Stalin überwinden, zurück zu Lenin

Sensation vor 65 Jahren: Chruschtschows Geheimrede über die Überwindung des Stalin-Kults

von Alexander Frese
Die Wahrheit: Prawda-Ausgabe vom 2. Juli 1956 mit Chruschtschows redigierter Geheimrede.

Am 2. Juli 1956 dominierte eine große Schlagzeile die Prawda: „Resolution des Präsidiums des Zentralkomitees der KPdSU. Über die Überwindung des Personenkults und seine Folgen“. In kleiner Schrift wurde hier über mehrere Seiten der Zeitung hinweg die in der ursprünglichen maschinenschriftlichen Version 25 Seiten umfassende Resolution veröffentlicht.

Die trockene und langatmige Publikation war ein Echo der berühmten „geheimen Rede“ Nikita Chruschtschows auf dem 20. Parteitag der KPdSU. Am 25. Februar 1956, dem letzten Tag dieses ersten Parteikongresses nach Stalins Tod, hatte Chruschtschow, Erster Sekretär des Zentralkomitees, die wohl wichtigste Rede in der Geschichte der Sowjetunion gehalten.

Vor den sprachlosen und schockierten Abgeordneten des Parteitags redete Chruschtschow mehre Stunden lang in geschlossener Sitzung über schwere Verfehlungen und Verbrechen, die Stalin in seiner langen Amtszeit begangen hatte und die Chruschtschow unter dem Schlagwort des „Persönlichkeitskults“ zusammenfasste. Chruschtschow kritisierte Stalin scharf und warf ihm vor allem Verbrechen gegen die eigene Partei vor: die „Liquidierung“ vieler unschuldiger führender Bolschewiki, die Missachtung des Prinzips der „kollektiven Führung“, der „innerparteilichen Demokratie“ und anderer Normen wie der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ sowie die systematische Glorifizierung seiner eigenen Person.

Auch der Deportation ganzer Völkerschaften in der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs beschuldigte Chruschtschow den „Vater der Völker“. Unerwähnt und unkritisiert blieben hingegen zahllose Verbrechen, die nicht die Partei betrafen: die überaus große Zahl der Opfer der Zwangskollektivierung, die dadurch entstandene Hungersnot, die Hundertausende im Großen Terror der späten 1930er-Jahre erschossenen „Volksfeinde“, die nicht Mitglieder der Partei waren.

Weg von Stalin, zurück zu Lenin

Mit seiner Rede steuerte Chruschtschow entlang eines schmalen Grats, der zwischen einer auf Stalin und spezifische Punkte seiner Politik begrenzten Kritik und einer Generalabrechnung mit dem sowjetischen System verlief. Die Sowjetunion müsse wieder zum Leninismus zurückkehren, die Entstellungen des stalinschen Personenkults überwinden und den grundsätzlich richtigen Kurs der Partei weiterführen.

Es war eine mutige Rede, nicht nur weil Chruschtschow den angeblich „unfehlbaren“ und „genialischen“ „Vater der Völker“ frontal angriff – vor einem Publikum, das wie er lange Jahre die Lobpreisungen Stalins mitgesungen hatte. Sie war mutig auch deshalb, weil Chruschtschow mit seiner begrenzten Kritik Gefahr lief, ein sehr viel weitergehendes und für die Herrschaft der KPdSU potenziell folgenreiches Echo auszulösen.

War Stalin allein für die genannten Verbrechen verantwortlich? Hatten nicht viele andere tatkräftig mitgewirkt bei all dem, was Chruschtschow unter „Persönlichkeitskult“ fasste? Waren es tatsächlich nur Stalins persönliche charakterliche Defekte, die all dies erklärten? Und wenn das sowjetische System angeblich frei von Schuld an diesen schlimmen Entwicklungen war, wie könnte eine Wiederholung dann verhindert oder ausgeschlossen werden?

Chruschtschows Rede war nicht nur eine ernstgemeinte Kritik von Missständen und als Begründung für eine anstehende Politik der Entstalinisierung; sie war auch ein Mittel zur Stärkung seiner eigenen Macht in der sowjetischen Führung.

Die Geheimrede sollte veröffentlicht werden

Wenngleich in geschlossener Sitzung vorgetragen, sollte die „Geheimrede“ auch deshalb nicht nur den Delegierten des Parteikongresses bekannt werden. Noch am 25./26. Februar wurde sie den am Parteikongress teilnehmenden osteuropäischen Kommunistenführern vorgelesen, um die sowjetische Position auch den befreundeten Regimen zu kommunizieren.

Anfang März wurde sie für die interne Verwendung gedruckt und auf Anordnung vor tausenden Partei- und Komsomolversammlungen auf lokaler Ebene in der ganzen Sowjetunion verlesen. Als im April aber Berichte von Angriffen auf Stalindenkmäler und von Beschimpfungen Stalins als „Volksfeind“ in Moskau eintrafen, bestätigte sich die Brisanz der Rede für die sowjetische Führung. Eine scharfe Attacke auf Stalin konnte nur allzu leicht in eine Kritik des ganzen Sowjetsystems übergehen.

Um dem entgegenzuwirken und um dem bloß mündlich vorgetragenen Text der gefährlichen Rede eine solide Textfassung entgegenzusetzen, verabschiedete das Präsidium des Zentralkomitees am 30. Juni 1956 die Resolution „Über die Überwindung des Personenkults und seine Folgen“. Sie erschien drei Tage später in der Prawda.

Es war eine entschärfte Fassung der Rede, die den Rahmen der nun offiziell möglichen Stalinkritik absteckte. Stalin sei trotz ernster Fehler ein wahrer Schüler Lenins und hervorragender Marxist-Leninist gewesen. Keinesfalls könne der „Personenkult“ dem Sowjetsystem angelastet werden. Richtig und wichtig sei die Rückkehr zum wahren Leninismus, wie sie die leninistischen Führer der Partei von nun an betrieben.

Reaktionen außerhalb der UdSSR

Der Text der Rede Chruschtschows fand schon bald den Weg in den Westen und wurde auch dort veröffentlicht. Das war eine Sensation, sie löste vor allem unter den kommunistischen Parteien des Westens Schockwellen aus.

Auch im sowjetisch beherrschten Osteuropa trug das Echo der Rede zu schwersten Verwerfungen bei. In Polen und insbesondere Ungarn kam es im selben Jahr zu Massenerhebungen gegen die kommunistische Herrschaft.

In der Sowjetunion wurde die begrenzte Entstalinisierung fortgeführt, oft unberechenbar und in ihren Grenzen unklar – aber doch als segensreiche Entwicklung für die Bevölkerung der Sowjetunion. Der Text von Chruschtschows ursprünglicher Geheimrede wurde erst 1989 veröffentlicht.

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