Putin und Merkel: Wie Feuer und Wasser
Zum letzten Moskaubesuch Merkels als Kanzlerin: Sie war Putins Ansprechpartnerin in der EU
Nein, die Sache begann nicht mit dem Hund. Oder den Hunden. Die kamen später. Zuerst gab es die Geschichte mit dem Blick. Das war im Februar 2002. Wladimir Putin war seit zwei Jahren Präsident Russlands. Damals gab es die Hoffnung, er werde Russland zu mehr Ordnung, aber auch zu einer Art Demokratie führen. Angela Merkel hatte gerade auf die Kanzlerkandidatur verzichtet. Die CDU-Vorsitzende traf Putin erstmals in Moskau. Er setzte sich und starrte Merkel an. Merkel hielt dem Blick stand. Verunsichern, einschüchtern? Nicht mit ihr. „KGB-Test bestanden“, sagte sie danach zu ihren Mitarbeitern.
Als Merkel vier Jahre später als Kanzlerin ihren Antrittsbesuch in Moskau machte, brachte Putin die erste Hundenummer. Er wusste, dass Merkel Angst vor Hunden hatte, nachdem sie einmal, angeblich von Nachbars Rauhaardackel, gebissen worden war. Gastgeber wurden also vorher gewarnt, dass die Kanzlerin mit Hunden keinen Spaß verstehe. Putin aber überreichte ihr einen großen Plüschhund als Geschenk. Eine Frechheit, wenn man will, oder ein Ausweis des besonderen Humors des Russen.
Ein Jahr später setzte Putin die Hundenummer fort, weniger humorvoll. Als Merkel ihn in seiner Sommerresidenz in Sotschi besuchte, ließ Putin seinen schwarzen Labrador Koni in den Raum. Der Hund beschnüffelte die Kanzlerin, die sich höchst unwohl fühlte. „Ich hoffe, der Hund erschreckt Sie nicht“, sagte Putin. Als sich der Labrador der begleitenden Presse zuwandte, sagte Merkel: „Jetzt frisst der Hund die Journalisten.“ Ihre Panik hielt die Kanzlerin im Zaum. Zweiter Test bestanden.
Putin liebt es zu provozieren. Merkel liebt es, Provokationen ins Leere laufen zu lassen. Es ist einer der vielen Unterschiede zwischen beiden. Ihre gemeinsame Geschichte, die nun zu Ende geht, ist vor allem eines: besonders lang. Merkel hat in den 16 Jahren ihrer Amtszeit vier amerikanische Präsidenten, vier französische Staatspräsidenten, fünf britische Premierminister und immerhin zwei chinesische Staatschefs erlebt. Sie kamen und gingen, nur der Mann in Moskau blieb, so wie sie.
Putin war Merkels Dauerkontakt
Mit keinem hat sie sich so oft getroffen, mit keinem so viel telefoniert. In Artikeln über das Verhältnis der beiden finden sich Zahlen: Vom Sommer 2012, als Putin nach vier Jahren Scheinverzicht wieder in das Amt des russischen Präsidenten zurückkehrte, bis zum Herbst 2020 hatten beide 67 Mal telefoniert und sich 24 Mal getroffen. In der ersten Hälfte des Jahres 2014, als Putin mit der Krim-Annexion und dem Krieg in der Ostukraine eine folgenschwere Krise in Europa angezettelt hatte, telefonierten Merkel und er mehr als 30 Mal. Putin war Merkels Dauerkontakt. Und ein Dauerproblem, das mit der Zeit immer größer wurde.
Für Putin bedeutete der Amtsantritt Merkels eine neue Ära in der Beziehung zu Berlin. Ihren Vorgänger Gerhard Schröder hatte er schnell für sich gewonnen, man könnte sagen: eingewickelt. Putin, der 2001 im Bundestag Goethe und Schiller zitierte, setzte damals auf Deutschland, hoffte, dass Russland mit dessen Hilfe wieder auf die Beine kommen würde.
Für das Verhältnis mit Schröder gab es politische Gründe, etwa der gemeinsame Widerstand gegen den Irak-Krieg der Amerikaner, nicht zuletzt aber persönliche. Putin und Schröder kamen beide aus bitterer Armut, Schröders alleinerziehende Mutter war auf Sozialhilfe angewiesen, Putin wuchs in einem Leningrader Hinterhof auf, in einer „nicht sehr emotionalen Familie“. Die private Nähe zwischen beiden führte zu gemeinsamen Weihnachtsfeiern der Ehepaare, sogar zur Adoption zweier russischer Kinder durch Schröder und seine damalige Frau Doris Schröder-Köpf. Die Treue, die Schröder hielt, belohnte Putin nach dessen Amtszeit mit Aufsichtsratsposten in der Nord Stream AG, dominiert vom russischen Konzern Gasprom, und beim Ölgiganten Rosneft.
