Disruptiver Trend erobert jetzt Eisdiele: Der Pseudo-Geist der Gegenwart!

Der disruptive Pseudo-Geist der Gegenwart hat die Eisdiele erreicht

Im Eiscafé Venezia in Erlangen bieten sie nun „Gelato Bowls“ an, unter anderem „Mr. Choc“, „Caramel & Crumble“, „Love U Cherry Much“ und „Harte Nuss“. Zudem gibt es eine spezielle Eissorte in Kooperation mit der lokalen Bäckerei Gulden, inspiriert von Franzbrötchen. Auffallend ist auch die Wanddekoration: ein in leuchtenden Neonfarben gestaltetes Herz, das an eine Kombination aus einer Dalí-Uhr und schmelzendem Eis erinnert.

Die Innovationsschau hat sich von den Ketaminverseuchten Nasen des Silicon Valleys über die geölten Motorsägen Argentiniens bis hin zu ländlichen Eisdielen durchgesetzt. Alles wird neu erfunden – jetzt auch das Speiseeis. Dabei ist Eis in seiner klassischen Form – wie Sex – eine zeitlose Schönheit. Drei Kugeln Eis mit Sahne bedürfen keiner Neuerfindung. Die Bowls in Erlangen sind daher eher ein semantisches Experiment: Es sind am Ende die klassischen Eisbecher, die jedoch nicht mehr im Glas, sondern in einer flachen, schwarzen Schale serviert werden. Dennoch fehlt das diffus nostalgische Gefühl, das sonst nur im Sommer existiert.

Es geht beim Eis nicht nur um die handwerkliche Kunst, wie sie in städtischen Hipster-Eisdielen wie dem Hokey Pokey in Berlin zelebriert wird, sondern vielmehr um das Erlebnis. Natürlich schmeckt hochwertiges Eis (mit echter Sahne, Früchten und Schokolade) besser als minderwertiges. Bei einem Kugelpreis von über 2 Euro erwartet man auch entsprechende Qualität. Aber es geht um mehr als nur das Eis selbst. Der Animationsfilm „Ratatouille“ demonstriert die synästhetische Macht des Essens. Ein verbitterter und zynischer Essenskritiker wird am Ende durch die Kindheitserinnerungen, die das einfache französische Gericht in ihm weckt, zu einem glücklicheren Menschen.

Die Eisdiele nutzt genau diese Effekte. Wie man sich beim Pommesessen im Freibad auch noch mit Ende 30 an das erste Mal Küssen auf der Wiese erinnert, den Duft der Haare des anderen, die warme Haut, selbstgedrehte Zigaretten und die Musik von damals – so führt auch der Besuch einer Eisdiele auf eine Reise durch Zeit und Raum.

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Tropft auf die Haute Couture

Die Band Element of Crime, angeführt vom Schriftsteller Sven Regener, veröffentlichte 2009 das Lied „Am Ende denk ich immer nur an dich“. Es geht zwar nicht um eine Eisdiele, aber um eine Situation mit Eis. Eine Mutter stolpert über das Bein eines Kindes, das „ein Erdbeereis in seiner rechten Hand“ hält. „Das hängt bedenklich schräg nach vorn in seiner Waffel/ Und tropft sich selbst verschwendend auf die Haute Couture/ Am Leib des ganzen Stolzes seiner schönen Eltern/ Und wird zu Dreck dort, genau wie ich bei dir/ Ganz egal, woran ich grade denke/ Am Ende denk ich immer nur an dich“, singt der bierselige Sven Regener.

Ich denke an Carmen. Sie war auf der Hauptschule und hat mir in der fünften Klasse eine Rose geschenkt. Ich habe sie daraufhin zum Eis eingeladen. Ich sehe ein Fünfmark-Stück in meiner Hand, dann Euro-Münzen. Ich sehe weiße Schnüre Vanilleeis aus der Maschine gleiten. Die dünnen Servietten im Chromständer auf der gläsernen Theke. Die Schlange, mit den Kindern an den Händen der Eltern. Ich sehe die älteren Damen beim Eiskaffee, beim Schwedeneisbecher, beim Banana-Split. Ich sehe sie West-Zigaretten rauchen und Cappuccino trinken. Ich sehe eine Kugel Schokolade von meiner Waffel in Zeitlupe auf den Boden fallen. Ich sehe den verzweifelten Versuch, sie irgendwie wieder sauber auf die Waffel zu kriegen. Ich schmecke Steinchen und Staub der schmutzigen Eiskugel. Ich sehe den todgeweihten Eisbecher Pinocchio in der Sonne seinen letzten Atemzug nehmend zum Blobb und dann zur Blut-Lache werden.

