Putins Welt und seine Wahrheiten

Kampf um die künftige Weltordnung: Der Westen gegen Russland und den Rest der Welt

von Esther Weitzel-Polzer
Putin und die neue Weltordnung
"Putin hat die Mission, Russland und das russische Volk vor der Zerstörung zu retten, weil der Westen Russland zerstören will."

Am Morgen des 24. Februar 2022 hat uns der Überfall Russlands auf die Ukraine jäh in eine von uns bis dahin nicht wahrgenommene Wirklichkeit katapultiert. Seitdem sind wir gezwungen, den von uns kultivierten Zustand der Selbsttäuschung zu verlassen, was uns sichtlich schwerfällt.

Inzwischen werden uns andere Perspektiven vertraut. Wir lernen Wladimir Putin anders zu sehen und müssen begreifen, dass er nicht nur gelogen hat. Er leugnete immer die Morde, die Giftanschläge und die vielen Angriffe auf unsere Werteordnung, wozu er perfide disruptive Strategien anwendet. Darüber hinaus hat er uns über viele Jahre hinweg Gelegenheiten gegeben, seine Wahrheit kennenzulernen.

Seine Wahrheit ist in sich und für sich schlüssig: Russland ist immer unschuldig, an allem, was der Westen diesem Land zuschreibt. Putin hat die Mission, Russland und das russische Volk vor der Zerstörung zu retten, weil der Westen Russland zerstören will. Putins Gedankenwelt wird in einer geistigen Giftküche zusammengebraut, in die er die Welt, die es wissen wollte, schon länger eingeladen hatte. Die politischen und gesellschaftlichen Eliten der westlichen Welt haben die Einladung offensichtlich nicht angenommen.

Der Philosoph Iwan Iljin und Putins Kopf

Der französische Philosoph Michel Eltchaninoff mit russischem Migrationshintergrund gibt uns Einblick in „Putins Kopf“. Was die Ukraine betrifft, war Putin immer der Meinung, dass „die Brüderschaft“ zwischen der Ukraine und Russland eine „historische Tatsache“ sei, und dies äußerte er für alle, die es wissen wollten, schon im Jahr 2001. Damit sagte er deutlich, dass er eine eigenständige Entwicklung der Ukraine nicht akzeptieren wird.

Er umgab sich systematisch mit Menschen, die die Zutaten für seine geistige Giftküche lieferten, und ein Hauptlieferant soll der russische Philosoph Iwan Iljin (1883 – 1954) sein, der die antidemokratischen und antiwestlichen Denkmuster in der russischen Elite, die Putin umgibt, geprägt hat.

Nach Eltchaninoff ist Iljins Werk „Was verheißt der Welt die Aufteilung Russlands?“ das von Putin meistgeschätzte Werk. Iljin vertritt die Meinung, dass der Westen Russland zerstückeln und damit zerstören will. Erkennbar werde dies, wenn die Ukraine, das Baltikum, der Kaukasus und Zentralasien Eigenständigkeit erlangen wollen. Damit werde Russland zerstört, weil es ein „historisch gewachsener und kulturell gerechtfertigter Organismus“ sei, zu dem diese Länder gehören.

Freiheit sei ein „heuchlerischer Wert“, der vom Westen instrumentalisiert werde, um der Individualität zum Durchbruch zu verhelfen. „Die Individualität ist verdorben, vergänglich und allein die göttliche Totalität hat Bedeutung. … Weil die Welt sündig ist, muss ein Sachwalter aus einem sündenfreien Reich jenseits der Geschichte kommen. Dabei erwächst die Macht dem starken Mann ohne sein Zutun. … Er kommt aus dem Nichts … und die Russen werden ihn als Erlöser erkennen. … Der Erlöser tritt aus der Fiktion hervor, schenkt den Fakten der Welt keine Bedeutung und umgibt sich mit einem Mythos. Indem er die Last der russischen Leidenschaft auf sich nimmt, kanalisiert er die ‚böse Natur des Sinnlichen‘. … Der Führer wird männlich sein, wie Mussolini sein, er wird hart werden im gerechten und männlichen Dienst … inspiriert vom Geist der Totalität. … Er steht allein, er weiß, was getan werden muss und die Russen werden von dem ‚Leib gewordenen Wesen Russlands, dem Werkzeug seiner Selbstbefreiung‘ knien.“ (Zitiert nach Snyder, T. 2019)

