Das Leben in dem Flüchtlingslager Salzgitter-Watenstedt war für das Kind eine große Herausforderung. Die ärmlichen Verhältnisse der Baracken und die furchteinflößenden Latrinen hinter den Unterkünften, die ständige Angst, in die Grube zu fallen, waren nur ein Teil der Schwierigkeiten. Noch schlimmer waren die Schläge, die der Lehrer mit dem Rohrstock austeilen konnte, und die Gewalttätigkeit des Mannes, den er Vater nennen musste.
Jack-Peter Kurbjuweit, geboren 1945, hat in seiner Kindheit viel erduldet. Dennoch gab es auch unbeschwerte und helle Momente. Er und viele andere Kinder, deren Familien ebenfalls vor der Roten Armee aus den ehemaligen Ostgebieten geflohen waren, verbrachten ihre Zeit mit Spielen und Streifzügen durch alte Bunkeranlagen. Sie sammelten Schrott, um Geld zu verdienen, und erlebten dabei auch Freundschaft. Seine Mutter war sein Fels in der Brandung. Als sie eines Tages spurlos verschwand, brach für ihn eine Welt zusammen.
Kurbjuweit arbeitete später als Starkstromelektriker und war viele Jahre als Gewerkschaftssekretär für die IG Metall in Hameln tätig. Im Oktober wird er 80 Jahre alt. Wenn er von dem Tag erzählt, an dem seine Mutter ihn und seine beiden Geschwister ohne ein Wort verließ, fühlt man, dass gewisse Wunden nie vollständig heilen. Für den damals 13-Jährigen markierte dieser Tag den Beginn einer Katastrophe, nach der nichts mehr so war wie zuvor.
Bald darauf zog eine neue Frau mit zwei Töchtern in die Baracke. Der Teenager kam nicht mit ihr zurecht. Eines Tages, mitten in einem Streit, rief sie ihm zu: „Du gehörst nicht hierher! Das ist gar nicht dein Vater!“
Verstört suchte der Junge seine Großmutter auf. „Ist das wahr?“, fragte er sie. Zum ersten Mal erfuhr er von einem griechischen Zwangsarbeiter, in den sich seine Mutter während ihrer Zeit im Sudetenland verliebt hatte und der sein leiblicher Vater war.
Jack-Peter Kurbjuweit ist nur eines von vielen Kindern aus Beziehungen, die während des Zweiten Weltkriegs zwischen deutschen Frauen und Zwangsarbeitern sowie Kriegsgefangenen entstanden. Diese Verbindungen waren strengstens verboten und wurden als „GV-Verbrechen“ geahndet. Die Frauen, die solche Beziehungen eingingen, riskierten von Gefängnisstrafen bis hin zur Einweisung in ein Konzentrationslager. Betrug eine Frau ihren an der Front kämpfenden Ehemann mit einem Russen, konnte sie sogar die Todesstrafe erwarten.
Nach dem Ende des „Dritten Reiches“ wurden Schätzungen zufolge über 900.000 Frauen von den „Befreiern“ vergewaltigt. Es entstanden jedoch auch viele Liebesbeziehungen, die trotz fehlender strafrechtlicher Verfolgung gesellschaftlich geächtet blieben. Historiker schätzen, dass etwa 400.000 Kinder aus solchen Verbindungen hervorgegangen sind. Diese Kinder, ebenso wie ihre Mütter, litten unter Ausgrenzung und Stigmatisierung und wurden oft beschimpft und verprügelt.
Lange Zeit wurden die Lebensgeschichten dieser „Kinder des Feindes“ tabuisiert. Erst in den letzten Jahren finden sie Eingang in wissenschaftliche Untersuchungen. Eines der bedeutendsten Projekte ist die Dokumentation „Trotzdem da!“, die in der niedersächsischen Gedenkstätte Sandbostel entstand.
Die Journalistin Monika Dittombée leistete mit ihren kürzlich erschienenen Porträts („Schattenschicksale Lebenswege der Kriegskinder aus verbotenen Beziehungen – Geschichten des Überlebens“, Kösel) einen wertvollen Beitrag. „Es hat mich sehr berührt, wie viel Zeit und Emotion meine Protagonisten in die Suche nach ihren Vätern investiert haben“, sagte sie. Diese Suche begann oft erst im mittleren Lebensalter und führte quer durch Europa, ohne Gewissheit auf Erfolg.
Warum war der Vater so wichtig? Diese Frage stand im Zentrum ihrer Forschung. Letztendlich war es ein Mann, der sich nie um sein Kind kümmerte, der zurück in sein Heimatland ging, weil er es wollte oder musste, und der nie versuchte, Kontakt zur Mutter seines Kindes in Deutschland zu halten. Was sie entdeckte, war ein tiefes Verlangen nach den eigenen Wurzeln: „zu wissen, wo man herkommt.“
Jack-Peter Kurbjuweit, den sie ebenfalls für ihr Buch interviewte, war bereits 50, als er sich auf die Suche nach seinem Vater machte. Trotz einer harten Kindheit nahm sein Leben einen guten Verlauf. Er kehrte nicht zu seinem Stiefvater und dessen Frau zurück, sondern fand Unterschlupf bei Freunden und lebte zeitweise bei seiner Großmutter. Er machte eine Ausbildung, heiratete, und sein Sohn wurde geboren.
Wie bei allen Protagonisten, mit denen Monika Dittombée sprach, war auch bei Kurbjuweit keine Resignation zu spüren. Im Gegenteil: Wie er engagierten sich alle Interviewten sozial oder bildend im Beruf oder ehrenamtlich. „Vielleicht zählt auch das zu einem emotionalen ‚Erbe‘, anderen zu helfen, weil man selbst einmal Hilfe gebraucht hätte“, vermutet die Autorin. Möglicherweise half dies ihnen, Traumata zu überwinden und Resilienz zu entwickeln.
