EU: Erst mal Hausaufgaben machen
Um attraktiv für Bürger autoritärer Regime zu sein, muss Europa zuhause Ordnung schaffen
US-Präsident Joe Biden hat seine Mission gefunden: den Westen sicher zu machen, indem er dessen freiheitliche Demokratien gegen autoritäre Versuchungen aus dem In- und Ausland stärkt. Angesichts eines Putschversuchs und steil zunehmender sozioökonomischer Ungleichheit im eigenen Land weiß Biden, dass Demokratien keine Unterstützung im Ausland finden werden, solange sie ihre Versprechen von Fairness, Gerechtigkeit und Sicherheit zu Hause nicht erfüllen.
Wenn Europa ein Partner bei diesem Revival der Demokratie sein will, kann es damit anfangen, den Realismus hinter der Rhetorik der US-Regierung zu erkennen. Biden schmachtet nicht nach irgendeiner mythischen verlorenen Ära amerikanische Größe, so wie sein Amtsvorgänger es tat. Er hat die Zukunft im Blick, und es geht ihm um Fragen, die demokratische Liberale und Konservative gleichermaßen umtreiben.
Wie beispielsweise schaffen wir Chancen für diejenigen, die durch den globalen Kapitalismus abgehängt wurden, damit sie nicht den falschen Versprechen der Populisten zum Opfer fallen? Wie stellen wir das Bekenntnis anderer entwickelter demokratischer Länder zu demokratischen Werten wieder her? Wie legen wir den übermächtigen Finanz- und Technologiebranchen Zügel an oder schmieden eine dynamischere Weltordnung?
Warum dem westlichen Vorbild folgen?
Die Vorstellung vom „Westen“ war immer universell gedacht: als normativer Rahmen für eine friedliche, von Wohlstand gekennzeichnete Koexistenz aller Menschen. Menschenrechte, freie Meinungsäußerung, demokratische Selbstbestimmung und Rechtsstaatlichkeit sind nicht auf eine bestimmte Region oder Gruppe von Ländern beschränkt.
Doch wenn Sie ein führender chinesischer Politiker sind, werden Sie sich fragen, warum ihr Land dem „Westen“ folgen sollte – insbesondere jetzt, da die meisten Chinesen der Ansicht sind, dass die vom Westen konzipierte internationale Ordnung ihren eigenen Aspirationen feindselig gegenübersteht. Aus dieser Perspektive ist die europäisch-amerikanische Ära vorbei. Die Anzeichen westlicher Dekadenz sind allgegenwärtig – vom Kriegsdebakel im Irak und der Trump-Präsidentschaft bis hin zum Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union.
China sagt: Es gibt auch soziale Menschenrechte
Während sich Amerikaner und Europäer für die Wichtigkeit individueller Menschenrechte aussprechen, lautet die selbstbewusste chinesische Entgegnung darauf, dass es auch soziale Menschenrechte gibt: Rechte auf Bildung, Ernährung, angemessenen Wohnraum usw. In dieser Hinsicht hat China unbestreitbar Großes geleistet: Es hat während der vergangenen vier Jahrzehnte mehr als 800 Millionen Menschen aus schlimmster Armut befreit.
Die Linien sind also gezogen. Damit Europa einen sinnvollen Beitrag zu Bidens Mission leisten kann, muss es stärker werden. Und weil sich seine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik tendenziell nur sehr langsam entwickelt, muss Europa zudem die Entwicklung des Binnenmarkts vorantreiben, der Europas wichtigste Attraktion und Quelle der Stärke bleiben wird.
Doch kann sich der Binnenmarkt seine Attraktivität nur bewahren, wenn er mehr Dynamik möglich macht. Um eine technologische Führungsrolle zu übernehmen und von China und den USA unabhängiger zu werden, muss Europa mehr in Forschung und Entwicklung, Digitalisierung und künstliche Intelligenz investieren. Es sollte eine gemeinsame Klimapolitik mit den USA verfolgen. Und während sich die G7 kürzlich auf eine „Build Back Better World Partnership“ geeinigt hat, um mit Chinas Seidenstraßeninitiative in Zentralasien, Afrika und Lateinamerika zu konkurrieren, muss die EU mehr tun, um dieses Programm zu unterstützen, und zugleich die Abschreckungsmacht der NATO stärken.