Merkel wollte sachliche Beziehungen zu Russland, keine Kumpanei. Und doch hatte sie viel mehr Gemeinsames zu bieten als Schröder. Denn nicht nur spricht Putin, der als KGB-Agent in Dresden tätig war, fließend Deutsch, sondern die deutsche Kanzlerin spricht ebenso fließend Russisch, „eine schöne Sprache, ein bisschen wie Musik, ein bisschen melancholisch“, wie sie einmal sagte. Als Schülerin war sie so gut in Russisch, dass sie mit einer Reise in die Sowjetunion zur Russisch-Olympiade belohnt wurde. In ihrer Heimatstadt Templin gab es ein russisches Militärlager, Merkel sprach mit den Rotarmisten schon als Kind, erlebte die Rekruten nicht nur als die überlegenen Besatzer.
Auch ihr Privatleben war von Russland beeinflusst: Während eines Jugendaustausches mit Physikstudenten in Moskau und Leningrad lernte sie 1974 ihren ersten Ehemann Ulrich Merkel kennen. Als junge Frau von 30 Jahren trampte sie mit Freunden durch den Kaukasus, übernachtete in Tiflis im Bahnhofsasyl mit Obdachlosen, sah, dass es dort ganz andere Spielarten des Sozialismus gab als die heimische preußische. Die russische Literatur von Tolstoj und Dostojewskij kennt Merkel, eine Weile stand Katharina die Große, die russische Zarin aus Deutschland, auf ihrem Schreibtisch. Eine solche Nähe zu Russland hatte zuvor kein Kanzler der Bundesrepublik.
Ende der DDR: gemeinsam erfahren, verschieden bewertet
Noch etwas anderes verbindet Merkel und Putin: die Erfahrung der DDR. Manchmal tauschen sie Erinnerungen darüber aus. Putin war seit 1984 in Dresden für den KGB stationiert, er lebte dort mit seiner Familie, seine beiden Töchter gingen in den Kindergarten. Das Ende der DDR zeigte allerdings, wie unterschiedlich beide die Welt beurteilten. Als Demonstranten die Residenz des KGB in Dresden zu stürmen drohten, verbrannte Putin eilig Dokumente, „so viel, dass der Ofen geplatzt ist“, und wartete auf Anweisungen aus Moskau, die aber nie kamen. Für ihn brach eine Welt zusammen. „Ich hatte das Gefühl, dass es mein Land nicht mehr gibt“, sagte er darüber. Für Merkel hingegen öffnete sich mit dem Ende ihres Staats eine neue Welt. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften der DDR engagierte sich im Demokratischen Aufbruch, der sich später der CDU anschloss. Der Rest ist bekannt.
Durch ihre eigene Biografie als Tochter einer vom SED-Regime misstrauisch beäugten Pfarrersfamilie, aber auch durch ihre Reisen in die Sowjetunion hatte Merkel einen nüchternen Blick auf Russland. Sie verstand die sowjetischen Herrschaftstechniken, kannte die Manipulationen und Repressionen des KGB und die Misstrauenskultur, die in dem großen Land herrscht. Sie konnte Putin durchschauen, und der hohe Respekt, den der russische Präsident vor ihr hat, rührt wohl auch daher. Hinzu kam, dass sich Merkel in allen Themen bestens auskannte, was Putin bewunderte und worin er ihr nacheiferte. In ihren Gesprächen, in die beide stets sehr gut vorbereitet gingen, schenkten sie sich nichts. Halbwahrheiten ließ Merkel nicht durchgehen. Der harte Dialog diente der Kanzlerin auch dazu, ihre eigenen Argumente zu prüfen und zu schärfen.
Persönlich sind beide allerdings wie Tag und Nacht, Feuer und Wasser. Putin gibt gern den Macho, inszeniert sich als Sportsmann, kämpft Judo, spielt Eishockey, fliegt Bomber und lässt sich mit bloßem Oberkörper ablichten beim Reiten durch die Wildnis oder beim Betäuben von sibirischen Tigern. Er trägt eine 40 000 Dollar teure Uhr und verbreitet in seinem Luxusambiente gern das Gefühl unbeschränkter Macht.
