Ukraine: Niemand will Krieg
Maxim Samorukov: Are Russia and Ukraine Sliding Into War? Carnegie Moscow Center, 5.4.2021
Ein Gespenst geht um in Osteuropa, das Gespenst des Krieges, beginnt Maxim Samorukov seinen Artikel auf der Webseite des Carnegie Moscow Center. Der Waffenstillstand sei gebrochen. Beide Seiten werfen der anderen Seite Provokationen vor. Gleichzeitig aber – Entwarnung – versichern beide, alles zu tun, damit die Kriegsglocke nicht läutet, schreibt er. Moskau Militäraufmarsch sei die Vergeltung für Kiews jüngstes Vorgehen gegen pro-russische Medien und Politiker.
Die Spannungen hätten vor Monaten begonnen wegen Kiews wachsender Frustration über Moskaus Kompromisslosigkeit bei den Gesprächen über den Donbass und Präsident Selenskys zunehmender innenpolitischen Schwäche, dem es nicht gelungen sei, sein Wahlversprechen einzuhalten: Frieden für die Ukraine. Und das trotz des Entgegenkommens Moskaus mit dem Waffenstillstand und einem direkten Kanal zum Kreml. Der Verhandlungsprozess habe sich als schwieriger erwiesen als vom politisch und diplomatisch unerfahrenen ukrainischen Präsidenten erwartet.
Den wichtigsten Konzessionen, welche die Minsker Vereinbarungen von ihm verlangten, könne Selensky nicht nachgeben, das würde ein Erstarken der nationalistischen Opposition provozieren. Dazu die hohe Zahl der Coronainfizierten, der wirtschaftliche Niedergang und der Vertrauensverlust zuhause – all das habe Selensky dazu veranlasst, die Unterstützung des Westens zu stärken. Dazu habe vor allem die neue Sicherheitsstrategie gedient. Darin habe Selensky die Absicht wiederholt, der Nato beizutreten, die russische Aggression zu kontern und nicht mit den Separatisten in der Ostukraine zu sprechen.
Selensky: Vom Friedenbringer zur Konfrontation
Das habe zwar seine patriotische Glaubwürdigkeit erhöht (allerdings nicht bei den Nationalisten) und ihm Aufmerksamkeit im Westen gebracht, aber auch den Aufmarsch von russischem Militär im Osten. Für Samorukov ist das von zweifelhaftem Nutzen: „Die Unterstützung westlicher Führer ist zwar laut, aber eher rhetorisch.“
Moskau dagegen habe Selenskys „Wandel vom Friedenbringer zur Konfrontation“ vorhergesehen: dass er das Minsker Abkommen nicht umsetzen könne und mit Bidens Einzug ins Weiße Haus eine nachdrücklichere Haltung einnehmen werde. „Durch Moskaus Truppenaufmarsch an Ukraines Ostgrenze und auf der Krim hat Kiew wenig Chancen, sich zu behaupten, wenn das Patt sich in eine militärische Konfrontation verwandelt.“
Aber niemand wolle einen Krieg auslösen. Die Ukraine wisse, dass das zum Eingreifen Russland in der Ostukraine führen und die absehbaren Verluste Selenskys Unterstützung im Land ruinieren würde. Außerdem: „Schnelle Hilfe für die Ukraine aus dem Westen ist keinesfalls garantiert.“
Auch für Russland wäre der Nutzen eines Kriegs mit der Ukraine fragwürdig. Die einheimische Bevölkerung sei außenpolitische Abenteuer leid. Derartiges sei auch angesichts der anstehenden Wahlen im September inopportun. Keinesfalls wolle Russland außerdem dem Abschluss des großen Projekts Nord Stream 2 gefährden.
Samorukovs Fazit: Der russische Truppenaufmarsch diene dazu, „Kiew und Washington zu zeigen, dass es vorbereitet ist, mit Macht auf jeglichen militärischen Versuch zu reagieren, den Status quo im Donbass zu ändern. Die Zurschaustellung der Truppenbewegungen deutet eher auf Säbelrasseln hin als auf Überlegungen für einen Blitzkrieg.“ Die Abwesenheit von rationalen Gründen für einen Krieg schließe allerdings nicht aus, dass die Krise versehentlich außer Kontrolle geraten könnte. PHK