Entspannungspolitik war keine Lebenslüge
Theo Sommer gegen die inflationäre Neigung zu Reue und Buße, ZEIT online, 12.4.2022
„Deutschland scheint in diesen Tagen ein einziges großes Canossa zu sein“, eröffnet Theo Sommer seine dienstägliche Kolumne auf ZEIT online. „Allenthalben werden Irrtümer eingeräumt und Fehler eingestanden, wird Reue bekundet und Buße getan.“ Wegen der Fehler und Fehleinschätzungen Putin betreffend. „Rückwirkend stellen einige Hardliner die Entspannungspolitik Willy Brandts und Egon Bahrs infrage.“ Damit ist der ehemalige Chefredakteur der ZEIT nicht einverstanden: „Mir geht diese Reumütigkeit viel zu weit.“
Weil:
+ Die Entspannungspolitik war keine Lebenslüge.
+ Diplomatie sei „obwohl keine Friedensgarantie, nie eine Zeitverschwendung“.
+ Putin war „keineswegs von allem Anfang an der ‚nihilistische Desperado‘ (Heinrich August Winkler), der in historisierend aufgedunsenem Selbstbewusstsein Krieg und Kriegsverbrechen zur prima ratio mache. „Voransicht ist immer Glückssache. Die Geschichte liebt es, uns zu überraschen.“
Die Entspannungspolitik sei vielmehr eine Erfolgsgeschichte. Fünf Jahrzehnte Frieden, dann die die deutsche und die europäische Einheit. „Sie funktionierte in der Verbindung einer Politik der Stärke mit der ausgestreckten Hand.“ Abschreckung und Diplomatie.
Leider sei „Rüsten und Reden“ im Westen seit eineinhalb Jahrzehnten vernachlässigt worden. Putins „Anregung“ in München 2007 zum Dialog über eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur sei nie aufgegriffen worden. „Es bleibt ein folgenreicher Fehler, Russland nicht in ein übergreifendes Arrangement eingebunden zu haben.“
Summa summarum: „Für die Versuche, Russlands politisches Handeln durch Diplomatie zu beeinflussen, braucht sich niemand zu entschuldigen. Dialog ist allemal besser als Trommelwirbel, Säbelrasseln und Raketengetöse. Eskalationsverhinderung ist die Essenz der Diplomatie, nicht der Ausdruck von Schwäche und Appeasement.“ PHK