Ein bisschen Frieden
Mit dem Frieden von Riga endete der Versuch, die Revolution auf Bajonetten nach Europa zu exportieren
Einer der bedeutendsten Friedensverträge der Zwischenkriegszeit ist hierzulande weithin unbekannt: der Friede von Riga. Nach langwierigen Verhandlungen, die schon im September 1920 begonnen hatten, fand der polnisch-sowjetische Krieg am 18. März 1921 seinen Abschluss.
Zugleich war es die erste völkerrechtliche Festlegung der sowjetisch-polnischen Grenze. In den Pariser Vorortverträgen von 1919 – 1920 war dieser Grenzverlauf nicht geregelt worden, da Sowjetrussland an ihnen nicht teilnahm.
Der polnisch-sowjetische Krieg verlief wechselvoll und blutig. Die ersten Gefechte zwischen Truppen der Bolschewiki und denen Polens, das erst Ende 1918 die Unabhängigkeit wiedergewonnenen hatte, ereigneten sich schon 1919, kurz nach dem Rückzug der deutschen Besatzungstruppen, um die Kontrolle des litauischen Vilnius. Ein großer Krieg wurde daraus aber erst im April 1920, als der polnische Staatschef Józef Piłsudski und Symon Petljura, Präsident der kurzlebigen Ukrainischen Volksrepublik, eine große Offensive begannen und kurz darauf Kiew besetzten.
Das Wunder an der Weichsel
Von Juni an lief jedoch ein großer sowjetischer Gegenangriff an, der die Rote Armee bis vor die Tore Warschaus und kurz vor den Sieg führte. In einer großen Schlacht – dem "Wunder an der Weichsel" – konnten polnische Truppen Mitte August 1920 den sowjetischen Vormarsch unerwartet doch noch stoppen.
Mehr noch: Sie gingen zum Gegenangriff über. Im September siegten sie in einer Schlacht an der Memel im September, rückten weiter nach Osten vor und waren im Oktober bereits in Minsk.
Zu diesem Zeitpunkt – seit Ende September – liefen in der lettischen Hauptstadt bereits Gespräche über einen Waffenstillstand, die am 12. Oktober 1920 zu einem Vorfrieden führten und nach langwierigen weiteren Verhandlungen am 18. März 1921 im Rigaer Friedensvertrag und in der Aufnahme diplomatischer Beziehungen kulminierten. Da die Sowjetunion noch nicht gegründet war, wurde der Vertrag zwischen drei Parteien abgeschlossen: neben der Republik Polen und der Russischen Sowjetrepublik zeichnete ihn auch die Ukrainische Sowjetrepublik.
Dämpfer für bolschewistische Westausdehnung
Der Vertrag schob die polnische Westgrenze weit nach Osten: Die westlichen Gebiete der Ukraine und Weißrusslands fielen unter polnische Kontrolle. Noch im Sommer des Vorjahrs hatte der britische Außenminister George Curzon auf polnisches Ersuchen eine primär an Sprachgrenzen orientierte Grenzlinie vorgeschlagen – später Curzon-Linie genannt. Diese deutlich weiter westlich liegende Linie war den Bolschewiki, die sich schon siegreich wähnten, damals aber nicht genehm gewesen.
Aus sowjetischer Sicht verbanden sich mit dem Vormarsch nach Westen im Sommer 1920 große Hoffnungen, die Revolution weiter nach Europa tragen zu können – eine Perspektive, von der nach damaliger Einschätzung Überleben und Erfolg der sozialistischen Revolution abhingen. Diese Hoffnungen erhielten mit dem Ausgang des polnisch-sowjetischen Kriegs einen herben Dämpfer.
Dämpfer für Piłsudskis Rzeczpospolita
Für den neuen polnischen Staat hingegen bedeutete der Friede zwar ein gegenüber 1919 erheblich vergrößertes Territorium. Doch den erstrebten historischen Grenzverlauf von 1772, wie er vor der ersten polnischen Teilung galt, gewann die Republik Polen nicht zurück. Und Piłsudskis geopolitischen Träumen von der Wiederherstellung einer neuen polnisch-litauischen Rzeczpospolita, zu denen auch die Ukraine und Weißrussland gehören sollten, hatte der Kriegsausgang ebenfalls ein vorläufiges Ende gesetzt.
Für die sowjetische Führung fiel der Krieg gegen Polen mit dem immer noch nicht gewonnenen Bürgerkrieg zusammen. Den polnischen Angriff nutzte die letzte noch verbliebene Weiße Armee unter General Wrangel, um im Sommer 1920 von der Krim aus nach Norden vorzustoßen.
