Frauenrechte

Gendern in Russland? Unvorstellbar

Schon die Frage nach weiblichen Berufsbezeichnungen gilt dort als „Pest aus dem Westen“

von Inna Hartwich
In Russland regiert das Patriarchat. Frauen sollen Männern dienen und gefallen.

Plötzlich ein Wort, das aufhorchen lässt. Ein schönes, fast schon poetisches. „Pilotessa“, sagt die Moskauer Podcasterin Nastia Krasilnikowa in einer ihrer Sendungen, als sie eine Pilotin als Gesprächspartnerin vorstellt. Sie tut es ganz selbstverständlich und weiß, dass Feminitive, wie im Russischen die weiblichen Personenbezeichnungen heißen, alles andere als selbstverständlich sind. Sie entstellten die Sprache, seien nicht wohlklingend, einfach ein Bockmist.

Das bekommt nicht nur Nastia Krasilnikowa zu hören. „Nelsja“, sagen die Russen dann oft. Man dürfe das nicht machen. Man darf so viele Sachen nicht in Russland. Einfach, weil es so ist. „Nelsja“ – und Punkt. Ein Warum wird kaum geduldet.

Dabei ist ein Warum ein guter Anfang, um uralte Vorstellungen zu hinterfragen. Um zu verstehen, warum das Land durch seinen Präsidenten „traditionelle russische spirituell-moralische Werte“ jüngst auch in der nationalen Sicherheitsstrategie festschreiben ließ. Warum also nicht mit ein paar Buchstaben anfangen, die viele als anstößig wahrnehmen, für einige aber ein Zeichen der Selbstbestimmung sind?

„Frau-Chirurg“ und „redaktora“

Historisch bedingt sind sehr viele russische Berufsbezeichnungen bis heute maskulin. Mit jedem „Arzt“ ist auch eine „Ärztin“ gemeint, jeder „Anwalt“ kann auch eine „Anwältin“ sein, hinter jedem „Direktor“, jedem „Journalisten“, jedem „Studenten“ steckt möglicherweise eine Frau. Es wird im Alltag auch so verwendet: „wratsch“ Iwanowa (eigentlich „Arzt“, doch jedem ist klar, dass es sich um eine Frau handelt) oder „adwokat“ Petrowa (mit „Anwalt“ ist auch hier eine Frau gemeint). Manchmal wird vor die männliche Bezeichnung das Wort „Frau“ gesetzt: „erste Frau-Kosmonaut“ zum Beispiel oder „Frau-Chirurg“. Weibliche Formen existieren zwar auch für „Ärztin“ („wratschicha“) oder „Direktorin“ („direktorscha“), doch werden sie von der Mehrheit als abwertend verstanden – und letztlich auch genau so gemeint – und somit nicht als Selbstbezeichnung verwendet.

Grundsätzlich gibt es zehn unterschiedliche Suffixe, die eine weibliche Form bilden. Bei manchen Bezeichnungen klingen diese Wörter trotz der grammatischen Korrektheit dennoch befremdlich und stoßen deshalb auf so viel Widerwillen, sie auch nur in den Mund zu nehmen. Die meisten Menschen im Land machen sich ohnehin kaum Gedanken darüber, ob sie nun von einer „Verkäufer“ bedient werden oder einen Text von einer „Autor“ lesen.

Viele, zumal in den Regionen, in denen es schon reinstes Glück ist, eine passable Stelle zu haben, kämpfen ums reine Überleben. Die Benutzung von Feminitiven ist für sie reine Provokation. Wörter, die fern ihrer Realität sind. Vor allem Überlegungen über die Mehrzahl der weiblichen und männlichen Formen zusammen, die im Westen für viele Kontroversen sorgen wie etwa „Pilot_innen“ oder „PilotInnen“, sind in Russland kaum vorhanden. Es ist eine Art Flug auf den Mars, unvorstellbar.

In Großstädten wie Moskau oder Sankt Petersburg hatten vor etwa drei Jahren vor allem Kreative – bewusst und beharrlich – damit angefangen, zwei Buchstaben an ihre Berufsbezeichnung anzuhängen. Der Hohn war ihnen sicher. Sie nahmen das hin – in ihrem Kampf, auf ihre Anwesenheit in gewissen Berufsgruppen hinzuweisen. Stolz sagten sie „Ich bin Schenia, und ich bin ‚regisseurka‘“, „Ich bin Tanja, und ich bin ‚doktorka‘“ oder „Ich bin Nastia, und ich bin ‚redaktorka‘“. Sie bestehen nicht darauf, dass auch andere Frauen die „-ka“-, „-za“- oder „-nja“-Endung an ihre Berufsbezeichnung hängen sollen. Das nimmt ihnen die Verbissenheit und macht sie sympathisch. Sie lassen den anderen die Wahl.

Auffällig dabei ist, dass sich viele dieser Frauen öffentlich mit ihren Kurznamen vorstellen, nicht wie sonst üblich im Land mit den vollen Namen wie Jewgenia, Tatjana oder Anastasia. Das Offizielle weicht hier dem eher Familiären und Freundschaftlichen.

In manchen Kreisen, mögen diese auch sehr überschaubar sein, ist es mittlerweile fast schon üblich, sich als „journalistka“, „fotografka“, „bloggerka“ zu bezeichnen. Oder eben als „pilotessa“. Es ist ein Ausdruck der Selbstbestimmung, wie es in den 1930er-Jahren Ausdruck der Selbstbestimmung war, gerade die damals bestehenden weiblichen Formen bewusst gegen die maskuline Form einzutauschen. Dichterinnen des Silbernen Zeitalters wie Anna Achmatowa oder Marina Zwetajewa bestanden darauf, „poet“ und nicht „poetessa“ genannt zu werden.

