Wie Kriege enden

Wann auf Gewalt Frieden folgt, ist gut erforscht. Was ist die Prognose für die Ukraine?

von Joshua Beer, Berit Kruse, Sören Müller-Hansen
Stop pexels Linda Eller Shein Zuschnitt | Nachrichten über Russland
Schluss mit dem Krieg. Das wollen viele Menschen, nicht nur in der Ukraine. Aber der richtige Zeitpunkt scheint noch nicht gekommen.

Einen Krieg zu beginnen, ist leicht. Ihn zu beenden, nicht. Wenn Wladimir Putin in der Ukraine etwas gelernt hat, dann wohl das. Zwar behauptet der russische Präsident, seine „Spezialoperation“ verlaufe ganz nach Plan.

Doch die anfängliche Illusion eines schnellen Siegs hat sich längst zerstreut. Zuletzt gelang der Ukraine gar eine Gegenoffensive. Wie kann die Gewalt überhaupt noch enden? Und was kommt danach?

Nach allem, was die Forschung weiß, sind die Aussichten eher düster. So kennt sie einige Faktoren, die dabei helfen können, Kriege zu beenden und auch dauerhaft zu befrieden. Im Fall der Ukraine sind die bewährten Wege aber kaum gangbar. Für Andreas Hasenclever, Professor für Friedensforschung an der Universität Tübingen, deutet die komplexe Gemengelage vielmehr darauf hin, dass der Krieg „noch fürchterlich lange gehen wird“.

Immer mehr innerstaatliche Konflikte

Vereinfacht gesagt kennen Kriege zwei Ausgänge: Entweder werden sie geklärt, sei es durch ein Friedensabkommen oder den militärischen Sieg. Oder sie bleiben ungeklärt, es gibt weder Sieg noch Abkommen. Im zweiten Fall erlahmen zwar die Kämpfe, der Krieg aber kann jederzeit wieder aufflammen.

Im postsowjetischen Raum entlang Russlands Grenzen schlummern zahlreiche solche eingefrorene Konflikte, etwa in Georgien oder um die Region Bergkarabach. Kriege schaffen häufig eben nicht die eindeutigen Verhältnisse, die sich Feldherren vorher ausmalen.

Der Krieg in der Ukraine geht hierbei völlig gegen den historischen Trend. Denn eigentlich leben wir in einem „Zeitalter der Bürgerkriege“, so formulierte es Barbara F. Walter – eine der weltweit führenden Konfliktforscherinnen – bei einer Diskussion im Januar. Seit dem Zweiten Weltkrieg treten immer mehr innerstaatliche Konflikte auf, während Kriege zwischen Staaten merklich abnehmen.

Einen traurigen Höhepunkt erreichten sie im Jahr 1992, als etwa in Bosnien und Afghanistan die Gewalt eskalierte. Inzwischen ist dieser Peak übertroffen: An keinem Punkt der modernen Geschichte wüteten mehr Bürgerkriege als heute, sagt Walter. Die schwersten davon sind internationalisiert, das heißt: Eine oder mehrere Kriegsparteien werden massiv von äußeren Mächten militärisch gestützt.

Dennoch sterben in absoluten Zahlen seit 1945 immer weniger Menschen durch Kriegsgewalt. Wie passt das zusammen? Ein Grund: Anstelle von Schlachten, bei denen riesige Armeen aufeinanderprallen, gibt es viel mehr „small wars“. In diesen „kleinen Kriegen“ ringen häufig ungleiche Splittergruppen miteinander, etwa Terrormilizen oder Guerilla-Kämpfer mit Regierungen.

Ukraine: Krieg wie aus der Zeit gefallen

In der Ukraine dagegen bekämpfen sich zwei Nationen, darunter eine Großmacht. Der Krieg fühlt sich an wie aus der Zeit gefallen.

Das erkennt man schon daran, dass sich ein Großteil der Konfliktforschung der Analyse von Bürgerkriegen verschrieben hat. Trotzdem erteilt sie Lehren für den Ukraine-Krieg – nicht zuletzt, weil in der Ostukraine schon seit 2014 ein innerstaatlicher Konflikt gärt. Auch jetzt mischen ukrainische Milizen und prorussische Separatisten mehr oder minder losgelöst von den regulären Streitkräften mit.

Die wohl umfangreichsten Datensätze zu Kriegen von 1945 bis heute liegen im Konfliktdatenprogramm (UCDP) des Instituts für Friedens- und Konfliktforschung im schwedischen Uppsala. Darin sind bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen zwei Parteien in sogenannten Episoden erfasst; das sind Kalenderjahre, in denen eine bestimmte Anzahl von Menschen kampfbedingt ums Leben gekommen ist.

Ab 25 Todesfällen im Jahr wertet das UCDP die Episode bereits als geringfügigen bewaffneten Konflikt. Wenn mehr als 1000 Menschen im Jahr sterben, handelt es sich um einen ausgewachsenen Krieg. Der Konflikt endet, wenn die Totenzahl unter diese Schwellenwerte sinkt.

