Ukraine-Politik: Irrlichtern und Schwadronieren
In der Ukraine-Krise mangelt es in Deutschland an Geschlossenheit und Entschlossenheit
Sie müssen verstehen, Herr Präsident, Deutschland ist geteilt…“ Der deutsche Besucher hatte sich im Frühjahr 2019 gerade die übliche Litanei an Schuldvorwürfen von Wladimir Putin anhören müssen. Doch bevor der deutsche Gast sich in seine unselige Defensive wegducken konnte – „nicht alle in Deutschland sind gegen Russland“ –, unterbrach der russische Präsident ihn mit trocken-triumphierendem Lachen: „Diesmal sind wir aber nicht schuld daran!“
Wie recht hatte er! Unsere Misere besorgen wir ganz allein. So auch aktuell. Im Kreml reibt man sich die Hände, und die restliche Welt schaut irritiert zu, welches Schauspiel das größte Land Europas wieder einmal aufführt.
Europa steht vor einer der größten Herausforderungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Russland bedroht ja nicht nur die Ukraine – raunende Warnungen vor „schwerwiegenden politischen und militärischen Folgen“ sind inzwischen auch an die Adresse Finnlands und Schwedens gerichtet worden. Die USA sollen ihren nuklearen Schutzschirm über Europa abziehen. Alle unsere ostmitteleuropäischen Partner sollen sich militärisch selbst entblößen. Russland will die europäische Friedensordnung einseitig zu seinen Gunsten ändern.
Der Mangel an Geschlossenheit
Der einzige Weg, sich damit auseinanderzusetzen, ist die konsequente Verbindung von Dialogbereitschaft und der Entschlossenheit, gegebenenfalls einschneidend zu reagieren. Dafür bedarf es der Geschlossenheit. Und an dieser mangelt es bei uns auf erschütternde Weise.
Kein demokratischer Oppositionspolitiker aus London oder Paris, der in Moskau oder Peking nicht die Politik der Regierung seines Landes erklären und erläutern würde. Das gehört sich nicht einfach nur so – es ist eine Frage der Seriosität und Glaubwürdigkeit des Landes, das man schließlich vertritt. Bei uns muss man nicht einmal in der Opposition sein oder ins Ausland reisen, um Deutschland als ein Land außenpolitischer Irrlichter erscheinen zu lassen.
Der Westen ist umfassend bereit, mit Russland über Sicherheitsfragen zu sprechen. Unverhandelbar sind jene Prinzipien, die Russland mit vereinbart hat und die den Frieden in Europa sichern: Gleichberechtigung und Souveränität der Staaten, Unverletzlichkeit der Grenzen und das Recht, seine eigene Sicherheit auch durch den Beitritt zu Bündnissen zu gewährleisten. Wenn die russische Führung dennoch glaubt, in Europa wieder einen Krieg vom Zaun brechen zu müssen, müssen wir bereit sein, umfassend und massiv zu reagieren.
Da der Konflikt, dessen Opfer die Ukraine war und ist, militärisch nicht zu lösen ist, müssen wir jene Instrumente einsetzen, die geeignet sind, Moskau zum Einlenken zu bewegen: Die russische Führung muss erkennen, dass ihre eigene Machtbasis wirtschaftlich und finanziell gefährdet wäre. So groß seine finanziellen Reserven derzeit auch sein mögen – am Ende ist Russland ein Koloss auf tönernen Füßen.
Deutsche Krämerseelen
Also müssen alle Mittel auf dem Tisch liegen, die geeignet sind, diesen Zweck zu erreichen. Und was meint Kevin Kühnert, der Generalsekretär der SPD, dazu? „Ja, aber nicht Nord Stream!“ (Sein Fraktionsvorsitzender Rolf Mützenich ist noch eindrucksvoller unterwegs, er hält beide Seiten offenbar irgendwie für gleich schlimm.)
Wolfgang Kubicki war immer schon groß darin, seiner FDP auch in der Russlandpolitik Stöcke in die Speichen zu stecken.
Friedrich Merz ruft: „Aber bitte nicht Swift!“
Und der bayerische Ministerpräsident verfährt nach dem alten Motto: Ich weise empört Behauptungen zurück, die niemand aufgestellt hat! Russland sei kein Feind Europas!
Ja, wer sagt denn so etwas? Und ist es nicht vielleicht die russische Führung, die gerade alles tut, damit sich das ändern könnte?
Markus Söder fügt noch hinzu, dass Sanktionen letztlich nichts bringen und uns schaden. Sind wir uns denn sicher, dass Kiew noch eine ukrainische Stadt wäre, hätten wir uns 2014 mal so eben auf die Hände gesetzt?
Jemand anderen, der zur stärkeren – militärischen – Waffe greift, zur Änderung seiner Haltung zu bewegen, ist kein einfaches Unterfangen. Aber ist nicht schon viel erreicht, wenn es nicht zu Weiterungen kommt?
Sanktionen wirken auch durch ihre Ankündigung – und genau darum geht es auch jetzt. Sie in Aussicht zu stellen, heißt nicht, sie in jedem Fall einsetzen zu müssen. Wenn aber jeder vorher schon mal sagt, welches Tortenstück er gerne behalten möchte, stehen wir als jene Krämerseelen und unzuverlässigen Kantonisten da, für die man uns im Ausland gerne immer wieder hält.
Ja, Sanktionen können auch zu unserem Nachteil sein. Doch in einer so eng verwobenen Welt geht es kaum anders, vor allem nicht, wenn sie wirksam sein sollen. Und vielleicht wägt mal jemand in München und andernorts ab, was am Ende das höhere Gut ist: der Wohlstand oder der Friede.
Den Vogel hat natürlich der Chef der deutschen Marine abgeschossen. Dass er einsichtig genug war, sogleich um seine Entlassung nachzusuchen, gibt einem ein wenig an Glauben zurück – den man gleich wieder verliert, wenn der Vizeadmiral nachschiebt, es habe sich um seine private Meinung gehandelt. Wie kann es denn bitte sein, dass an führender Stelle unserer Streitkräfte ein derart übersichtlicher geostrategischer Sachverstand vorhanden ist?
Ahnen die Exponenten eines neuen Appeasements, was das Schwadronieren über das Geschick anderer Länder in Ostmitteleuropa auslöst? Deutsche Vorschläge, Russland zu Lasten Dritter zu pazifizieren, sind das Letzte, was man dort braucht.
Die Regierung arbeitet nicht schlecht
Können sich also bitte alle einmal zurückhalten und die Regierung ihre Arbeit tun lassen? Die macht es übrigens gar nicht schlecht. Sie ist glaubwürdig in ihrem Bekenntnis, dass wir uns andere Beziehungen zu diesem ja doch auch wunderbaren Land und seinen Menschen wünschen.
Der Bundeskanzler, der auf vieles Rücksicht nehmen muss, hat zugleich die roten Linien klar benannt. Die Außenministerin ist in Moskau empathisch ohne falsche Gefühlsduselei aufgetreten, sie hat Haltung gezeigt und dem Normandie-Dialog wieder Perspektive gegeben.
Nur in diesem Format gemeinsam mit Frankreich und Deutschland sprechen Russland und die Ukraine direkt miteinander. Hier können wir einen wichtigen Beitrag zu den Bemühungen der westlichen Partner leisten, den Konflikt zu deeskalieren. Aber nur, wenn unser Gewicht und unsere Glaubwürdigkeit nicht ständig durch freundliches Feuer vom Tisch genommen werden.
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 28.1.2022 / Alle Rechte vorbehalten: Süddeutsche Zeitung GmbH, München