Putin richtig verstehen
Die Ziele von Russlands Eroberungskrieg: Großraum Osteuropa, eurasische Bündnis gegen die USA
Der Überfall auf die Ukraine war nicht für alle ein Horror, manche sehnten ihn regelrecht herbei. „Amerika ist auf dem Rückzug, wir müssen angreifen!“ Auf der russischen Website Katehon wurde schon im vergangenen Herbst gefordert, die „Schwäche“ der USA als „historische Chance“ zu sehen. Es sei an der Zeit, nach dem Fall des sowjetischen Imperiums „in die Geschichte zurückzukehren“ und Führungsansprüche auf dem eurasischen Kontinent geltend zu machen.
Die Zeilen sind dem Schlusskapitel von Alexander Dugins „Das große Erwachen gegen den Great Reset“ entnommen. Das Buch des im Westen wohl bekanntesten russischen Ultranationalisten ist hierzulande bei einem Kleinverlag der extremen Rechten erschienen.
Das Portal Katehon, auf dem der Auszug veröffentlicht wurde, gehört zum gleichnamigen Thinktank von Konstantin Malofejew, einem milliardenschweren Investmentbanker, Monarchisten und Anhänger des russisch-orthodoxen Christentums.
Malofejew gilt als kremlnah und räumt dem Politmystiker Dugin reichlich Platz ein. Beide eint der Glaube an eine weltgeschichtliche Mission Russlands, die Wiedergeburt des russischen Imperiums und Putin als das gottgewollte Werkzeug dazu. Die Rolle passt zum Blog-Titel, der Katechon ist eine theologische Figur, die das Chaos des Antichristen aufhalten soll.
Dugin wird gerade häufig als „geistiger Brandstifter“ und „Chefideologe“ dieses Kriegs bezeichnet, dabei ist umstritten, inwiefern sein nationalreligiöses Programm in der Staatsführung tatsächlich Gehör findet. Zu sehr von dieser Mischung scheint sich das Denken dort aber nicht zu unterscheiden, das Russlands Führung zum Angriff trieb.
Putin zeichnet in seinen Reden schon lange ein Bild vom Westen als Hort von Dekadenz, Verweichlichung und des – Ironie der Geschichte – Bolschewismus. Er hat in seiner Regierungszeit die demokratische Fassade Russlands eingerissen und die drei Säulen des imperialen Altkonservatismus wiedererrichtet: Autokratie, Orthodoxie und Patriotismus. Im Februar bewies er, dass er auch zum letzten von Dugin geforderten Schritt bereit war, gen Westen Krieg zu führen.
Russlands ‚existenzieller‘ Krieg
Der prominente Kremlstratege Sergej Karaganow sagte dem britischen New Statesman, dass der Krieg von Russlands Führungsschicht als „existenziell“ begriffen werde. Dmitri Medwedew, Vorsitzender der nationalkonservativen Regierungspartei Einiges Russland, verglich die Ukraine mit Nazi-Deutschland und forderte ihre Zerschlagung. Dann wäre „ein offenes Eurasien von Lissabon bis Wladiwostok“ möglich. Die Idee spukt also nicht nur durch Dugins Kopf.
Russland müsse als Ordnungsmacht seine schützende Hand über Osteuropa halten, heißt es bei Katehon. Alternativ drohe das Chaos. Gleich zu Kriegsbeginn wurde dort diskutiert, was nach dem Sieg mit dem Territorium der Ukraine geschehen solle. Russen und Ukrainer, das sagt auch Putin, seien „ein Volk“, die Ukraine nur ein „Staatsprojekt“. Angesichts von historischen Gebietsansprüchen durch Ungarn, Rumänien und Polen sei es die Aufgabe Russlands, für Stabilität sorgen.
Zur Überlebensfrage für Russland wird der Krieg vor allem, wenn man ihn nach dem Muster der Heartland-Theorie liest, die der britische Geograf Halford Mackinder zur Zeit des Ersten Weltkriegs entwickelt hat: Es bestehe ein ewiger geopolitischer Konflikt um den eurasischen Kontinent, den Schlüssel zur Weltmacht. Freunde wie Gegner Putins beten zudem die Behauptung des US-Geostrategen Zbigniew Brzezińskis nach, Russland könne ohne die Ukraine kein Imperium sein. Ein Einflussverlust dort sei daher für Moskau nicht akzeptabel.
Eurasien und die deutsche Rechte
Das Echo solcher Stimmen hallt im Westen wider, wo Russland antieuropäische Strömungen hofiert hat. Die Propaganda erwies sich als gute Investition, in den Reihen von neuer und alter Rechter, Querdenkern und Neostalinisten stifteten Sender wie RT schon in der Pandemie Verwirrung. Bei der AfD stieg mit Dmitri Kisoudis kurz nach Kriegsbeginn ein Verfechter von Dugins „Eurasien“-Idee zum Grundsatzreferenten von AfD-Chef Tino Chrupalla auf.
In der in diesen Kreisen gelesenen deutschen Rechtspostille Tumult behauptete Thomas Flichy de La Neuville, französischer Professor für Geopolitik, Amerikas „konstante Politik“ bestehe darin, „die geopolitische Verbindung zwischen der deutschen Industrie und den gigantischen Energiereserven Russlands mit allen Mitteln zu unterbinden“. Und so drehen sich die entsprechenden Szenarien um eine Ostorientierung Berlins oder die Wendung der Ukraine nach Westen.
Inwieweit das angesichts der Verbindung Russlands mit der globalen Werkbank China noch relevant sein soll, bleibt unklar. Großraumspekulationen, die meist im europäischen Hochimperialismus wurzeln, werden selten hinterfragt.
