Ukraine

Sind die ‚Volksrepubliken‘ verloren?

Antrag der Kommunisten: Russland diskutiert über die Anerkennung der abtrünnigen Gebiete im Donbass

Volksrepublik Donezk prorussische Demo 9.3.2014
Wie weiter mit den sogenannten Volksrepubliken? Prorussische Demonstration in Donezk am 9. März 2014

Erwägt Russland, die beiden von Kiew abtrünnigen „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten anzuerkennen? Vergangene Woche reichten Parlamentarier der Kommunistischen Partei einen Antrag in der Staatsduma ein, der vorsieht, Präsident Wladimir Putin darum zu bitten. Der Parteivorsitzende Gennadi Sjuganow begründete das mit der Sicherheit der Bevölkerung in den beiden kriegsversehrten Gebieten im Donbass. Zudem erfülle die Partei damit ein Wahlversprechen.

Zwar soll die Beratung in der Duma über den Antrag erst im Februar stattfinden. Aber mitten in der Krise um die Ukraine und Europas Sicherheitsordnung ist plötzlich wieder ein Szenario in der Welt, das dem Kreml neue Optionen eröffnet und das mehrdeutige Signale aussendet.

Ende November hatte Putin an einem Wirtschaftsforum von den „bis jetzt nicht anerkannten Volksrepubliken“ im Donbass gesprochen. Die Formulierung „bis jetzt“ hatte manch einen Beobachter hellhörig gemacht. In den vergangenen Jahren waren immer wieder Vorschläge dazu aufgetaucht, die beiden seit 2014 von Russland tatkräftig unterstützten Separatistengebiete in den ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk als selbständige Staaten anzuerkennen oder gar in die Russische Föderation einzugliedern.

Der Kreml hat die von Anfang an politisch eng mit der Präsidialverwaltung zusammenarbeitenden, zwielichtigen Regime der beiden „Republiken“ zunehmend stärker an sich gebunden. 2019 ermöglichte es Putin ihren Einwohnern, russische Staatsbürger zu werden.

Das war ein Affront gegenüber der Ukraine und vor allem ihrem damals gerade neu gewählten, noch nicht ins Amt eingesetzten Präsidenten Wolodymyr Selensky. Die „Präsidenten“ der beiden Gebilde traten gar in die Kreml-Partei Einiges Russland ein.

Die Einbürgerungen geben Moskau die Möglichkeit, unter dem Vorwand des Schutzes eigener Bürger militärisch einzugreifen. Im Dezember sprach Putin von den Vorzeichen eines „Genozids“ an den Russischsprachigen im Donbass.

Weniger beachtet wurde ein Dekret Putins vom November. Unter dem Deckmantel humanitärer Unterstützung für die vom Rest der Ukraine abgeschnittenen Gebiete stellte er die dort produzierten Güter den einheimischen russischen gleich. Die vertiefte Integration in das mitunter als „Mutterland“ bezeichnete Russland war ein politisches Signal – auch an Kiew.

Moskau wirft der ukrainischen Regierung vor, sich um die Nöte ihrer Bürger im Osten des Lands nicht zu kümmern – ein angesichts der russischen Einmischung durchaus zynischer Vorwurf, der allerdings in Kiew einen Nerv trifft: Manche halten dort die mittlerweile ganz nach Russland ausgerichtete Bevölkerung tatsächlich für verloren.

Zweideutiges aus dem Kreml

Putins Sprecher riet nach dem Antrag der Kommunisten dazu, in der jetzigen Situation zusätzliche Spannungen zu vermeiden. Damit ließ er Putins Position dazu in der Schwebe. Zuvor hatte Wjatscheslaw Wolodin, der Duma-Vorsitzende, die Wichtigkeit des Vorstoßes betont.

Selensky ignoriere die Minsker Vereinbarungen zur Konfliktlösung in der Ostukraine, die Nato wolle die Ukraine besetzen, behauptete er. Beides könne in einer Tragödie enden, und das gelte es zu verhindern. Er verwies auch auf die positive Reaktion anderer Duma-Fraktionen.

Wie immer extravagant hatte sich der nationalistische Polterer Wladimir Schirinowski geäußert: Der Vorschlag bringe nur Ärger ein und keinen Nutzen. Russland müsste gleich die ganze Ukraine übernehmen.

In der Mechanik der russischen Politik ist es nicht unüblich, dass vom Kreml getragene Vorstöße via die offiziöse Opposition in die Debatte eingebracht werden. So wirken diese breit abgestützt, und Putin kann auf die Initiative anderer zeigen.

Der Antrag nimmt die weitere Entwicklung noch nicht vorweg. Dafür müsste eine Entscheidung im Kreml fallen. Er deutet aber ein Szenario an, mit dem der Kreml auf die für ihn gewiss unbefriedigenden diplomatischen Bemühungen mit den USA und der Nato reagieren könnte, ohne gleich die Armee in Bewegung zu setzen.

Begründet würde eine Anerkennung bestimmt mit der bedrohlichen Lage der Russischsprachigen und deren Schutz vor einem angeblichen „Genozid“. Das ließe sich politisch und propagandistisch ausschlachten.

Allerdings ist das emotionale Potenzial weitaus geringer, als es 2014 im Fall der Einverleibung der Halbinsel Krim war. Jedoch könnte die russische Führung darauf spekulieren, damit einen wenig populären Krieg gegen das ukrainische „Brudervolk“ zu vermeiden und trotzdem dem Westen einen Fehdehandschuh hinzuwerfen. Mit den abtrünnigen georgischen Regionen Abchasien und Südossetien existieren Vorbilder dafür.

Szenario mit Unwägbarkeiten für Moskau

Das Szenario ist aber mit Unwägbarkeiten verbunden. Der Vorstoß könnte sich als kurzlebiger propagandistischer Pyrrhussieg erweisen. Er wird deshalb auch von sonst scharfzüngigen Parlamentariern kritisiert. Zum einen wären die Reaktionen der Kiewer Führung, der USA und Europas unabsehbar. Es wäre das definitive Ende des Minsker Friedensprozesses. Würde Moskau in der Folge „auf Bitten“ der „Volksrepubliken“ auch offiziell Truppen im Donbass stationieren, käme das formal einer Invasion gleich und zöge wohl mindestens neue westliche Sanktionen, vielleicht gar eine militärische Reaktion Kiews und damit gleichwohl eine kriegerische Eskalation nach sich.

Der mittel- und längerfristige Nutzen für Russland dagegen wäre bescheiden. Die relativ kleinen Gebilde umfassen nicht das ganze Territorium der östlichen Ukraine, das Putin in seinem Aufsatz vom vergangenen Sommer indirekt für Russland reklamierte.

Zudem verlöre Moskau unter Umständen erst recht jeglichen Einfluss auf die Politik in Kiew. Russland würde nur seinem Ruf gerecht, eine auf Destabilisierung und Destruktion ausgerichtete Politik zu verfolgen. Vielleicht ist das Ganze deshalb auch nur ein Ablenkungsmanöver.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 26.1.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung