Attentat auf den Zaren
Am 13. März 1881 starb der Zar-Befreier Alexander II. nach einer Bombenexplosion
Der Zar hatte scheinbar Glück gehabt. Die Bombe, die der Attentäter unter die kaiserliche Kutsche geworfen hatte, hatte diese mit ihrer Explosion zwar umgeworfen und mehrere Menschen verwundet oder getötet. Alexander II. aber entstieg der gepanzerten Droschke unverletzt.
Er konnte den sofort festgenommenen, zwanzigjährigen Bombenwerfer sogar noch nach seinem Namen fragen. Daraufhin ging er zurück zur Kutsche, betrachtete das Zerstörungswerk und drückte seine Erleichterung aus, unverletzt geblieben zu sein.
Da rief ihm ein weiterer, am Rand der Szene stehender Attentäter zu, es sei „noch zu früh, Gott zu danken“, und warf aus nächster Nähe eine zweite Bombe auf den Zaren. Sowohl der 63-jährige „Zar-Befreier“ als auch sein vierundzwanzigjähriger Mörder wurden von der mächtigen Detonation tödlich verletzt.
Das Attentat am 13. März 1881 (1. März nach dem damals geltenden julianischen Kalender) hatte die terroristische Gruppe „Narodnaja Wolja“ („Volkswille“, auch „Volksfreiheit“) akribisch und von langer Hand vorbereitet. Sogar ein dritter Bombenwerfer war vor Ort, damit der Autokrat seinen Häschern auf keinen Fall lebend entkommen solle.
Lange Liste von Attentaten auf den Zar
Der russische Kaiser hatte zuvor eine ganze Reihe von Anschlägen überlebt. Das erste Mal entkam er schon 1866 dem Tod, als ein neben dem Attentäter – dem 25-jährigen adeligen und früheren Studenten Dmitri Karakosow – stehender Bauer diesen mit einem kräftigen Stoß beim Abfeuern der Waffe störte. Der überwältigte Täter fluchte, dass er doch „euretwegen,“ für die Bauern, auf den Zaren geschossen habe.
Kurz darauf stellte Alexander II. den Mann zur Rede. „Du hast das Volk betrogen,“ entgegnete Karakosow, „hast ihm Land versprochen und doch nicht gegeben!“. Karakosow wurde hingerichtet.
Doch seine Tat machte Schule. Sein Mordanschlag war gescheitert; es war aber das erste Mal, dass ein einfacher Russe versucht hatte, den Zaren „zum Wohle des Volkes“ zu töten.
Frühere Mordanschläge auf das Leben russischer Monarchen waren zumeist das Werk von Intrigen und Verschwörungen am Zarenhof selbst gewesen. So war es zuletzt Kaiser Paul I. ergangen, der 1801 eines gewaltsamen Todes starb.
Die nächste Kugel verfehlte Alexander II. am 25. Mai 1867 in Paris. Der polnische Emigrant Anton Beresowski wollte ihn aus Rache für die russische Niederschlagung des polnischen Aufstands 1863 – 64 töten, der in die französische Hauptstadt gereist war, um die dortige Weltausstellung zu besuchen.
In den folgenden Jahren beruhigte sich die Lage wieder und über ein Jahrzehnt gab es keine weiteren Mordanschläge auf den russischen Kaiser. Doch tatsächlich braute sich Unheil zusammen. 1879 versuchten gleich zwei Attentäter, Alexander II. umzubringen. Alexander Solowjow war ein Einzeltäter, doch die Inspiration für sein gescheitertes Pistolenattentat vom April 1879 holte er sich aus einer Bewegung, die sich über das vergangene Jahrzehnt gebildet hatte – die „Narodnitschestwo“: Eine populistische und sozialrevolutionäre Strömung, die das Landvolk idealisierte und die Bauern durch Agitation zu einer agrarsozialistischen, auf der alten Dorfkommune beruhenden Revolution aufstacheln wollte.
Ein Flügel dieser Bewegung hatte sich zunehmend dem Terrorismus verschrieben. Sie glaubten, dass nur die Ermordung des Autokraten selbst die Revolution ermöglichen werde.
Noch bevor das Jahr vorbei war, führte die terroristische Gruppe „Narodnaja Wolja“ ein neues Attentat auf den Kaiser aus. Ein Zufall sorgte dafür, dass Alexander II. sich nicht in dem Zug befand, in dem die Bombe am 1. Dezember explodierte.
Es dauerte keine drei Monate, bis der Zar am 17. Februar 1880 erneut zum Ziel der Narodniki-Terroristen wurde. Im Winterpalast explodierte eine Bombe und tötete elf Menschen. Der Zar war nicht unter ihnen.
