Die Opfer des Antiterrorkriegs

Der Kämpfe seit 9/11 sollten Demokratie und Menschenrechte durchsetzen. Wer zählt die Toten?

von Joachim Guilliard

Am 11. September jährten sich die Terroranschläge in New York und Washington zum 20. Mal und kurz darauf auch der sogenannte Krieg gegen Terror, den die USA in Reaktion darauf mit dem Angriff auf Afghanistan vom 7. Oktober 2001 an entfesselten. Der Krieg der USA und der Nato in diesem zuvor schon geschundenen Land am Hindukusch ging mit dem Abzug der letzten Truppen nun zu Ende.

Der Anschlag auf US-Truppen auf dem Flughafen in Kabul, bei dem auch Dutzende Zivilisten getötet wurden, sowie die zivilen Opfer der Drohnenangriffe, die US-Präsident John Biden als Vergeltung fliegen ließ, weisen aber noch einmal beispielhaft auf den hohen Blutzoll hin, den die militärischen Interventionen, die nach dem 11. September 2001 auf immer mehr Länder ausgeweitet wurden, von der jeweils betroffenen Bevölkerung forderten.

Das ganze Ausmaß der humanitären Kosten blieb der Öffentlichkeit bisher weitgehend verborgen. Für eine Bewertung der Kriege und Interventionen, die westliche Staaten in den letzten 20 Jahren begannen oder unterstützen, wie auch die Diskussion über zukünftige, ist eine realistische Einschätzung der Zahl ihrer Opfer jedoch unerlässlich.

Von den beteiligten Armeen werden diese geradezu verschleiert. So haben dem jüngsten Bericht des Pentagon zufolge die US-Streitkräfte in Afghanistan, Somalia und Irak von 2017 bis 2020 nur 85 Zivilisten getötet. Die UN-Mission in Afghanistan, UNAMA, hingegen hat allein in Afghanistan für die Jahre 2016 bis 2020 mehr als 2000 Opfer von Angriffen ausländischer Truppen registriert. Die meisten dieser Angriffe wurden von US-Einheiten durchgeführt.

Auch die Berichte der Uno sind weit davon entfernt, ein realistisches Bild zu vermitteln. So meldete UNAMA in ihren Jahresberichten zu Afghanistan seit 2010 zwischen 2800 und 3800 zivile Opfer von Kriegshandlungen. Solche Zahlen sind nicht geeignet, die Öffentlichkeit aufzuschrecken, liegen sie doch nur wenig höher als die Zahl von Verkehrstoten in Deutschland.

Zivile Opfer: Nur ein Bruchteil wird erfasst

Die von UN-Missionen oder privaten und universitären Initiativen erfassten zivilen Opfer von Kampfhandlungen beruhen überwiegend auf von Medien gemeldeten oder von Kliniken registrierten Fällen. Unter Kriegsbedingungen kann so jedoch, wie Studien zeigen, nur ein Bruchteil der tatsächlichen Opfer erfasst werden.

Große Lücken entstehen auch dadurch, dass in der Regel nur Tote gezählt werden, die als Zivilisten eingeordnet werden können. Eine solche Einordung lässt sich zum einen ohne unabhängige Untersuchungen vor Ort selten zuverlässig vornehmen.

Eine Beschränkung auf zivile Tote wird zum anderen der Sache auch nicht gerecht. Auch getötete Kombattanten wurden Opfer des Krieges, unabhängig davon, auf welcher Seite sie kämpften, und viele wurden zudem mit Gewalt oder ökonomischem Zwang zum Kämpfen gezwungen. Völlig unberücksichtigt bleiben auch die meist viel zahlreicheren indirekten Opfer, die aufgrund des Zusammenbrechens der Versorgung mit Nahrung, Wasser und Strom, blockiertem Zugang zu Gesundheitseinrichtungen oder dem kriegsbedingten Ausbruch von Seuchen sterben.

Geht es um die Folgen der Kriege nach „Nine Eleven“, wird oft nur an Afghanistan und Irak gedacht. Die militärischen Interventionen blieben jedoch nicht auf die beiden Länder beschränkt. Die USA weiteten ihren „Krieg gegen den Terror“ mit Hilfe von Spezialeinheiten, Drohnen und einheimischen Kräfte auch gegen islamistische Gruppen in anderen Ländern aus, zunächst in Pakistan, Jemen und Somalia, seit 2012 unter anderem auch in Mali, Niger, Mauretanien und dem Tschad.