Aus den Daten geht hervor: Von den größeren Kriegen, bei denen Ausgänge verzeichnet sind, werden die meisten (41) durch Sieg und Niederlage entschieden; hierbei ringt eine Partei die andere militärisch nieder. Friedensabkommen hingegen wurden nur in 15 Fällen geschlossen. Immerhin zwölf Konflikte klangen mit „geringer Aktivität“ ab, ohne eine Entscheidung herbeizuführen. Sie frieren lediglich ein.

Auch die 15 Waffenstillstände deuten auf einen ungeklärten Ausgang hin: Ein Beispiel dafür ist der Koreakrieg von 1950 bis 1953, in dem das ergebnislose Kräftemessen zwischen den USA und dem kommunistischen China zur Teilung von Korea in Nord und Süd führte. Einen Friedensvertrag gibt es bis heute nicht.

Manchmal dauert das „Endspiel“ lang

Auf welches Ende ein Krieg hinausläuft, wird erst in seiner Schlussphase absehbar. „Endgame“, nennt der US-Amerikaner Gideon Rose diese: „Endspiel“. Rose ist ehemaliger Herausgeber des Politikmagazins Foreign Policy und Autor des Buchs „How Wars End“.

„Das Endgame tritt ein, wenn man so ziemlich weiß, wie das Ergebnis im Groben aussehen wird“, sagt er. Entweder hat eine Partei „die entscheidende Oberhand“ errungen – ein Beispiel wäre die Spätphase des Pazifikkriegs, in der die USA Japan Insel für Insel zurückdrängten. Oder aber die Kämpfe gehen in ein unbewegliches Patt über wie im Koreakrieg. Im Endgame kämpften die Parteien noch, „um die Einzelheiten zu klären“, so Rose. Es gehe um Grenzverläufe, Gebietskontrollen und Zugeständnisse.

Solange aber eine Partei glaubt, dass sie auf dem Schlachtfeld mehr erreichen kann als in Friedensgesprächen, kämpft sie weiter. „Man erhofft sich halt immer, dass die eigene Verhandlungsposition besser wird. Das ist ziemlich zeitlos“, sagt die Historikerin Lena Oetzel, die in Salzburg Kriege der Frühen Neuzeit erforscht.

Als Beispiel nennt sie den Dreißigjährigen Krieg, der von 1618 an Europa verheerte: Hier führten Gesandte der Konfliktparteien jahrelang Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück, während der Krieg weitertobte. Weil sie noch auf Schlachtenglück hofften, verschleppten die Delegationen zeitweise die Gespräche.

Krieg endet, wenn die Kosten steigen

Um dieses Kalkül auszuschalten, müssten sich die Kosten für die Kriegführenden erhöhen, so Oetzel. „Kriege enden dann, wenn sie zu teuer werden.“ Nicht nur verschlingen Militärapparate Unsummen an Geld, Kosten entstehen ferner durch wirtschaftlichen Schaden, durch Reputationsverlust und politische Isolation. All das sollen die Sanktionen gegen Russland bewirken.

Kosten steigen übrigens auch, wenn der furchtbare Verschleiß von Menschenleben die eigene Bevölkerung kriegsmüde macht. Allerdings tritt dieser Effekt eher in Demokratien mit kritischer Öffentlichkeit ein, weniger in Autokratien, die Medien und öffentliche Meinung steuern. Beispielsweise trugen die massiven Antikriegsproteste dazu bei, dass sich die USA 1973 aus Vietnam zurückzogen. Der Vietcong gewann, das Land ist heute stabil.

Ist ein militärischer Sieg also nachhaltiger als ein Kriegsende durch Abkommen? „Das lässt sich abschließend nicht sagen“, sagt Friedensforscher Hasenclever. Zunächst sei essenziell, alle wichtigen Akteure in die Friedensfindung einzubinden und Macht aufzuteilen.

„Einerseits gibt es stabile Siegfrieden.“ Nicht nur Vietnam sei dafür ein Exempel, auch die Elfenbeinküste, Ruanda oder Uganda, wo Bürgerkriege mit dem Triumph einer Partei endeten. Oft sei dieser Friede aber schwer zu erreichen und noch schwerer zu bewahren. „Wichtig ist deshalb, dass man den Verhandlungsfrieden im Spiel hält und zeigt: Das ist eine realistische Option“, so Hasenclever.

Teilweise und volle Friedensabkommen

Tatsächlich gehört das Friedensabkommen schon sehr lange zum Repertoire fürs Kriege-Beenden. Den ersten belegten Vertrag schloss das alte Ägypten mit dem Hethiterreich, 1259 vor Christus. Er vermochte einen blutigen Vorherrschaftsstreit zu beenden, der sich über Generationen hingezogen hatte.

