Afghanistan: Wer füllt das Vakuum?

Russland, China, Indien, Pakistan, Iran, die zentralasiatischen Staaten haben Interessen am Hindukusch

Die USA gehen mittlerweile unter der Devise „What we need to learn“ über ihren 20-jährigen Afghanistan-Feldzug hart kritisch mit sich ins Gericht. Eine solche Evaluierung für Deutschlands Einsatzrolle wollen CDU/CSU und SPD hingegen erst nach den Bundestagswahlen vornehmen. Präferiert wird eine Enquete-Kommission, die eine gemeinsame Position erarbeiten soll, nicht ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, der Dokumente einsehen und Zeugen befragend könnte.

Das Doha-Abkommen und der Abzug

Im Doha-Abkommen vom 29. Februar 2020 verpflichteten sich die USA, innerhalb von 14 Monaten schrittweise abzuziehen. die Taliban zu innerafghanischen Friedensverhandlungen. Die zentralen Vertragspunkte waren auch in Deutschland öffentlich bekannt.

Die Trump-Regierung wollte bereits zum 1. Mai 2021 Afghanistan verlassen.  Die Biden-Administration verlegte jedoch den Abzugstermin am 13. April 2021 auf den 11. September. Wegen der negativen Symbolkraft des Rückzugsdatums und der Drohung der Taliban nach ihrem Einmarsch in Kabul am 15. August akzeptierte Washington aus Sicherheitsgründen den 31. August als Deadline für westliche Evakuierungen. Es war eine unilaterale Entscheidung. Wieder einmal wie oft in diesem Krieg.

Interessen von USA und Deutschland

Für die USA sind die Europäer mit ihren militärischen Kapazitäten schlichtweg nicht satisfaktionsfähig. So konnte auch nicht überraschen, dass weder sie noch die von den USA abhängige Regierung in Kabul an den Verhandlungstisch in Katar geladen wurden.

Der Vertragstext offenbart dazu den wahrscheinlichen Grund. Den Amerikanern kam es ausschließlich darauf an, problemlos abzuziehen, verbunden mit der Zusicherung, Afghanistan dürfe künftig nicht noch einmal Hort terroristischer Aktion gegen ihr Land und das ihrer Verbündeten sein. Dafür nimmt Washington die erneute Ausdehnung des brutalen Scharia-Rechtssystems auf alle Lebensbereiche und damit auch wieder die Steinigung von Frauen billigend in Kauf.

Interessen Russlands und anderer Anrainer

Durch ihr Prisma geschaut ging es vorrangig stets um Stabilität durch militärische Dominanz im Land, eingebettet in ihre geostrategischen und geoökonomischen Interessen. Am Hindukusch kreuzen sich diese nämlich mit denen von Russland, China, Indiens, Pakistan, Iran und der zentralasiatischen Staaten, die ebenfalls um regionalen geopolitischen Einfluss ringen. Auch wenn Präsident Biden es so postuliert: Nation Building und Demokratieaufbau standen für die US-Afghanistanpolitik nie im Vordergrund.

Deutschland, das die Nordregion verantwortete, investierte dort parallel zur militärischen Aufstandsbekämpfung viele personelle und finanzielle Ressourcen in die zivilgesellschaftliche Entwicklung. Das jetzt als eine von vornherein erkennbare Totgeburt zu disqualifizieren ist wohlfeil.

Durch den deutschen umfassenden Sicherheitsbegriff, der zur militärischen Dimension eben auch sozioökonomische, ökologische und weitere Faktoren einbezieht, folgte Berlin lediglich konsequent dem eigenen Sicherheitsverständnis. Dass sich viele Afghanen in den urbanen Zentren einen zivilisatorisch aufgeklärten und regierten Staat wünschen und sich dafür auch engagierten, belegen all jene Menschen, die verzweifelt versuchten, das Land zu verlassen.

Zugegeben: Es war oft ein Ausprobieren, es waren holprige Schritte in die Moderne, wie schon Mitte der 1960er-Jahre versucht, unter dem König Mohammed Zahir Schah. Das endete 1973, als sein Verwandter Mohammed Daoud Khan mit Unterstützung der Moskau-orientierten kommunistischen Demokratischen Volkspartei putschte und den Monarchen stürzte.

Modernisierung versus Tradition

Afghanistan ist durch seine multiethnischen Traditionen, Identitäten und Loyalitäten zerklüftet. Schon die Briten und Russen berichteten während ihres Ringens um Dominanz in Zentralasien (Great Game 1813 – 1907) von einem Land, das keine Nation sei. Insbesondere in den ländlichen Paschtunen-Gebieten ist die Bevölkerung bis heute in kulturellen-archaischen und ultrakonservativ-muslimischen Denkmustern verhaftet. Sie partizipierten in der Fläche nie von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritten – durch ihren Widerstand wie auch korruptionsbedingtes Vergessen. So konnten die Taliban hier auch nach 2001 weiter oft wie Fische im Wasser schwimmen. Notabene: „Afghan“ heißt synonym auf Persisch „Paschtune“.

