuhr
Der ukrainische Nationalist Stepan Bandera, der sich im Zweiten Weltkrieg mit Hitler verbündete, gilt im Osten des Landes sowie in Polen, Russland und Israel als Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher. Im Westen der Ukraine wird er dagegen von vielen Einheimischen als Nationalheld und Märtyrer hoch geschätzt.
Dort gibt es nach ihm benannte Straßen und Denkmäler. 2009 wurde er sogar mit einer Briefmarke geehrt. 50 Jahre zuvor war er in München ermordet worden. Sein Münchner Grab ist noch heute eine Pilgerstätte für viele ukrainische Nationalisten.
Ermordet wurde er von einem KGB-Agenten, der anschließend in den Westen flüchtete und sich den westlichen Geheimdiensten als Informant anbot. Obwohl er eigenhändig die Tat beging, wurde er nur wegen Beihilfe verurteilt, was Juristen bis heute beschäftigt.
Im sogenannten Staschynskij-Fall entschied der Bundesgerichtshof 1962: „Wer eine Tötung eigenhändig begeht, ist im Regelfalle Täter; jedoch kann er unter bestimmten, engen Umständen auch lediglich Gehilfe sein.“
Wie kann das sein? Jemand, der einen anderen eigenhändig tötet, soll nun nur Gehilfe sein? Etwa Gehilfe seiner eigenen Hände? Oder wie ist das zu verstehen?
Die als Staschynskij-Fall bekannt gewordene Entscheidung des Bundesgerichtshofs urteilte über die Mordtaten des 1931 geborenen KGB-Agenten Bogdan Nikolajewitsch Staschynskij. Wieder ging es um die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme.
Der „sympathisch wirkende“ 30-jährige Staschynskij war im KGB in der „Abteilung für Terrorakte im Ausland“ beschäftigt. Ja, tatsächlich. So etwas gab es in Zeiten des Kalten Krieges. Trotz des sehr bürokratisch klingenden Namens der Abteilung, in der Staschynskij ein kleiner Angestellter war, war er „auf gut Deutsch“ nichts anderes als ein KGB-Killer.
1957 erhielt er den Auftrag, einige als störend empfundene Exilpolitiker, nämlich führende Mitglieder der Organisation Ukrainischer Nationalisten und des russischen Nationalen Bundes der Schaffenden, zu liquidieren.
Dafür wurde er nach Ost-Berlin entsandt. Auftragsgemäß und zügig tötete er schon im Herbst 1957 Lew Rebet vom „Nationalen Bund“. 1959 „erledigte“ er dann Stepan Bandera, den Vorsitzenden der Ukrainischen Nationalisten, der im Zweiten Weltkrieg eine Zeit lang mit Hitler paktiert hatte. In beiden Fällen hatte es auf den ersten Blick nicht nach Mord ausgesehen: Rebet wurde am 12. Oktober 1957 im Treppenflur am Münchener Karlsplatz tot aufgefunden. Der unter dem Pseudonym Stefan Popel in München lebende Bandera starb zwei Jahre später, am 15. Oktober 1959, ebenfalls in einem Münchener Treppenflur.
Giftpistole mit Blausäuregas
Als Tatwaffe hatte Staschynskij eine schon mehrfach und stets mit Erfolg verwendete Giftpistole zum Versprühen von Blausäuregas verwendet, das er seinen Opfern direkt ins Gesicht sprayte. Durch die Blausäure wurde das Opfer durch Verengung der Atmungsorgane ohnmächtig und starb zwei oder drei Minuten später. Staschynskij bekam ein Gegenserum, das er einsetzen sollte, falls er bei der Tatbegehung aus Versehen etwas davon einatmete. Auch vor einer Tat nahm er sein Gegenmittel ein, um sich vor solchen Eventualitäten zu schützen.
Das war damals also die übliche KGB–Methode, um unliebsame Regimekritiker aus dem Verkehr zu ziehen. So weit, so schlecht.
Genauso wie Bandera wurde auch Rebet heimtückisch getötet. Also ermordet, denn Heimtücke ist laut § 211 StGB eines der Tatbestandsmerkmale für Mord. Zumindest diesbezüglich waren sich die fünf Richter in den roten Roben einig, denn heimtückisch tötet, wer das Opfer unter bewusster Ausnutzung von dessen Arg- oder Wehrlosigkeit umbringt.
Staschynskij hatte also Rebet und Bandera höchstpersönlich umgebracht. Auch diesbezüglich gab es seitens des Gerichts keine Zweifel mehr. Beide waren jedenfalls tot, und Staschynskij wurde von seinem Auftraggeber dafür geehrt.
Für seine Verbrechen bekam Staschynskij den „Kampforden vom Roten Banner“, was auch immer das bedeuten mag. Staschynskij bekam aber nicht nur den Rotbanner-Orden, er durfte auch mit Erlaubnis des Komitees für Staatssicherheit – O-Ton Die Welt 1962 – „das Ostberliner FDJ Mädchen Inge F.“ heiraten. Seine Frau war eine gelernte Friseurin.
Flucht des Agenten nach West-Berlin
Da Banderas Tod zu einiger Aufregung in Emigrantenkreisen und in der Bundesrepublik geführt hatte, wurde Staschynskij erst einmal aus dem Verkehr gezogen und 1960 nach Moskau zurückbeordert. Dort wohnte er gemeinsam mit seiner Frau, die sich für ihre große Liebe ebenfalls verpflichten musste, für den KGB tätig zu sein.