Wie kann Deutschland die EU stärken?
Angesichts der Bundestagswahlen im September sollte Deutschland als größte Volkswirtschaft der EU darüber debattieren, wie es den Block in den kommenden Jahren stärken will. Doch alle wichtigen deutschen Parteien und Politiker schweigen bisher zu diesem Thema, vermutlich weil sie noch immer abwarten, wie sich die Pandemie entwickeln wird. Viele fürchten, dass die reicheren nördlichen Mitgliedstaaten ihre Stärke rasch zurückgewinnen werden, während andere – namentlich Italien und Frankreich – weiter zurückfallen werden.
Der EU-Wiederaufbaufonds im Volumen von 750 Milliarden Euro wird nicht ausreichen, um auch nur annähernd eine Konvergenz zwischen den südlichen und nördlichen Mitgliedstaaten herbeizuführen; tatsächlich wird er nicht einmal reichen, um zu verhindern, dass sie noch weiter auseinanderdriften. Da die ärmeren Mitgliedstaaten der EU schon jetzt überschuldet sind, können sie – insbesondere falls die Zinsen steigen – kaum noch Kredite aufnehmen. Wann immer die Inflation wieder zu steigen beginnt, wird die stillschweigende Politik der Europäischen Zentralbank, die Schulden der Mitgliedstaaten (durch unbegrenzten Ankauf der Staatsanleihen anderer Länder) zu monetisieren, enden müssen.
Die Reichen müssen den Ärmeren helfen
Unter diesen Umständen bliebe als einziger Ausweg eine „Transferunion“, bei der die reicheren Länder wie Deutschland ihre Finanzinvestitionen in ärmeren Mitgliedstaaten ausweiten. Höhere Investitionen in Infrastruktur, Digitalisierung und Forschung und Entwicklung sind nötig – nicht nur, um die Effizienz und Produktivität in den wirtschaftlich schwächeren Mitgliedstaaten zu stärken, sondern auch, um die Eurozone und die EU zusammenzuhalten. Der Weg dorthin ist freilich lang, insbesondere, weil es Europa derzeit an Instrumenten fehlt, um ihn durchzustehen.
Aus Perspektive der deutschen Fiskalpolitik brächten Investitionen in ein wirtschaftlich und sozial stabileres Europa enorme Renditen. Zwar ist die vorherrschende Sicht in Deutschland schon jetzt, dass das Land mehr Geld in Europa hineinsteckt als es herausbekommt. Aber das ist Unfug. Als großes Exportland mit einem enormen, ständigen Handelsüberschuss erhält Deutschland per definitionem mehr, als es bezahlt.
Statt den Eindruck zu erwecken, dass Deutschland vom chinesischen Exportmarkt abhängig ist, sollte die deutsche Politik klarstellen, dass die wahre Abhängigkeit des Lands gegenüber dem europäischen Markt besteht. Deutschlands Exporte in andere EU-Mitgliedstaaten belaufen sich auf 50 Prozent seiner Gesamtexporte, während auf China und die USA jeweils nur zehn Prozent entfallen.
Langfristig wird es Deutschland nur so gut gehen wie seinen europäischen Nachbarn. Je schneller wir das erkennen, desto besser wird es uns gehen. Bidens Credo, die Dinge zu Hause in Ordnung zu bringen, gilt auch für uns. Wir müssen zeigen, dass unsere eigenen demokratisch organisierten Gesellschaften den autokratischen Alternativen überlegen sind. Ansonsten wird die normative Idee vom Westen weiter an Glanz verlieren.
Aus dem Englischen von Jan Doolan.
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