Merkel spricht selten über Privates, Inszenierungen mag sie nicht. Ihr Luxus besteht in ein, zwei Glas Rotwein und dem jährlichen Besuch in Bayreuth. Sportliche Aktivitäten, abgesehen vom Wandern, meidet sie, schon als Kind war sie ein Bewegungsmuffel, und wenn sie bei geringer Geschwindigkeit Langlauf auf Skiern betreibt, kann sie sich schon mal das Becken brechen. Während Putin notorisch und ganz bewusst zu spät kommt, damit die anderen auf ihn warten, ist Merkel die Pünktlichkeit in Person. Seine Marotten, Macht zu demonstrieren, seine impulsive Art, sein schnelles Beleidigtsein konterkariert sie mit Gelassenheit.
Merkel: Klartext und Verständigung
Merkel hat es sich schnell angewöhnt, offen ihre Meinung zu Russland zu sagen. Verletzungen der Menschenrechte, Angriffe auf die Pressefreiheit, die Morde an Regimekritikern nannte sie bald beim Namen. Sie lud russische Menschenrechtler, Dissidenten und kritische Journalisten in ihre private Wohnung ein, um deren Sicht zu erfahren. Den Dialog mit Putin hat sie nie abgebrochen, zu wichtig ist das Land, zu bedeutend die Beziehung. Russland als „Regionalmacht“ abzutun, die keine Bedeutung hat, wie es Barack Obama tat, wäre ihr nicht in den Sinn gekommen. Nicht immer folgte sie dem amerikanischen Russland-Kurs.
Auf dem NATO-Gipfel 2007 setzte sie sich dafür ein, dass Georgien und die Ukraine nicht in die NATO aufgenommen wurden, wie es der amerikanische Präsident George W. Bush wollte. Zugleich versuchte sie von Anfang an, gegenüber Putin amerikanische Positionen zu erklären, machte klar, dass Deutschland im westlichen Bündnis steht, keine Äquidistanz anstrebt.
Merkel verstand, dass Putin sein Land in den Kreis der Großmächte zurückführen will. Sie versuchte ihn zu überzeugen, dass in Zeiten der Globalisierung die militärische Macht, die Russland hat, der falsche, gestrige Weg dahin ist. Doch Putin folgte diesem Rat nicht.
Die Annexion der Krim Anfang 2014 und der Krieg in der Ostukraine beschädigten das Verhältnis zwischen beiden nachhaltig. Merkel hatte Putin bis dahin für berechenbar gehalten, der Glaube war dahin. Dennoch redete sie weiter mit ihm und verhandelte, allein 17 Stunden im Februar 2015 in Minsk, um die Kämpfe in der Ukraine zu beenden.
Dass Putin die Grenzen in Europa militärisch verschob, hat Merkel schockiert. Bei einem Besuch in Moskau im Mai 2015 hat sie, wohl unbeabsichtigt, eine unerwartet offene Einschätzung der Krim-Annexion von sich gegeben: Sie nannte sie nicht nur völkerrechtswidrig, sondern „verbrecherisch und völkerrechtswidrig“.
Merkels politische Antwort auf Putins Tabubruch, seinen militärisch geführten Kampf um Einflusssphären lautete: Sanktionen. Sie setzte sie in der EU mit einer Entschiedenheit durch, die Putin überraschte. Merkel hielt diesen Schritt für unabdingbar, wohl wissend, dass sie sich bei der deutschen Wirtschaft und einem nicht geringen Teil der Deutschen damit keine Freunde machte. Obama überließ ihr dann die Führung des Westens im Ukraine-Konflikt weitgehend. Merkel wurde damit endgültig zur weltpolitischen Gegenspielerin Putins. Zugleich war sie in Washington, aber auch in den europäischen Hauptstädten als Russlandversteherin gefragt. Man wollte von ihr wissen, was Putin denkt, plant, will.
Die Erfolge ihrer Bemühungen, mit Diplomatie und Ökonomie das brachiale militärische Vorgehen Moskaus zu kontern, schienen oft klein, aber aus ihrer Sicht war es der einzig gangbare, lohnende Weg: ein Gefangenenaustausch in der Ukraine zwischen prorussischen Separatisten und Kiew, ein Korridor für Flüchtlinge in Syrien, der eine weitere humanitäre Katastrophe verhinderte.