Die Bündnisvormacht bekämpfte auch nie ernsthaft Machtmissbrauch, Misswirtschaft, Korruption, Wahlmanipulation – mündend in strukturelles Staatsversagen. Washington kooperierte mit lokalen Gewaltherrschern und unternahm auch keine nachhaltig-ernsthaften Bemühungen, mit Pakistan den ungelösten ethno-nationalistischen Konflikt mit Afghanistan zur Paschtunenfrage zu regeln, was machtstrukturelle Akteure in der pakistanischen Politik und des Geheimdienstes ISI seit Mitte der 1990er-Jahre in ihrer Unterstützung der Taliban befeuert. Es geht hierbei um die von den Briten 1893 gezogene Durand-Linie, die das Paschtunen-Stammesgebiet im früheren Britisch-Indien (Pakistan), und dem ehemaligen Emirat Afghanistan bis heute willkürlich durchschneidet.

Im Konfliktdreieck

Das Grundmuster des afghanischen Sicherheitsinteresses besteht in einem guten Verhältnis zu Indien zur Absicherung der konflikthaften Beziehung zu Pakistan.  Islamabad, geographisch zwischen Afghanistan und Indien eingezwängt, sieht sich durch die Freundschaft zwischen Indien und Afghanistan potenziell bedroht.

Die Sicherheitsdeterminante der Politik in Islamabad besteht darin, ein einiges, starkes Afghanistan zu verhindern. Indien wiederum ist an einem starken Afghanistan interessiert, um mit einer Einkreisungsstrategie Druck auf Pakistan auszuüben und zu schwächen.

Die Taliban haben durch den alliierten Abzug wie von 1996 – 2001 wieder die politische Eigenverantwortung. Doch sind sie tatsächlich auch regierungsfähig? Kompromisse gehören nicht zu ihrem kulturellen Kanon. Genau diese sind aber nun zuvorderst untereinander gefordert.

Holzschnittartig betrachtet gibt es das religiöse-politische Führungsduo von Mullah Hibatullah Achundsada und Mullah Abdul Ghani Baradar als Mitglieder der sogenannten Quetta Schura (Beratungsgremium) in Belutschistan/Pakistan. Beide waren enge Vertraute von Mullah Mohammed Omar, von 1996 – 2001 Staatsführer des Islamischen Emirats Afghanistan. Ihre Stellvertreter sollen Mohammed Yakub, Sohn von Omar und Taliban-Militärbefehlshaber, sowie Siradschuddin Haqqani, Sohn des legendären afghanischen Warlords Dschalaluddin Haqqani und Begründer des mit dem pakistanischen Geheimdienst kooperierenden terroristischen Haqqani-Netzwerks sein.

Aber werden sich die talibanschen Feldkommandeure den politischen Anordnungen und Zwängen fügen? Welche klandestine oder offensive Rolle wird Pakistan spielen? Und welches Gewaltpotenzial können der Islamische Staat-Khorasan (IS-K) und andere Gruppierungen entfalten?

Russland hält Kontakt zu Taliban

Die russische Botschaft setzte ihre Arbeit auch während der Machteinnahme in Kabul fort. Seit Ende 2015 unterhält der Sonderbeauftragte Putins für Afghanistan, Zamir Kabulow, Kontakte zu den Taliban, obwohl sie in Russland als extremistische Organisation klassifiziert sind. Seitdem gab es mehrere Treffen in Moskau. Sie seien gute Partner, besser als die „Kabuler Marionettenregierung“ heißt es.

Ungeachtet dessen geht aber die Sorge vor einer Zeit der Wirren in Afghanistan um, mit instabilen Auswirkungen auf die zentralasiatischen Länder. Im besonderen Fokus liegt das politisch schwache Tadschikistan. Die Grenze mit Afghanistan ist 1300 Kilometer lang. Russland unterhält hier seinen größten Auslandsmilitärstützpunkt.

Aber auch Kirgistan ist eine kleine überlastete vormalige Sowjetrepublik mit einer knapp 1000 Kilometer langen Grenze mit Tadschikistan. Nicht zuletzt hat der Kreml Befürchtungen vor Abwanderungen islamistisch-terroristischer Gruppen aus Afghanistan in den islamisch geprägten russischen Nordkaukasus.

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