Staschynskij wäre ein hoch dekorierter Mann jenseits des Eisernen Vorhangs gewesen. In der BRD hätte es zwei ungesühnte und vielleicht noch unentdeckte Verbrechen gegeben, wenn alles wie immer gelaufen wäre. Es kam jedoch ganz anders.
Das Problem für die bundesdeutsche Justiz entstand um den 13. August 1961, jenem bedeutsamen Datum im deutsch-deutschen Verhältnis – beziehungsweise Nichtverhältnis – und im Kalten Krieg, denn zum Zeitpunkt des Baus der Berliner Mauer war Staschynskij bereits mit seiner deutschen Ehefrau aus Moskau nach West-Berlin geflüchtet, weil er sich in Russland nicht mehr sicher gefühlt hatte.
In der BRD kam er kurze Zeit später, am 1. September 1961, in Untersuchungshaft. Staschynskij hatte sich selbst angezeigt. Die Selbstbezichtigungen des Mannes vom KGB wurden von den zuerst ungläubig staunenden Ermittlungsbeamten ziemlich lange geprüft, ehe Anklage erhoben wurde.
Es war allerdings Kalter Krieg. Um den reuigen Sünder Staschynskij, dem eine lebenslange Freiheitsstrafe nahezu gewiss schien, zu einer kürzeren Strafe verurteilen zu können, bemühten sich die bundesdeutschen Gerichte mit einem Kunstgriff um Abhilfe. Es war sozusagen die Vorwegnahme der damals noch nicht existierenden und heute noch ziemlich umstrittenen Kronzeugenregelung.
Der Bundesgerichtshof stellte fest: „St.s Auftraggeber haben bei der Anordnung beider Attentate deren wesentliche Merkmale (Opfer, Waffe, Gegenmittel, Art der Anwendung, Tatzeiten, Tatorte, Reisen) vorher festgelegt. Sie haben vorsätzlich gehandelt.“
Und jetzt kommt‘s: „Diese eigentlichen Taturheber sind daher Täter, und zwar mittelbare Täter. (…) Entgegen der Auffassung der Bundesanwaltschaft, die den Angeklagten als Täter ansieht, dies jedoch nicht näher begründet hat, war St. in beiden Fällen nur als Mordgehilfe zu verurteilen (§ 49 StGB).“
Mörder, aber nicht Täter
Staschynskij, der höchstpersönlich mindestens zwei Menschen umbrachte, war auf einmal kein Täter mehr, sondern nur Gehilfe irgendwelcher obskuren Hintermänner. Das soll man mal einem klar denkenden Menschen erklären.
Der Bundesgerichtshof versuchte es mit folgender Begründung: „Gehilfe ist, beim Morde wie bei allen anderen Straftaten, wer die Tat nicht als eigene begeht, sondern nur als Werkzeug oder Hilfsperson bei fremder Tat mitwirkt. Maßgebend dafür ist die innere Haltung zur Tat. (…) Danach (…) kann insbesondere auch derjenige bloßer Gehilfe sein, der alle Tatbestandsmerkmale selber erfüllt (...)“
Staschynskij war nur ein Werkzeug. Wirklich?
Eine nur schwer nachvollziehbare Begründung bei diesen heimtückischen Taten. Sie ist wohl nur angesichts der damals bestehenden politischen Verhältnisse zu erklären. Der Bundesgerichtshof hatte angesichts des Kalten Krieges weniger juristisch als politisch entschieden. Man wollte dem Überläufer die gesetzlich vorgesehene Strafmilderung für einen Gehilfen ermöglichen.
Laut Bundesgerichtshof soll Staschynskij also – bei seinen in Deutschland begangenen Taten – in Wirklichkeit nur dem eigentlichen Täter, dem in Moskau verbliebenen Chef des KGB, Beihilfe zu dessen zwei Morden geleistet haben. Das Gericht begründete dies damit, dass Staschynskij „ohne Interesse an dem Erfolg der Tat“ gewesen sei.
Das Urteil des Landgerichts wurde vom Bundesgerichtshof bestätigt, der dabei die griffige Formel „Täter ist, wer die Tat als eigene will“ verwendete und damit argumentierte, Staschynskij habe seine Taten als fremde, nämlich als Taten des KGB-Chefs gewollt und statt Täterwillen nur Gehilfenwillen gehabt. Auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs sollte das Urteil wohl ein Signal an ausländische Geheimdienstler senden.
Leben unter neuer Identität
Staschynskij lebt oder lebte wahrscheinlich nach seiner vorzeitigen Haftentlassung unter einer neuen Identität in der Bundesrepublik Deutschland, möglicherweise auch in den USA.
Um solch merkwürdig anmutenden Urteile zukünftig zu verhindern, wurde Jahre später in § 25 StGB mit der Formulierung „Als Täter wird bestraft, wer die Straftat selbst oder durch einen anderen begeht“ ausdrücklich klarzustellen versucht, dass jeder, der die Tat persönlich verwirklicht, auch als Täter zu betrachten sei.
Ernst Reuß ist Jurist und Schriftsteller. Zuletzt ist von ihm erschienen:
„Mord? Totschlag? Oder Was? Bizarres aus Deutschlands Strafgerichten“. (Darin ein Kapitel über den Mord an Bandera.)
Demnächst: „Endzeit und Neubeginn. Berliner Nachkriegsgeschichten“ (Metropol-Verlag, Berlin)
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 27.4.2022 im Rahmen der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung erschienen. Wir danken dem Autor und der Berliner Zeitung für die Erlaubnis, diesen Text auf KARENINA zu veröffentlichen.