In Russland dominiert das Patriarchat

Der Kontext hat sich geändert. Russlands politisches System baut auf der Ideologie des Patriarchats auf, chauvinistische Einstellungen durchdringen die Gesellschaft. Das Recht des Stärkeren dominiert in der Innen- wie in der Außenpolitik. Und auch im Alltag.

Das äußert sich nicht selten in einer Sprache der Gewalt. Vom Chef erwarten die Untergebenen geradezu, dass er sie anschreit. Auch im Kindergarten brüllen die Erzieherinnen die Kinder oft an und vertreten die Ansicht, anders lernten diese keine Disziplin; auf den Spielplätzen werden Kind und selbst Hund mit dem Zuruf „Wenn du das nicht machst, kriegst du was“ angegangen. Was sie „kriegen“, wird nicht verbalisiert, die Drohung, die längst zur Floskel verkommen ist, bleibt dabei aber allgegenwärtig. Das Wort „bestrafen“ kennen selbst die Kleinsten.

„Verhalte dich richtig“, heißt es oft. „Richtig“ ist dabei, was klar ist, weil Klarheit letztlich einfacher ist und Veränderungen mit dem Hinterfragen des Gängigen zusammenhängen und anstrengend sind. Deshalb pochen so viele im Land auf klare Rollenbilder. „Du bist doch ein Mädchen, verhalte dich auch so“, „Du bist doch ein Knabe, dann handle doch auch wie einer“ – das sagen viele Männer wie Frauen gleichermaßen und finden die offiziell vorgegebenen „traditionellen Werte“ genau richtig für ihr Selbstverständnis. Die Begriffe „Gender“ und „Feminismus“ sind selbst für diejenigen, die die Werte dahinter unterstützen, eine Art „Pest aus dem Westen“.

Der Staat verweist gern auf die gesetzliche Gleichstellung zwischen den Geschlechtern. Dass diese keine Gleichberechtigung mit sich bringt, wischt er beiseite. Frauen verdienen in Russland für dieselbe Arbeit wie Männer durchschnittlich 30 Prozent weniger als diese. Bei einer Vergewaltigung wird oft der Frau die Schuld gegeben, sie habe sich eben nicht „wie eine Frau“ verhalten. Auch nach vielem Ringen gibt es in Russland kein Gesetz gegen häusliche Gewalt. Vergewaltigung in der Ehe wird oft mit der Aussage „Das sind doch eheliche Pflichten“ gar nicht erst zu einer Straftat erklärt. Selbst in Hochglanzmagazinen für Frauen wird die Frau als Mensch zweiter Klasse beschrieben, als „Abfall“, beklagen Feministinnen im Land.

Rollenvorbild Alpha-Männchen

„Ich bin ja keine Frau, ich habe keine schlechten Tage“, erklärte Wladimir Putin 2017 in einer Folge der vierteiligen Dokumentarfilmreihe „Die Putin-Interviews“ des Amerikaners Oliver Stone. Der Präsident inszeniert sich gern als Alpha-Männchen, als „muschik“ und hat viele Nachahmer im Land. Nach Umfragen eines russischen Finanzinstituts sieht die Hälfte der russischen Männer die Hauptaufgabe der Frau darin, sich um Kinder, Alte und die Familie zu kümmern, nicht um einen Job. Mehr als jeder fünfte befragte Mann gibt dabei offenbar an, eine Frau dürfe sich nur deshalb eine Arbeitsstelle suchen, weil sie sonst die Kinder nicht versorgen könnte.

Das Bild der Frau in Russland ist immer noch das Bild der Ehefrau und Mutter. Da mögen die Errungenschaften der Sowjetunion, aus Hausfrauen und Bäuerinnen politische Subjekte gemacht zu haben – samt bolschewistischen Experimenten in den Bereichen Sexualität und Familie, samt Frauenwahlrecht bereits 1917 und Kinderkrippen allenthalben –, noch so oft erwähnt und gelobt werden, die Frauen im Land hören bis heute, sie seien nur etwas wert, wenn sie einen Mann an ihrer Seite hätten. Selbst das Wort für „heiraten“ verdeutlicht das Verständnis: Der Mann nimmt sich dabei eine Frau, die Frau steht hinter einem Mann.

Historisch bedingt ist es der Mann, der die Wahl hat im Land. Es gibt fast zehn Millionen Männer weniger in Russland als Frauen. Den Mädchen wird nahezu von Geburt an vorgesagt, dass sie schön zu sein hätten, damit sie dem Mann später „dienen“, damit sie ihn überhaupt für sich gewinnen könnten. Für Feministinnen wie Lola Tagajewa ist die russische Frau eine Schichtarbeiterin, mit drei Schichten: Arbeit, Haushalt und Kinder, Schönheitspflege. Der Mann ist dabei ein „Helfer“, kein gleichberechtigter Partner. Das beklagen die Feministinnen, dagegen gehen sie vor.

Und wenn es hilft, einen Dialog zu beginnen um die Frage, wie es nun steht um Männer und Frauen in Russland, dann stellen sich Lola Tagajewa oder Nastia Krasilnikowa dem Spott über ihre Selbstbezeichnung als „journalistka“ oder „redaktorka“ gelassen entgegen. Denn dieser Dialog ist bitter nötig in dem Land.

Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in Neue Zürcher Zeitung, 19.7.2021.

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell, während andere uns helfen, diese Website und Ihre Erfahrung zu verbessern.

Alle akzeptieren

Speichern

Individuelle Datenschutzeinstellungen