Schweiz: Unterlassene Hilfeleistung
Die Weitergabe von Munition an die Ukraine zu verbieten ist fehlgeleitete Neutralitätspolitik
Als der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis Ende Oktober nach Kiew reiste, fand das auch in der deutschen Presse Widerhall. Denn Cassis‘ deutscher Amtskollege Frank-Walter Steinmeier hatte seinen für denselben Tag geplanten Besuch in der ukrainischen Hauptstadt aus Sicherheitsgründen abgesagt. Umso mehr Aufmerksamkeit erhielt die auf humanitäre Hilfe ausgerichtete Schweizer Mission, mit der Cassis an seine Wiederaufbaukonferenz Anfang Juli in Lugano anknüpfte.
Das lobenswerte Engagement der Eidgenossen, das sich auch in der bereitwilligen Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine spiegelt, steht allerdings im Schatten einer fehlgeleiteten und rufschädigenden Neutralitätspolitik. Dass der Bundesrat, wie die Regierung in Bern heißt, Deutschland die Weitergabe von in der Schweiz produzierter Panzermunition an die Ukraine verbietet, ruft in Berlin parteiübergreifend Empörung hervor. Zu Recht ist von unterlassener Hilfeleistung die Rede.
Es ist auch nicht das erste Mal, dass die Schweiz die gebotene Solidarität in der westlichen Allianz gegen die völkerrechtswidrige Annexion der Ukraine unterläuft. Den Sanktionen der EU gegen Russland schloss sich der Bundesrat verspätet und erst unter innen- und außenpolitischem Druck an. Mit Waffen beladenen Nato-Transportflugzeugen verweigert er bis heute die Überflugrechte. Dabei sind es die umgebenden Nato-Staaten, welche die Schweiz vor einem direkten Angriff Russlands schützen. Sicherheitspolitisch ist sie ein Trittbrettfahrer.
Der Bundesrat erklärt seine sture Haltung mit dem Neutralitätsrecht und dem Kriegsmaterialgesetz. Demnach dürfe man keine Kriegsmaterialexporte in Länder genehmigen, die „in einen internationalen bewaffneten Konflikt verwickelt“ seien. Doch damit macht es sich der Bundesrat zu einfach. Gemäß Artikel 19 des Kriegsmaterialgesetzes wäre es ihm im Einzelfall sehr wohl erlaubt, das Wiederausfuhrverbot aufzuheben, „wenn außerordentliche Umstände es erfordern“.
Der Schutz der Demokratie vor einem menschenverachtenden Unrechtsstaat würde wohl in diese Kategorie passen. Falls dem Bundesrat der juristische Spielraum zu klein erscheint, könnte er auch auf eine Gesetzesänderung dringen.
Cassis hatte sich schon vorsichtig in diese Richtung bewegt: In seinem Konzept der „kooperativen Neutralität“ hatte er vorgeschlagen, die Wiederausfuhrbestimmungen für Rüstungsexporte zu lockern. Doch damit biss er bei seinen Kollegen in der Mehrparteienregierung auf Granit. Nach Ansicht der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP), der mit Abstand wählerstärksten politischen Kraft, ist die Schweiz schon jetzt zu weit gegangen.
Schweiz: Freund aller Diktatoren?
Der SVP-Doyen Christoph Blocher sieht die Schweiz wegen ihrer Übernahme der Sanktionen als „Kriegspartei“ und schrieb den irren Satz: „Die Schweiz hilft mit, dass blutjunge russische Soldaten sterben müssen.“ Der Milliardär hat jetzt eine „Neutralitätsinitiative“ lanciert. Diese verlangt, dass die Schweiz künftig auf jegliche Wirtschaftssanktionen verzichten soll. So macht man sich zum Freund aller Diktatoren in der Welt und bleibt mit diesen im Geschäft, auch wenn die Kanonen donnern.
Unter dem Deckmantel der Neutralität hat die Schweiz früher schon eifrig Geschäfte gemacht. Im Zweiten Weltkrieg lieferte sie Waffen an die Nazis, unterstützt mit Regierungskrediten aus Bern, während sie ihre Grenzen für die Verfolgten des Regimes schloss. Während der Apartheid betrieb das Land regen (Gold-)Handel mit Südafrika. Wirtschaftlicher Opportunismus zeigt sich auch im Kuschelkurs gegenüber China: Die Schweiz hat sich den Einreise- und Finanzsperren, welche die EU wegen der Unterdrückung der Uiguren im vergangenen Jahr verhängt hatte, bis heute nicht angeschlossen.
Die jüngsten Sanktionen der EU gegenüber Iran hat Bern nur zu einem kleinen Teil übernommen. Der Bundesrat begründet dies mit den Schutzmachtmandaten, die die Schweiz in Iran für die Vereinigten Staaten und andere Länder innehat. Derlei „Gute Dienste“ dienen der Schweiz immer wieder als Feigenblatt, um nicht Farbe zu bekennen.
Diesen Opportunismus kann sich der Bundesrat nicht mehr erlauben, zumal er schon mit dem einseitigen Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen mit der EU außenpolitisch sehr viel Porzellan zerschlagen hat. Die von parteipolitischen und persönlichen Interessen zerrissene Regierung in Bern sollte erkennen, dass der Wohlstand der Schweiz nur im engen Schulterschluss mit jenen Partnern gesichert werden kann, die für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stehen. Er wisse ja, so sagte der ukrainische Präsident Selensky Ende September, dass die Schweiz historisch neutral sei. „Aber wenn es um Gut und Böse geht, muss man vielleicht Position beziehen.“
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 11.11.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.