Russland: Ischinger sagt, „Was jetzt zu tun ist“

‚Nicht nur Russland, auch die Nato hat Fehler gemacht‘, Süddeutsche Zeitung, 30.12.2021

von KARENINA
Süddeutsche Zeitung: Ischinger über Russland

Helmut Kohl und Boris Jelzin haben es vereinbart: Moskau akzeptiert die Aufnahme neuer Mitglieder in die Nato, im Gegenzug wird das Verhältnis zwischen Russland und der Nato auf eine neue, kooperativere Basis gestellt. So fasst Wolfgang Ischinger die Sache mit der Nato-Osterweiterung zusammen. In der „Nato-Russland-Grundakte“ seien zwei Kernelemente enthalten: „einerseits Erweiterung, allerdings mit Beschränkungen unter anderen für Nato-Truppen sowie für die Stationierung nuklearer Waffen, andererseits Gründung des ‚Nato-Russland-Rats‘ als Beratungsgremium“.

Die Frage, ob Russland versprochen worden sei, keine ehemaligen Ostblockstaaten in die Nato auszunehmen, ist für ihn – anders als für Heribert Prantl – eindeutig geklärt: „Mit der Nato-Russland-Grundakte akzeptiert Russland also offiziell das Prinzip der Erweiterung.“ Damit sei „das Geraune“ über westliche Versprechungen im Jahr 1990 vom Tisch: „Russland hat die Nato-Erweiterung schriftlich akzeptiert.“

Die Verantwortung für den Zerfall der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen sieht er „wesentlich im russischen Verhalten seit 2008“. Allerdings räumt der langjährige Spitzendiplomat in Washington und London ein– und diese Differenzierung war bei deutschen Meinungsführern zuletzt selten zu lesen –, dass es auch „Fehlentscheidungen“ der Nato gegeben habe.

Als „Sündenfall“ benennt er den Nato-Gipfel in Bukarest im April 2008, „als die Bush-Regierung für die Ukraine und Georgien den Weg ins Bündnis freimachen wollte“. Schon Putins Warn-Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 sei ignoriert worden. Aus Moskauer Sicht sei diese Nato-Mitgliedschaftsperspektive „eine nicht hinnehmbare Bedrohung der von Russland traditionell geforderten Einflusssphäre“ gewesen.

Russlands Politik hat sich also nach der folgenlosen Münchner Rede Putins 2007 in München und diesem „Sündenfall“ von 2008 geändert. Waren denn dann die vorherigen Vereinbarung noch gültig?

Diese Frage stellt sich für Ischinger nicht.

Moskau habe danach versucht, „jeder Konkretisierung des Mitgliedschaftsversprechens für die beiden Staaten einen Riegel vorzuschieben“. In Georgien durch die Abtrennung Abchasiens und Südossetiens. Später in der Ukraine nach Janukowitschs „Flucht“ durch die Annexion der Krim und durch Unterstützung separatistischer Strömungen im Donbass.

„Das Ziel, eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zu verhindern, wurde auf diese Weise mit gröbsten militärischen Mitteln vorläufig durchgesetzt. Die Nato beruht schließlich auf dem Dogma, kein Land aufzunehmen, welches in sich gespalten ist“, so Ischinger. „Dies ist auch ein Grund, warum Moskau nicht an einer Lösung der Konflikte im Donbass, in Abchasien und in Südossetien interessiert ist.“

Ischinger sagt, „was jetzt zu tun ist“

Gegen Putins „Kompromisslosigkeit“ und seine Versuche, „die europäische Sicherheitsarchitektur politisch zu verändern“ empfiehlt Ischinger: „so viel Abschreckung durch militärische Stärke wie nötig, so viel Kooperation und Dialog wie möglich“: Zur Abschreckung gehöre „nicht nur die nukleare Komponente und die ständige Präsenz in den baltischen Staaten und in Polen, sondern auch die Frage von Waffenlieferungen“ zur „‘Ertüchtigung‘ der Defensivkraft der Ukraine“.

Zum „diplomatischen Dialogangebot“ zählt Ischinger auch „umfassende und konkrete Gegenvorschläge“. Seine sehr konkreten Vorschläge unter dem Titel des Beitrags „Was jetzt zu tun ist“:

„Erneuerung der Helsinki-Schlussakte und der Charta von Paris im Rahmen der OSZE. Bekräftigung der Nato-Russland-Grundakte. Bekräftigung des Budapester Memorandums von 1994 (das unter anderem der Ukraine als Gegenleistung für einen Nuklearwaffenverzicht die Souveränität garantiert). Stärkung der Ukrainemission der OSZE. Forderung nach Abzug der russischen Militärpräsenz im Donbass, Transnistrien, Abchasien und Südossetien. Rüstungskontrollverhandlungen über nukleare und konventionelle Waffensysteme einschließlich vertrauensbildender Maßnahmen. Verhandlungen über gegenseitigen Verzicht von Cyberangriffen auf kritische Infrastruktur und militärisch relevante Einrichtungen. Nutzung des Nato-Russland-Rats als gemeinsames Krisenbewältigungszentrum.“

Bei den Verhandlungen solle „angesichts der Erfolgsgeschichte deutscher Ostpolitik“ die Bundesregierung mitwirken. „Deutsche Ostpolitik war so erfolgreich, weil sie im Kern stille Diplomatie, nicht ‚public diplomacy‘ war.“ Gegen das russische Bestreben nach bilateralen Verhandlungen mit Washington sagt er: „Über europäische Sicherheit kann und wird nicht ohne uns, die Europäer, entschieden werden.“ Zentrale Aufgabe deutscher Außenpolitik sei es, dafür zu sorgen, „dass es nicht mehr um Sicherheit vor Russland, sondern um Sicherheit mit Russland geht“.  PHK

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