Die Beziehung zu seiner Mutter blieb belastet. Über den Vater wurde wenig gesprochen. Von der Großmutter hatte er erfahren, dass seine Eltern sich im Frühling 1945 verloren hatten, als die Deutschen schnell das Sudetenland verlassen mussten. Sie hatten vergeblich nach seinem Vater gesucht.
In der neuen Heimat im Westen lernte seine schwangere Mutter Kurbjuweits Stiefvater kennen. Mit seiner Mutter sprach er kaum über den leiblichen Vater. Erst kurz vor ihrem Tod im Jahr 1971 gab sie ihm einen Zettel. Darauf standen die Namen von drei griechischen Brüdern, die als Zwangsarbeiter ins Sudetenland gebracht worden waren. Zum ersten Mal las Kurbjuweit den Namen seines Vaters: Pietro Dolcetti.
„Ich wollte mich über zwei Jahrzehnte nicht mit dem Thema beschäftigen“, sagt er. Doch dann, im Jahr 1995, als er und seine Frau wieder in Griechenland Urlaub machten und eine Dose mit seinen Lieblingswaffelröllchen „Caprice“ öffneten, fiel ihm zum ersten Mal ein rosa Zettel auf: „Dolcetti“ stand darauf.
„Wir wussten nicht, dass es das italienische Wort für Süßigkeiten ist. Wir fragten uns plötzlich: Könnte mein Vater noch leben?“ Kurbjuweit war plötzlich entflammt für die Vorstellung, seine Wurzeln kennenzulernen. Er recherchierte im Internet, nahm Kontakt mit dem Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes auf. Erfolglos. Schließlich fand er vier „Dolcetti“-Adressen im Raum Athen. Mithilfe einer befreundeten Psychologin formulierte er einen Brief, in dem er sich als Sohn von Pietro Dolcetti vorstellte.
„Ich fragte so zurückhaltend wie möglich nach Verbindungen“, sagt er. „Ich wollte in der anderen Familie ja keine Unruhe auslösen.“ Nach einem Jahr kam Antwort – von einem Cousin. Die Familie freue sich, ihn kennenzulernen, schrieb er. Wo Pietro sei, wüssten sie nicht. Der Kontakt sei abgebrochen.
Kurbjuweit wäre am liebsten gleich losgefahren. Zur ersten persönlichen Begegnung kam es aber erst im nächsten Urlaub. Es war wie ein Wunder. „Ich wurde von Anfang an herzlich aufgenommen“, sagt er. Als er erzählte, dass sein Sohn Kapitän werden wolle, erfuhr er, dass der griechische Großvater als Kapitän Lastschiffe von Genua nach Piräus gefahren habe.
War da eine genetische Prägung? Die Treffen fühlten sich wie eine Erlösung an, sagt er. Endgültig aufgenommen wurde er, als sie mit 20 Verwandten ein traditionelles Osterfest auf Andros feierten, mit einem über dem Feuer gegrillten Lamm, griechischen Tänzen und viel Ouzo.
Mit seinem Onkel Takis fuhr er nach Tschechien, ins ehemalige Sudetenland. Es war eine emotionale Reise zu den Schauplätzen der Verbrechen, die die Nazis an den Dolcetti-Brüdern wie den unzähligen anderen Zwangsarbeitern verübt hatten. Kurbjuweit erfuhr, dass seine Mutter als Chefsekretärin bei der Betriebskrankenkasse der Hermann-Göring-Reichswerke die Freilassung der Brüder aus dem Zwangsarbeiter-Lager erwirken konnte und ihnen so vermutlich das Leben rettete.
Aber wo war der Vater? Die Verwandten sagten, sie wüssten nicht, wo er sei. Bei Kurbjuweit wuchs die Anspannung. „Da war immer das Gefühl: Ich muss es schaffen, ihn noch zu treffen.“ Er hatte diesen Film Kopf, wie es sein würde, wenn er die Adresse bekomme. Wie er den Computer anschalten, den Ort suchen, schauen würde, ob er einen Flug- oder ein Bahnticket besorgen müsste.
Am 24. Dezember 2000 klingelte gegen elf Uhr das Telefon. Es war Onkel Takis. „Hast du was zum Schreiben?“ Die Adresse war aufgetaucht. Seine Frau riet, doch vorher anzurufen. „Ich fuhr aber einfach los, so wie in meinem Film“, sagt Kurbjuweit. Am Abend hielt er vor einem Haus in Kandern nahe der schweizerischen Grenze. Wenige Minuten später stand er vor einem alten Mann, der gerade Kamillendampf inhalierte: „Ich bin Jack-Peter, dein Sohn“. Er nahm ihn in den Arm.
Pietro Dolcetti lauschte anfangs leicht verunsichert. Dann fragte er nach Kurbjuweits Mutter, berichtete aus seinem turbulenten Leben. „Als ich am nächsten Morgen wieder nach Hameln fuhr, trug er mir auf, vorsichtig zu fahren.“
Der Vater war schon vom Krebs gezeichnet. Zwei Jahre hatten sie noch. Was bleibt, sagt er, sei die Familie in Griechenland. Und das Glück, mit ihrer Geschichte so viel über die eigenen Wurzeln erfahren zu haben. Jetzt weiß er, wohin er gehört.
Jack-Peter Kurbjuweit: Das ist doch gar nicht dein Vater! (BoD)
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Jonas Feldmann ist ein erfahrener Journalist mit Schwerpunkt auf Wirtschafts– und Finanzthemen. Seine Analysen und Hintergrundberichte bieten tiefgehende Einblicke in die deutsche und internationale Wirtschaft.