Ziel: US-Dominanz im Mittleren Osten

Die von neokonservativen Falken dominierte Regierung von George Bush jun. machte keinen Hehl daraus, dass sie mit den Invasionen in Afghanistan und Irak in erster Linie ihrer strategischen Agenda folgten, mit der sie die US-Dominanz im „größerer Mittleren Osten“ ausweiten und das „Neue amerikanische Jahrhundert“ einleiten wollte. Dieser Begriffe verschwanden, die Kriege gingen jedoch weiter.

Mit Libyen, Syrien und Jemen kamen weitere Länder hinzu, in denen Nato-Staaten militärisch intervenierten oder eine Intervention unterstützen. In Syrien förderten sie zunächst nur einen bewaffneten Aufstand, dessen Eskalation in einen Bürger- und Stellvertreterkrieg wurzelte. Diese schuf die Grundlage für die Entstehung der Vorgängerorganisation der beiden stärksten und für Syrien verheerendsten dschihadistischen Milizen, des „Islamischen Staats“ (IS) und der „Al Nusra Front“.

Die Besatzung des Irak endete zwar offiziell Ende 2011, nach der Wiederausbreitung des IS im Norden und Westen des Landes eskalierte der Krieg aber erneut. Eine von den USA angeführte Allianz, an der sich auch Deutschland beteiligte, bekämpfte die Dschihadisten von September 2014 an grenzüberschreitend auch in Syrien ‒ parallel zu syrischen und später auch russischen Streitkräften.

Es erscheint daher gerechtfertigt, die Opfer all dieser nach dem 11. September 2001 entfesselten „Post 9/11-Kriege“, wie sie in den USA genannt werden, zusammen zu betrachten, auch wenn sie jeweils weit mehr Facetten haben.

Gesucht: eine realistische Gesamtzahl der Toten? 

Zwar waren die Kriege gegen Afghanistan und Irak ursprünglich mit präventiver beziehungsweise „präemptiver Selbstverteidigung“ gerechtfertigt worden, ihre Fortsetzung wurde aber überwiegend mit dem Ziel begründet, die Lebensbedingungen im Land mittels Hilfsprojekten und der Einführung demokratischer Verhältnisse zu verbessern. Es wurden jedoch keine Anstrengungen unternommen, die humanitären Kosten dieser Art „humanitärer Intervention“ zu ermitteln.

Eine realistische Schätzung der Gesamtzahl der Opfer eines militärischen Konflikts ist nur durch repräsentative Umfragen im Rahmen von Mortalitätsstudien möglich. Solche Studien wurden in anderen Kriegen und Konflikten auch erstellt, in der sudanesische Krisenregion Darfur zum Beispiel sogar mehrere. Doch bei den „Post 9/11-Kriegen“ fühlten sich weder die WHO noch die Uno oder gar die beteiligten Nato-Staaten bemüßigt, welche zu veranlassen.

Es ist der persönlichen Initiative von Wissenschaftlern und deren Instituten zu verdanken, dass es wenigsten für die ersten zehn Jahre des Irakkriegs realistische Schätzungen gibt. Der Vergleich ihrer Ergebnisse mit den passiv beobachteten Opferzahlen im Irak liefert auch ein Maß für realistischere Schätzungen für Zeiträume und Länder, für die es bisher keine Mortalitätsstudien gibt.

Zahl der Opfer in den letzten 20 Jahren

Die „Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“ (IPPNW), die die Zahl der Opfer in Afghanistan, Pakistan und Irak nach den ersten zehn Jahren untersuchten, schätzen auf Basis der verfügbaren Daten, dass bereits im ersten Jahrzehnt mindestens 1,3 Millionen Menschen in diesen Ländern infolge der Kriege starben. Für das zweite Jahrzehnt der „Post 9/11-Kriege“ steht eine ähnlich sorgfältige Analyse noch aus.

Neta C. Crawford und Catherine Lutz vom „Costs of War“-Projekt an der Brown University in Rhode Island haben jedoch immer wieder Fallzahlen für Afghanistan, Pakistan und Irak, später auch Syrien und Jemen veröffentlicht, wenn auch nur auf Basis passiv beobachteter Fälle. Insgesamt haben sie, ihrem aktuellen Bericht zufolge, bis August 2021 für diese fünf Länder über 900 000 direkte Kriegstote ermittelt, 375 000 davon zivile.

Die beiden Wissenschaftlerinnen gehen aber davon aus, dass die tatsächliche Zahl wesentlich höher ist und die Zahl der indirekten Opfer ein Vielfaches davon beträgt. Generell müsse man, so David Vine, ein weiterer Mitarbeiter von „Costs of War“, von viermal so vielen Toten ausgehen.