Eis essen und die Vergänglichkeit des Lebens

Eis beim Schmelzen zuzusehen, ist wie das Betrachten einer sozial akzeptierten Form von Snuff- und Mondo-Filmen. Die bunten, an Innereien erinnernden Sahnepfützen auf den Böden der Becher am Ende eines jeden Eisdielenbesuchs sind ein vom Christentum losgelöstes und etwas fröhlicheres Zitat aus der Genesis: „Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zur Erde, denn von ihr bist du genommen. Denn Staub bist du, und zum Staube wirst du zurückkehren.“

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Das bundesrepublikanische Eiscafé ist eng mit dem Schweiß der Arbeit verbunden. Die Lokale, die in der Zeit des Wirtschaftswunders in Westdeutschland eröffnet wurden – mit Namen wie Venezia, Dolomiti, Capri oder Bassanese – waren für die damalige Generation ein Zeichen ihres kleinen, neuen Wohlstands, den sie sich nach der harten Arbeit des Wiederaufbaus verdient hatten, aber vor allem auch leisten konnten. Sie verkürzten die Zeit bis zum nächsten Italienurlaub oder ersetzten ihn, wenn das Geld knapp war.

George Washington und seine Liebe zur Eiscreme

Eis war einst ein absurder Luxus, der nur Reichen in Frankreich, England oder Amerika vorbehalten war. Der erste amerikanische Präsident, George Washington, war ein großer Liebhaber von Eiscreme. In der Nähe seines Anwesens in Virginia, bekannt als Mount Vernon, fließt der große Fluss Potomac. Wenn dieser zufrohr, mussten Sklaven und Arbeiter riesige Eisblöcke daraus brechen und in Sägespäne und Stroh packen, damit Washington bereits in den 1780er Jahren bis in den Juni hinein Eis genießen konnte.

1784 investierten Washington und seine Frau in eine „Cream Machine for Ice“. Der damalige Preis laut der George Washington Presidential Library war „One pound, thirteen shillings and three pence.“ Washington mochte nicht nur süßes Eis; auf der Homepage von Mount Vernon, wo heute noch ein Museum und ein Besucherzentrum sind, wird das Rezept eines Parmesan-Eises aufgeführt.

In München eröffnete 2012 Matthias Münz sein erstes Geschäft unter dem Namen „Der verrückte Eismacher“. Seitdem bietet er – inszeniert und rezipiert als „verrückt“ – vermeintlich neue Eissorten in Geschmacksrichtungen wie Gorgonzola-, Weißwurst- oder Currywurst-Eis an. Neu war das allerdings nicht, sondern nur „neu gedacht“.

Der Trend zu „neuen“ Eisdielen, die sich jetzt „Eismanufaktur“, „Eiswerkstatt“, „Eislabor“ nennen, setzt sich fort. Sie setzen einerseits auf traditionelle Werte wie Handwerklichkeit, oft durch Logos betont, die an handgekritzelte Kinderbuch-Illustrationen aus den 60er-Jahren erinnern. Andererseits speisen sie sich aus einem ultra-zeitgenössischen Bewusstsein.

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Diese neuen Eisdielen sind in Wahrheit Kapellen des digitalen Spätkapitalismus. Sie sind im Geiste eines Apple-Stores eingerichtet: sauber, glatt, leicht zu wischen, aseptisch, in ihren Pastell-Tönen maximal weich, gefällig und schwach im Ausdruck. Yves-Klein-Blau ist eine Farbe. Pastell-Pistazie ist die Abwesenheit von Farbe.

Mein Kollege Ulf Poschardt sagte einmal über E-Autos, dass ihnen die Seele fehle. Bei den modernen Eisdielen ist es genauso. Sie sind nicht als etwas Neues, als Konsequenz eines beseelten Gedankens entstanden, sondern als „bessere Variante“ von etwas. Sie sind das, was passiert, wenn die Kinder aus dem Unterbewusstsein von Roland Berger und McKinsey über Eis nachdenken. Die Manufakturen und Labore sind das Ergebnis von Menschen, die so viel arbeiten, dass sie bis zum Erbrechen durch Selfcare, Yoga und Digital Detox ein Gegengewicht schaffen müssen.

Die nostalgische Aufladung der Eisdiele ist damit gestorben. Die 60er-Jahre, der Sahne-befeuerte Wohlstand soll bilderstürmend auf den Trümmerhaufen der kulinarischen Geschichte geworfen werden. Aber welche Gefühle erzeugen diese Eisdielen? An was sollen sich die heutigen Kinder denn in 30 Jahren beim Besuch einer Eisdiele erinnern?

Werden sich die Kinder von morgen an Açai-Sorbet, an Aktiv-Kohle-Vanille- und Basilikum-Olivenöl-Eis erinnern? Ich glaube nicht. Diese Eissorten werden genauso vom Himmel fallen wie Dorothee Bärs Fantasie von Flugtaxis. Die Zwölftonmusik Arnold Schönbergs hat ihren Platz als Randnotiz gefunden. Ein „Ave-Maria“ oder ein „She Loves You“ der Beatles ist für die Ewigkeit. Drei Kugeln gemischtes Eis mit Sahne ebenso.

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