Für Tumult schrieb auch zu Kriegsbeginn der russische Ernst-Jünger-Spezialist Alexander Michailowski: „Das ist der Ernstfall, um es mit Carl Schmitt zu sagen.“ Er erwarte einen schnellen Sieg Russlands und ein „Tribunal ähnlich dem in Den Haag“ gegen die Ukraine. Das werde „zu einer moralischen Rechtfertigung des Einmarsches führen“. Der Name Schmitt fällt nicht zufällig.
Der deutsche Staatsrechtler ist eine gängige Quelle zur Rechtfertigung von Diktaturen und Großraumdenken, er wird von der Neuen Rechten weltweit verehrt, seine Theorie kann als Blaupause für das Handeln des Kreml gelten. Sie systematisiert einen Gegensatz zwischen „Land und Meer“, der heute mit der eurasischen Kontinentalmacht Russland und den transatlantischen USA identifiziert wird. Verfechter eines deutsch-russischen Kontinentalbündnisses nehmen das Schema heute dankbar auf.
In seiner Zeit bemühte sich Schmitt um die theoretische Unterfütterung der imperialen Expansion des Deutschen Reichs im Zweiten Weltkrieg. Er forderte die Aufteilung der Welt nach Einflusssphären mit „Interventionsverbot für raumfremde Mächte“. Aus dieser Sicht hat Russland heute alles Recht, die Ukraine zu disziplinieren. Nach Notwehr sieht das kaum aus, eher nach klassisch imperialer Politik.
Das Recht zum Krieg vs. Völkerrecht
Die Zeitschrift Parlament zitiert den Militäranalysten Alexander Chramtschichin aus Moskau, wonach er die russische Führung die Nato nie wirklich für einen Aggressor gehalten habe. Sein Kollege Karaganow bezeichnet Artikel 5 des Nato-Vertrags, der Mitgliedern militärischen Beistand zusagt, als „wertlos“. Die USA würden ohnehin nie einen Krieg riskieren, um Europa zu retten. Karaganow hielt nicht mal die Fassade der eigenen Propaganda aufrecht. Ob er den ukrainischen Präsidenten Selensky für einen „Nazi“ halte? „Natürlich nicht.“ Es gehe schlicht um russische Interessen. Seine Beschreibung Russlands in einem Wort: „Souveränität“.
Da Russlands Führung also selbst nicht an die Bedrohung durch Nazis und Nato glaubte, liegt es nahe, dass sie ihr Interventionsrecht wahren will. Das Land pocht auf sein ius ad bellum, das Recht zum Krieg, als Ausweis staatlicher Souveränität und territorialer Hegemonie. Dem steht aber die Ächtung des Angriffskriegs im Wege, an dem sich schon Schmitt störte.
Dieser „diskriminierende Kriegsbegriff“, beklagte er, sei eine Schikane souveräner Staaten durch die souveränitätsfeindliche Demokratie. Als Schlupfloch für einen Krieg bleibe, den Gegner zum Menschheitsfeind zu erklären. Damit hat sich die Weltgemeinschaft die Möglichkeit offengehalten, als Ultima Ratio die Waffen auf Despoten zu richten.
Schmitt merkte an, dass diese Logik zu einem „diskriminierenden Feindbegriff“ führe, da jenseits der Dämonisierung keine militärische Option möglich sei. Historisch ist das zweifelhaft, schließlich skizzierten gerade Despotien ihre Feinde als das absolut Böse. Doch geht es bei Schmitt nicht um historische Präzision, sondern um die Demontage des humanitären Völkerrechts.
Russlands vergiftetes Angebot
In der Konsequenz spiegelt Russland nun die westliche Menschenrechtsrhetorik der Vergangenheit. Kurz vor dem Überfall erkannte Moskau die abgespaltenen Gebiete in der Ostukraine an, was man als Retourkutsche auf ähnliche Schritte des Westens im jugoslawischen Bürgerkrieg sehen kann. Die Angriffsbegründung der „Denazifizierung und Entmilitarisierung“ der Ukraine, die Rede vom drohenden „Völkermord“ an Russen und die Gerüchte um Biolabore und Chemiewaffen im Land waren Anleihen an die letzten international halbwegs akzeptierten Kriegsgründe.
Der Schlag gegen den Sendeturm in Kiew zu Kriegsbeginn wirkt wie ein Zitat von 1999, als die Nato den Fernsehturm in Belgrad zerstörte. Allerdings trafen russische Raketen dabei auch die nahegelegene Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar, was die Propaganda-Farce des Kreml unterstrich. Die jüngsten Bilder ermordeter Zivilisten zeigen zudem, dass die Phrase von der „Denazifizierung“ die Schleusen für Kriegsverbrechen weit geöffnet hat.
Letztlich hat Russland Schmitts zynische Kritik am Völkerrecht überboten, um seinen hegemonialen Anspruch im Großraum Osteuropa zu untermauern. Das Friedensangebot Moskaus vor allem an die deutsche und (anti-)europäische Rechte ist das eurasische Bündnis gegen die USA.
Die Staaten zwischen den imaginierten Machtzentren werden nicht gefragt, ob sie denn die ihnen zugedachte Satellitenrolle spielen wollen. Die Ukraine will es nicht.
Der Historiker Volker Weiß publizierte 2017 das Buch „Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes“ bei Klett-Cotta. 2021 war er Gastprofessor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck.
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 9.4.2022 / Alle Rechte vorbehalten: Süddeutsche Zeitung GmbH, München