Das ABC des russischen Faschismus
Putins Faschismus treibt den faschistischen Triumph des Willens über die Vernunft auf die Spitze
Wie kann Wladimir Putin eine offensichtlich faschistische Politik betreiben, wie einen völkermörderischen Vernichtungskrieg in der Ukraine führen, und gleichzeitig den Nimbus des „Antifaschismus“ für sich beanspruchen?
Wie man bei seiner Rede zum „Tag des Sieges“ am 9. Mai erneut gesehen hat, setzt Putin den Einmarsch Russlands in die Ukraine mit dem sowjetischen Sieg über Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg gleich. Die Vergangenheit wird für den Aggressor zu einem Mittel, sich als Opfer zu fühlen und für sich das Recht in Anspruch zu nehmen, jedes Verbrechen zu begehen. Wie kann das funktionieren?
Wiederholt habe ich zu erklären versucht, wie Putins Interpretation des sowjetischen Erbes zum Faschismus tendiert und wie er daher – zumindest für sich selbst – den Einmarsch in die Ukraine mit dem Hinweis auf den Zweiten Weltkrieg rechtfertigt. Putins Feier der vermeintlichen Unschuld Russlands bietet Anlass für eine Zusammenfassung dieser Argumente.
1. Im sowjetischen Sprachgebrauch fehlte eine klare Vorstellung davon, was Faschismus ist. In den dreißiger Jahren schwankte der Stalinismus hin und her in der Frage, ob Faschismus etwas Schlechtes sei oder nicht. Infolgedessen hatte der Faschismus im sowjetischen Sprachgebrauch nie einen ganz klaren Inhalt. Besonders deutlich wurde dies nach 1939, als sowjetische Zeitungen Reden von Nazigrößen druckten. Im Jahr 1939 schloss Stalin ein De-facto-Bündnis mit Hitler, was bedeutete, dass der Faschismus in der offiziellen sowjetischen Öffentlichkeit lobenswert wurde.
Dieser Akt der Kollaboration war der wichtigste des Zweiten Weltkriegs, denn er erst ermöglichte dessen Beginn. (Heute ist es in Russland strafbar, darüber zu sprechen.) 1941 überfiel Nazideutschland die Sowjetunion, und damit wurde der Faschismus zum Feind der Sowjetunion. Das Hauptproblem des Faschismus aber war für die Sowjets die Invasion selbst. Der Faschismus wurde nie wirklich klar definiert. Er war einfach das Glaubensbekenntnis eines Außenseiters.
2. Ein weiteres Problem ist die sowjetische Tradition, Russland als unschuldig und die Ukrainer als schuldig zu betrachten. Stalin, dessen Akt der Kollaboration mit Hitler der bei weitem wichtigste Akt des Kriegs war, beanspruchte für sich selbst das Recht, Kollaboration zu definieren. Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurden ganze sowjetische nationale Minderheiten – wie die Krimtataren – als Kollaborateure deportiert und die Ukrainer stigmatisiert.
Stalin behandelte die Russen als die Hauptsieger. Tatsächlich blieb der größte Teil des Territoriums der Russischen Republik der UdSSR vom Krieg verschont, und als westliche Gebiete besetzt wurden, waren die Russen nicht weniger geneigt, mit den Nazis zu kollaborieren, als alle anderen. Aber Stalin und sein damaliger Günstling Schdanow wollten die Russen als die moralisch dominierende Nation darstellen. Andere Nationen konnten bei Bedarf als „faschistisch“ stigmatisiert werden.
Faschist bedeutet einfach Feind
3. Unter Stalin und seinen Nachfolgern wurde das Wort „Faschismus“ jahrzehntelang nach außen sehr flexibel verwendet. Nach dem Zweiten Weltkrieg war ein „Faschist“ jemand, der in die Sowjetunion einmarschiert war, die Sowjetunion bedrohte oder sonst etwas tat, was der sowjetischen Führung nicht gefiel. Im Lauf der Zeit wurde dieser Begriff immer vager. Im Kalten Krieg konnten die Amerikaner und die Briten den Deutschen der Kriegsjahre als „Faschisten“ gleichgesetzt werden. Mit der Zeit auch die Israeli. „Faschist“ bedeutete einfach „Feind“.