Vine verwies dabei auf die Studie „Global Burden of Armed Violence” der „Geneva Declaration“-Initiative von September 2008. Diese kam zu dem Schluss, dass in den meisten Konflikten die Zahl der indirekten Todesfälle drei- bis fünfzehnmal so hoch war wie die Zahl der direkten. Aus den Untersuchungen in den Jahren 2000 bis 2003 in der Demokratischen Republik Kongo über den dortigen internationalisierten Bürgerkrieg kann man ein Verhältnis von etwa eins zu sechs ableiten.

Diese Faktoren stimmen gut mit den Ergebnissen der IPPNW-Studie überein, welche die per Mortalitätsstudien für bestimmte Zeiträume geschätzten Gesamtzahlen von Kriegsopfern im Irak mit den durch passives Beobachten erfassten Zahlen von zivilen Opfern verglich. Hier ergab sich, dass die tatsächlichen Opferzahlen mindesten fünf bis acht Mal so hoch sind, wie die durch Beobachtung ermittelten.

Jährlich mehr als 40 000 Tote in Afghanistan

In Afghanistan und Pakistan summiert sich die Zahl aller von Oktober 2001 bis April 2021 erfassten Kriegstoten auf etwa 243 000, davon werden 71 000 als zivil eingestuft. Unter Berücksichtigung der oben genannten Verhältnisse zwischen der Zahl beobachteter Kriegsopfer und realistischen Schätzungen müssen wir mittlerweile davon ausgehen, dass mehr als 800 000 Menschen in Afghanistan und Pakistan Opfer des Kriegs wurden, das heißt, über 40 000 pro Jahr.

Für den Irak ermittelten die beiden Wissenschaftlerinnen eine Gesamtzahl von mindestens 300 000 im Zeitraum von März 2003 bis August 2021 durch Kamphandlungen getöteten Menschen, neben circa 200 000 Zivilisten ungefähr 90 000 irakische Kombattanten und 8000 ausländische – überwiegend US-amerikanische – Soldaten und Söldner. Für die ersten acht Jahre bis 2011 hatte Crawford insgesamt 165 000 direkte Opfer des Kriegs ermittelt, die Zahl hat sich damit fast noch einmal verdoppelt.

Rechnet man die von der IPPNW-Studie auf Basis der Mortalitätsstudien im Irak konservativ geschätzte Zahl von einer Million Toten für den Zeitraum bis 2011 entsprechend hoch, wuchs die Gesamtzahl aller Opfer im Irak mittlerweile auf über 1,8 Millionen. Diese Hochrechnung wird durch eine repräsentative Studie über die Opfer der Rückeroberung der Millionenstadt Mossul gestützt, die im Mai 2018 in der Fachzeitschrift PLOS Medicine erschien. Demnach waren allein dabei wahrscheinlich etwa 90 000 Menschen getötet worden, 33 000 davon Frauen und Mädchen, die meisten durch Luftangriffe.

Es erscheint daher völlig plausibel, wenn David Vine annahm, dass schon Ende 2019 die Gesamtzahl der Opfer der von „Costs of War“ betrachteten „Post 9/11-Kriege“ 3,1 Millionen überstiegen haben könnte. Libyen, das dritte Land, gegen das Nato-Staaten direkt Krieg führten, ist hier noch nicht einmal berücksichtigt.

Natürlich handelt es sich bei diesen Hochrechnungen um sehr grobe Schätzungen. Wichtig ist, sie als realistische Größenordnungen zur Kenntnis zu nehmen. An sich sind schon die von der Uno ermittelten Zahlen erschreckend, sorgen aber, da im Rahmen solcher Kriege wohl zu erwarten, kaum für Aufregung. Würden die tatsächlichen Dimensionen der Opfer solcher Kriege einer breiten Öffentlichkeit bekannt, wären solche Kriege von demokratischen Ländern kaum noch zu führen.

Joachim Guilliard engagiert sich seit vielen Jahren in der Friedens- und Solidaritätsbewegung. Schwerpunkt: Naher und Mittlerer Osten. Er schreibe für diverse Zeitungen, Zeitschriften und Portale und ist Mitherausgeber bzw. -Autor mehrerer Bücher. Dieser Beitrag ist ursprünglich am 20.9.2021 in der Berliner Zeitung erschienen. Wir danken dem Verlag für die Erlaubnis, ihn auf KARENINA veröffentlichen zu dürfen.

 

 

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