Die jüngste Entwicklung veranschaulichen die Daten aus Uppsala: Die Anzahl der Friedensverträge schoss nach dem Ende der Sowjetunion 1990 nach oben. Seitdem aber sinkt sie wieder zugunsten von Siegfrieden. In diese Statistik fließen auch kleinere Konflikte ein. Das UCDP unterscheidet zwischen „teilweisen“ und „vollen“ Friedensabkommen. Letztere sollen und wollen den gesamten Disput beilegen, erstere zielen nur auf bestimmte Streitpunkte ab.

In einer „Friedensprozess-Vereinbarung“ wiederum einigen sich die Kriegsparteien lediglich darauf, eine Konfliktlösung anzugehen. Partielle Pakte kommen häufiger zustande und sind offenbar einfacher zu schließen als volle. Umfassende Abkommen aber führen zu mehr Stabilität.

Bemerkenswert ist: An den mit Abstand meisten Friedensverhandlungen in allen drei Kategorien war jeweils eine dritte, vermittelnde Partei beteiligt. Dies können einflussreiche Personen, Gruppen, andere Länder oder auch internationale Akteure wie die Vereinten Nationen sein.

Konfliktforscherin Walter zeigte in einer Studie, dass zwischen 1940 und 1990 etwa die Hälfte aller geschlossenen Friedensverträge bei Bürgerkriegen scheiterte, indem danach abermals Gewalt ausbrach. Der zweite Fund: „Erfolgreiche Einigungen erfolgen fast immer mit Hilfe einer dritten Partei.“ Diese mindert das Misstrauen der Kriegführenden zueinander und profitiert vom Status als Schiedsrichter.

Tatsächlich, schrieben Walter und andere 2020, haben speziell UN-Friedensmissionen „einen großen, statistisch signifikanten Effekt auf die Verringerung von Gewalt jedweder Art“. Andreas Hasenclever aus Tübingen bestätigt das: Missionen hülfen oft dabei, einen stabilen Frieden auszuhandeln. Als es der UN in Sierra Leone zunächst misslang, den Bürgerkrieg in den Neunzigern zu stoppen, verdoppelte sie ihre Präsenz, anstatt sich zurückzuziehen. Die Gewalt nahm ab, Gespräche begannen und führten 1999 mit dem Abkommen von Lomé in den Frieden.

Allerdings leiden Peacekeeping-Missionen oft unter Missmanagement sowie einem schlechten Ruf: In Ruanda etwa schauten Blauhelme dem Völkermord quasi zu, weil sie angewiesen waren, nicht einzugreifen. Und zuletzt erschütterten Berichte über Vergewaltigungen das Bild der Friedenstruppen.

Friedensmission in der Ukraine? Derzeit unvorstellbar

Was bedeutet das alles für die Ukraine? Leider nichts Gutes. Eine Friedensmission kommt nicht infrage, solange der Aggressor Russland über Vetomacht im UN-Sicherheitsrat verfügt. Aus demselben Grund scheiden die Vereinten Nationen als Konfliktentschärfer aus. Vermitteln müssen andere und tun es auch, etwa der türkische Präsident Erdoğan – bisher erfolglos.

Die Ukraine erfahre mit guten Gründen Hilfe aus dem Westen, sagt Hasenclever. Aber: „Immer dann, wenn die Parteien in einem internationalisierten Konflikt von außen massiv unterstützt werden, gibt es kaum eine Möglichkeit, den Konflikt auf Dauer stillzustellen.“

Neben Sieg und Verhandlung kennt die Bürgerkriegsforschung eine weitere Möglichkeit, erneuter Gewalt vorzubeugen: die strikte Trennung der Kriegsparteien voneinander. Das setzt allerdings voraus, dass sich die Ukraine und Russland über ihre Territorien einig werden und eine einvernehmliche Grenze gezogen werden kann.

Um dauerhaft zu wirken, braucht die Separation Sicherheitsgarantien und vertrauensbildende Maßnahmen. Im Bestfall versöhnen sich die ehemaligen Feinde, wie es dereinst Deutschland und Frankreich taten. All das erscheint derzeit unvorstellbar.

Ob und wie sich Putin eine künftige Friedensordnung vorstellt, jenseits der Vorstellung eines großrussischen Reichs, ist unklar. Um eine stabile Nachkriegsordnung scheren sich Invasoren generell oft nur wenig.

Im Zweiten Golfkrieg etwa gelang es den USA 2003 zwar, das Regime von Saddam Hussein im Irak in nur drei Wochen zu stürzen. Danach blieb das US-Militär aber fast 20 Jahre in dem zerrütteten Land; bis heute spürt die ganze Region die Folgen der Invasion. Offensichtlich hatten die USA den Krieg besser geplant als die Zeit danach.

Der beteiligte US-Offizier James Conway drückte es später so aus: „Wissen Sie, man erschießt den Wolf, der dem Schlitten am nächsten ist.“ Heißt: Erst einmal rasch den Sieg holen, dann weiterschauen. Eine Denkweise, die mit dem russischen Angriff auf die Ukraine offenbar wiedergekehrt ist.

Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 17.9.2022 / Alle Rechte vorbehalten: Süddeutsche Zeitung GmbH, München

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