4. In den siebziger Jahren wurde das sowjetische Leiden unter der deutschen Besatzung zu einem politischen Mittel, um den Status quo zu legitimieren. Unter dem Sowjetführer Leonid Breschnew, etwa eine Generation nach Kriegsende, schuf man um den Sieg einen Kult, mit Paraden am 9. Mai. Breschnew bot den Sowjetbürgern eher Nostalgie als eine Zukunftsvision. Der „Faschist“ wurde zum allgemeinen Feind ohne feste Identität. Wer das sowjetische Erbe infrage stellt, ist der „Faschist“.
5. Diese sowjetische Nostalgie war Ideologie in dem negativen Sinne, den Marx meinte, als er das Wort verwendete. Echte Marxisten hätten sich daran erinnert, dass der sowjetische Triumph des Jahres 1945 nur dank der amerikanischen Wirtschaftsmacht zustande gekommen war, in Form etwa von geliehenem Rüstungsgut. Aber die Sowjetführung zog es vor, dies zu vergessen. In den russischen Geschichtsbüchern wird es bis heute nicht erwähnt, und in Russland spricht so gut wie keiner darüber.
Der Unterschied zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem russischen Einmarsch in die Ukraine wird hier besonders augenfällig: Die US-Wirtschaftsmacht positionierte sich von 1942 bis 1945 sehr stark auf der Seite der Sowjetunion, aber heute ergreift sie (wenn auch in geringerem Umfang) gegen einen postsowjetischen Staat (Russland) und für einen anderen postsowjetischen Staat (Ukraine) Partei. Die russische Ideologie konzentriert sich heute ganz auf den Willen der Russen als Quelle des sowjetischen Sieges von 1945 und nicht auf solche strukturellen Faktoren. Der nationale Wille ist denn auch die zentrale Kategorie des Faschismus.
6. Dieses sowjetische Erbe ist die Basis, auf der sich die heutige russische Führung bewegt. Putin ist geprägt von bestimmten Vorstellungen aus den siebziger Jahren, als er ein junger Mann war: Russland ist immer der Sieger; der Feind waren immer die Faschisten; die Macht soll durch eine Nostalgie der Vorherrschaft und der Unschuld legitimiert werden.
Einmal an der Macht, hat Putin sich diese Ideen für Russland zu eigen gemacht und auf die Spitze getrieben. Dass es die UdSSR (und nicht Russland) war, die den Krieg gewonnen hat, wird vergessen. Dass Hitlers maßgebliches Kriegsziel die Kolonisierung der Ukraine war, ist unsagbar. Dass der Krieg weitgehend für die Ukraine und in ihr geführt wurde, bleibt unerwähnt. Dass die ukrainische Zivilbevölkerung mehr zu leiden hatte als die russische oder dass ukrainische Soldaten an der Seite der russischen kämpften, wird unvorstellbar.
Dies erinnert an einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der gegenwärtigen russischen Invasion: Ukrainer und Russen stehen nicht auf derselben Seite. Interessanterweise hat die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in der Ukraine selbst nicht die gleiche Wendung genommen wie in Russland. Der Krieg ist nach wie vor ein Prüfstein der Erinnerung, aber er ist nicht mit einem Führerkult oder einem Totenkult verbunden. Im politischen Denken der Ukraine geht es um die Zukunft und weniger um die Vergangenheit.
Die Anbetung der militärischen Macht
7. Im spätsowjetischen Siegeskult lag das Potenzial für eine faschistische Interpretation. Obwohl die Siegesnostalgie und die Anbetung der militärischen Macht ihren Ursprung in der Sowjetunion hatten, konnten solche Ideen sehr leicht von der extremen politischen Rechten aufgegriffen werden, wie es in Putins Russland der Fall war.