Wunsch nach guten Beziehungen zu Russland
Putins kaum verhohlener kalter Krieg gegen den Westen trübte die Beziehung der Kanzlerin zu ihrem russischen Gegenüber in den letzten Jahren immer mehr. Der Fall Lisa Anfang 2016, als Falschmeldungen über die angebliche Vergewaltigung eines russischstämmigen Mädchens durch arabische Flüchtlinge die Stimmung unter Russlanddeutschen anheizten, war ein Beispiel dafür, wie Moskau versucht, auch in Deutschland innenpolitisch Einfluss zu nehmen - ein Vorgehen, wie es auch die russischen Auslandssender praktizieren. Der Bundestags-Hack 2015, bei dem nach Jahren ein russischer Täter aus dem Militärgeheimdienst GRU identifiziert wurde, hat nicht nur das ganze Parlament des Landes lahmgelegt, sondern auch Merkel selbst betroffen, bei der mehrere E-Mail-Konten abgegriffen wurden. Der kaltblütige Mord an einem Exil-Tschetschenen im Kleinen Tiergarten in Berlin-Moabit im August 2019 zeigte, dass Moskau auch keine Skrupel hat, solche Taten dort zu verüben, wo man lange Gehör fand. Hinzu kam die Vergiftung des Oppositionellen Alexej Nawalnyj mit dem Kampfstoff Nowitschok durch den russischen Inlandsgeheimdienst. Dass Merkel die Tat sofort deutlich verurteilte, dann den selbstbewussten Putin-Kritiker persönlich am Krankenbett in der Berliner Charité besuchte, wo er behandelt wurde, ist in Moskau als Affront verstanden worden.
Wie klar Merkel die Versuche Putins sieht, den Westen zu spalten und die EU zu schwächen, hat sie in der Fragestunde des Bundestags im Mai 2020 offenbart. Sie sprach von einer „Strategie der hybriden Kriegsführung“, zu der auch „Cyber-Desorientierung“ und „Faktenverdrehung“ gehörten. Den Cyberangriff auf den Bundestag nannte sie „ungeheuerlich“. Und sie ließ erkennen, dass ihr das Verhalten Russlands und damit Putins nahegeht. „Ich darf sehr ehrlich sagen: Mich schmerzt es.“ Schließlich bemühe sie sich „tagtäglich um ein besseres Verhältnis zu Russland“.
Sie sprach von einem Spannungsfeld, in dem sie sich bewege, das entspringe auch „dem Wunsch nach guten Beziehungen zu Russland“. Das sei etwas, „das auch ich nicht ganz aus meinem Inneren streichen kann“. Dass die Kanzlerin an Nord Stream 2 festhielt und sich in Washington mit Präsident Biden in der Sache einigte, hat wohl auch damit zu tun, dass sie irgendetwas mit Russland hinbekommen, die Beziehung nicht ganz zerstören wollte.
Am Freitag – und damit ausgerechnet am Jahrestag der Vergiftung Nawalnys – wird Merkel wohl ein letztes Mal als Kanzlerin Putin in Moskau treffen. Gewiss werden die beiden dann auch über Afghanistan zu sprechen haben, wo es auch gemeinsame Interessen gibt. Aber Merkel wird es nicht zulassen, dass der Ukraine-Konflikt in den Hintergrund rückt. Sie hat die Reise wohlweislich mit einem Aufenthalt in Kiew verbunden.
Eine schwierige und zugleich enge Beziehung wird damit zu Ende gehen. Wird Putin dann auf leichtere Zeiten hoffen? Kein potenzieller Nachfolger Merkels wird die Russland-Politik wohl grundlegend ändern, auch wenn Annalena Baerbock die Frontstellung zu Moskau härter beschreibt als Olaf Scholz oder Armin Laschet.
Für Putin hingegen wird Merkels Abgang ein Problem sein. Es ist ein bisschen so, als ob Roger Federer mit dem Tennis aufhört, Rafael Nadal aber bleibt. Angela Merkel war für Putin über viele Jahre die Ansprechpartnerin für die Europäische Union, ihre Telefonnummer der Draht nach Europa. Noch ist unklar, wer diese Lücke füllen wird. Es könnte der französische Präsident Emmanuel Macron sein oder aber die Person, die Merkel im Kanzleramt folgt. Sicher ist nur: Ein vertieftes Verständnis für Russland, wie Merkel es besitzt, fehlt.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 19.8.2021 in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.