Bereits fünf Mal war er nun den Meuchlern entkommen. Ein sechster Anschlag auf sein Leben sollte im August 1880 stattfinden; doch explodierte die Bombe im entscheidenden Moment nicht. Am 13. März 1881 aber fehlte Alexander II. das Glück, das ihn bislang immer gerettet hatte.
Woher der Hass gegen den „Zar-Befreier“?
Woher kam dieser Hass auf den Zaren, der doch schon zu Lebzeiten als „Zar-Befreier“ tituliert wurde und die „Großen Reformen“ – die bedeutendsten seit Peter dem Großen – ins Werk gesetzt hatte? Die Antwort auf diese Frage verweist auf die Dilemmata, denen sich die zarische Autokratie gegenübersah, als sie ihr Land durch Liberalisierung und den Umbau alter Strukturen „von oben“ zu modernisieren suchte.
Die Bauernbefreiung (1861), die Reform der ländlichen (1864) und städtischen (1870) Verwaltung, eine Justizreform (ab 1864) sowie eine Umstrukturierung des Militärs mit einer allgemeinen Wehrpflicht (1874), und schließlich eine Bildungsreform (1863/64) – damit wollte Alexander II. Russland, auch gegen große innere Widerstände, nach westeuropäischem Vorbild umgestalten, leistungsfähiger machen und für die Herausforderungen der Zukunft besser wappnen. Das autokratische System allerdings sollte dabei gestärkt, nicht zur Disposition gestellt werden.
Doch vielen Adeligen ging Alexanders Reformeifer zu weit, auch wenn der Zar ihre Interessen bei allen Maßnahmen zu berücksichtigen suchte. Die Bauern wurden zwar von der Leibeigenschaft befreit, waren aber mit ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit unzufrieden, die ihrer neuen Freiheit bloß theoretischen Charakter zu geben schien. Die mit der Intensivierung der Herrschaft, dem zunehmenden Nationalismus und der Russifizierung des Vielvölkerreichs einhergehenden Einschränkungen früherer Rechte sorgten für zunehmende Spannungen in der nichtrussischen Peripherie. Die Ausweitung von Universitäten und Schulen schuf eine neue Bildungsschicht, der die autokratische Regierungsform unerträglich erschien.
Radikale Revolution, nicht halbherzige Reform, schien einigen zunehmend als die einzig richtige Lösung. Die staatlichen Repressionen gegen terroristische Bestrebungen verstärkten den „nihilistischen“ Radikalismus nur. Ausgerechnete der liberalste Kaiser sah sich so größten Anfeindungen ausgesetzt.
Das endlich gelungene Attentat auf den aufgeklärten Autokraten brachte nicht die Revolution, von der die Theoretiker des Terrorismus geträumt hatten. Im Gegenteil. Viele Bauern bedauerten den Tod ihres Befreiers, allen Klagen über ihre Lage zum Trotz.
Denn der neue Herrscher, Alexander III., schlug einen scharf reaktionären Kurs ein. Von seinem Vater noch geplante, weitere Reformschritte wurden abgesagt. Viele der reformierten Institutionen wurden konservativer und restriktiver ausgerichtet. Die nationalistische Russifizierung des Reichs wurde intensiviert. Den Reformen sollte ihr Stachel gezogen, die autokratische Herrschaft mit neuer Autorität versehen werden.
Aus Sicht der Attentäter musste der Mordanschlag auf Alexander II. – obschon erfolgreich – als grandioser Fehlschlag gewertet werden. Der Terrorismus und „Tyrannenmord“ als politische Mittel war für viele Revolutionäre damit diskreditiert.
Nichtsdestoweniger wurde am 14. März 1926, zum 45. Jahrestag der Ermordung Alexanders II., von der revolutionären Sowjetregierung acht überlebenden Männern und Frauen, die an der Vorbereitung des Attentats auf Alexander II. beteiligt gewesen waren, lebenslange Pensionen zugesprochen: Der Zarenmord als retrospektive Heldentat. Die Furcht vor der Verschwörung aber geisterte gerade in den Köpfen dieser neuen, revolutionären Machthaber weiter. Obschon ihr Umgang mit Gegnern – realen und imaginierten – unvergleichlich erbarmungsloser war als noch in der Zarenzeit, schien die Furcht vor dem Tyrannenmord gerade in der frühen Sowjetzeit eine Obsession der Revolutionäre zu sein.
Reform, Reaktion und Revolution – dieses Dreigestirn markiert die Wege zum und vom 13. März 1881. Und wie ein Blick auf die russische Geschichte nahelegt, hat sich diese Konstellation vielleicht bis heute nicht erledigt.
Verschwörungsdenken und Machtkalkül
Herrschaft in Russland, 1866-1953
Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Band 53
Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doehring-Manteuffel und Lutz Raphael