Nach dem Frieden von Riga konnte Trotzkis Rote Armee sich wieder uneingeschränkt der Weißen Krimarmee zuwenden und vertrieb sie noch im gleichen Jahr. Mit der Flucht der Wrangel-Armee war auch das letzte Kapitel des Bürgerkriegs an sein Ende gekommen. Die Revolution hatte gesiegt.
Doch das bolschewistische Russland lag in Trümmern und die Not der Bevölkerung war groß. Das Proletariat, in dessen Namen die Bolschewiki die Revolution begonnen hatten, war nach langen Kriegsjahren und einem ungebremsten wirtschaftlichen Niedergang aufgerieben. Die Bauern litten unter der Zwangsrequisition ihres Getreides. In den Städten wurde das Elend immer größer. Hunger machte sich breit, und es kam zu verzweifelten Aufständen gegen die Herrschaft der Bolschewiki, vor allem von Bauern; aber auch in den Städten flackerten Proteste und Streiks auf.
Kronstadt: Rebellion gegen die Diktatur
Die letzte Phase der Friedensverhandlungen in Riga wurde dann sogar vom Aufstand der eigenen Leute überschattet. Am 1. März 1921 begann vor Petrograd der Kronstädter Aufstand – eine offene Rebellion der vormals der Revolution treu ergebenen Matrosen gegen die sowjetische Diktatur. Die früheren Vorkämpfer der Revolution forderten, dass die demokratischen Versprechungen der Sowjetherrschaft endlich eingelöst werden müssten. Die Zensur gehöre abgeschafft, geheime Neuwahlen müssten unverzüglich abgehalten, andere Parteien zugelassen werden. Der Sozialismus müsse demokratisch werden.
Die Führer der Bolschewiki, die sich vom 8. bis zum 16. März 1921 zum 10. Parteitag der Kommunistischen Partei trafen, konnten in dem Aufstand auf der Inselfestung aber nur eine Konterrevolution erkennen. Sie schickten das Militär – gerade zurück aus dem Krieg – auf die Protestierenden.
Nachdem ein erster Versuch, den Aufstand niederzuschlagen, kurz vor dem Parteitag am 7. März gescheitert war, begann unmittelbar nach seinem Ende der zweite Sturm auf die Festung – mit 50 000 Rotarmisten und vielen militanten Delegierten, die direkt vom Parteitag in den Kampf gegen die "Konterrevolutionäre" zogen. Die Forderungen nach sowjetischer Demokratie starben im Kugelhagel. Und just als in Riga der Friedensvertrag unterschrieben wurde, brach der Kronstädter Aufstand zusammen.
So kamen Mitte März 1921 gleich drei Ereignisse zusammen, die gemeinsam den Beginn einer neuen Phase in der noch jungen sowjetischen Herrschaft markierten. Der 10. Parteitag verabschiedete mit der Neuen Ökonomischen Politik – auch unter dem Eindruck des zeitgleichen Aufstands in der vermeintlichen Hochburg der Revolution – eine Kurswende: weg vom utopisch-militaristischen Kriegskommunismus, hin zur begrenzten Zulassung von Marktmechanismen und Privateigentum. Zugleich demonstrierte der Kronstädter Aufstand, dass den Bolschewiki selbst unter vormals loyalen Gruppen die Unterstützung wegbrach.
Seine Niederschlagung signalisierte zudem, dass mit der wirtschaftlichen keine politische Liberalisierung einhergehen würde. Die Diktatur war schon 1921 das hervorstechendste Resultat der Revolution. Der Friede von Riga schließlich zeigte das vorläufige Scheitern des Versuchs, die Revolution auf Bajonetten nach Europa zu exportieren. Moskau richtete sich nolens volens auf einen dauerhaften Modus vivendi mit dem Ausland ein; diplomatische Verständigung und handelspolitische Brücken sollten dem inneren Aufbau und der friedlichen Sicherung der Interessen des Sowjetstaats dienen.
Und so ist der 18. März 1921 ein widersprüchliches Datum: für (inneren) Krieg und (äußeren) Frieden, für die brutale Niederschlagung demokratisch inspirierten Protests und für die friedliche und diplomatischen Konventionen folgende Regelung zwischenstaatlicher Angelegenheiten.
Zum Weiterlesen:
Historisch: Jerzy Borzęcki, The Soviet-Polish peace of 1921 and the creation of interwar Europe. New Haven: Yale University Press, 2008.
Literarisch: Isaak Babel, Die Reiterarmee (1926) (https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/die-reiterarmee.html)