Die Vorstellung von Politik als militärischem Sieg kann faschistisch sein (man denke an „Sieg Heil“) – der Glaube aber, dass Politik mit der Wahl eines Feindes beginnt, ist mit Sicherheit faschistisch (was durch den Nazi-Vordenker Carl Schmitt ebenso belegt wird wie durch Putins faschistischen Lehrer Iwan Iljin). Die Vorstellung von einem goldenen Zeitalter der Unschuld, das durch heilende Gewalt wiederhergestellt werden soll, steht ganz in faschistischer Tradition. Im heutigen Russland spiegelt das Jahr 1945 einen solchen Moment. Blut muss vergossen werden im Namen einer Art Zeitreise zurück ins stalinistische Eden, als Russland unschuldig und die Welt noch in Ordnung war.
8. All dies bedeutet, dass der russische Faschismus behaupten wird, antifaschistisch zu sein. Russland aber kann ein faschistisches Regime sein, auch wenn sein Führer davon spricht, gegen „Faschismus“ oder „Nazismus“ zu sein. Die tiefe Selbstverliebtheit und die groteske Widersprüchlichkeit von Putins Position bestätigen in der Tat, dass das, was wir vor uns haben, russischer Faschismus ist. Faschisten feiern den nationalen Eigensinn und widersetzen sich der Logik. Wie Iljin es ausdrückte, „ist der Faschismus ein erlösender Exzess patriotischer Willkür“. Willkür ist das wesentliche Element von Russlands Krieg gegen die Ukraine.
Ein Faschist, der jemand anderen als Faschisten bezeichnet, ist nicht deswegen weniger Faschist, weil er das tut. Er ist umso mehr ein Faschist. Er treibt den faschistischen Triumph des Willens über die Vernunft auf die Spitze.
9. Der automatisch selbstentlastende Charakter der Begriffe „Faschismus“ und „Nazismus“ ermöglicht Angriffskriege sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Unter Putin bedeutet das Wort „Faschist“ (oder „Nazi“) einfach „mein auserwählter Feind, der eliminiert werden muss“.
Diese Begriffe sind im herrschenden russischen Sprachgebrauch Teil einer Hassrede, die Kriegsverbrechen ermöglicht. Wir wissen dies aus den Äußerungen russischer Soldaten in der Ukraine, welche damit die Ermordung und Vergewaltigung von Zivilisten legitimieren. Wie der Kreml klargemacht hat, bedeutet „Entnazifizierung“ „De-Ukrainisierung“, was nichts anderes ist als das Streben nach Völkermord.
Die russische Propaganda zu „1945“ und „2022“ wird in dem beliebten Slogan zusammengefasst: „Wir können das wiederholen!“ Aber die Geschichte wiederholt sich natürlich nicht. Und wir können sie auch nicht zwingen, dies zu tun. Die ganze Idee der Wiederholung besteht darin, einen bestimmten Punkt in der Vergangenheit zu wählen, ihn zu idealisieren, den gesamten Kontext und alles, was danach kam, zu ignorieren und sich dann einzubilden, dass man ihn neu zum Leben erwecken kann.
Wer diese Übung durchzieht, eliminiert jegliches Verantwortungsgefühl: Wir hatten damals recht, also haben wir auch heute recht, und wir werden immer recht haben – egal, was wir tun. Und so wird aus dem „erlösenden Exzess“ des Faschismus „patriotische Beliebigkeit“.
Timothy Snyder ist amerikanischer Historiker und Professor an der Yale University mit den Schwerpunkten Osteuropa und Holocaust-Forschung. 2010 veröffentlichte er mit „Bloodlands“ eine Darstellung zur nationalsozialistischen und stalinistischen Vernichtungspolitik. Dieser Text wurde zuerst auf Snyders Webseite veröffentlicht, dann in der Übersetzung von Andreas Breitenstein in der Neuen Zürcher Zeitung. © Neue Zürcher Zeitung