Es ging demnach nicht darum, was die Nato tut oder lässt, es ging und geht darum, dass dem Westen grundsätzlich nicht zu trauen ist und darum, wie sich Putin und die russische Elite mit disruptiven Strategien ins Herz der westlichen Welt einpflanzen können, was der Rettung Russlands und der Zerstörung des Westens dient.

Putin, Trump und die europäische Rechte

Neben Eltchaninoff hat der amerikanische Historiker Timothy Snyder in umfangreichen historischen Recherchen lange vor dem 24.2.2022 auf die Entwicklung von Putins geistiger Giftküche hingewiesen, und auch seine Erkenntnisse fanden bis zum Ausbruch des Kriegs nur marginales Interesse.

Snyder gibt tiefen Einblick in Putins „Erfolgsgeschichte“ im Zusammenhang mit der Anwendung seiner disruptiven Strategie. Putin konnte die US-Wahlen beeinflussen und er war maßgeblich daran beteiligt, dass Trump im Jahr 2016 zum Präsidenten der USA gewählt wurde. Putin hat die europäische politische Rechte gestärkt, er finanzierte den französischen Front National, und trotzdem gaben rund 43 Prozent der französischen Wähler, auch nach Ausbruch des Kriegs und den nachgewiesenen Kriegsverbrechen Putins in der Ukraine, Frau Le Pen ihre Stimme.

Putin war sehr erfolgreich am Brexit beteiligt, Nigel Farage (Gründer der Brexit-Partei) war laut Snyder ein Dauergast in den russischen Staatsmedien, die Putin als Propagandamaschine für seine Zwecke nutzt. Und Europa ist durch den Brexit massiv geschwächt. Auch wenn Boris Johnson heute ein glühender Verfechter des Sieges der Ukraine ist und sich gegen Putin stellt, hat er dazu beigetragen, Europa und den Westen mit Putins Hilfe zu schwächen. Die systematische Schwächung des Westens und insbesondere der EU waren eine strategische Voraussetzung Russlands für die „Ukraine-Mission“.

Über die engen Verbindungen zu Berlusconi hat Putin bis heute Einfluss auf die italienischen Medien. Am Abend des 1. Mai bot der Berlusconi-Sender Rete 4 dem russischen Außenminister 42 Minuten lang die Chance zur hybriden Kriegsführung. Er konnte seine Lügen ohne Rückfragen und Zwischenkommentare verbreiten. In Italien liegt die Zustimmung zur Unterstützung der Ukraine EU-weit am niedrigsten.

Nicht zu vergessen sind Putins Erfolge bei der Verbreitung seines Gedankengutes im Kontext von Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Hilfe für Geflüchtete, Diversität und Rechte von Frauen. Vor dem Überfall auf die Ukraine waren viele osteuropäischen Mitgliedstaaten in der EU glühende Verfechter genau dieses Teils von Putins geistiger Welt. Homophobie, Xenophobie, Verbot von Abtreibungen und die Abschaffung der Grundlagen des Rechtsstaats fanden Anklang, und die regierende PiS-Partei in Polen und Orbán in Ungarn taten sich in diesem Zusammenhang besonders hervor. Ende September 2015 begann Putin seinen kriegsverbrecherischen Einsatz in Syrien.

Not macht Menschen anfällig für disruptive Strategien

Nur wenige Tage zuvor hatte das Elend der Geflüchteten aus den Kriegsgebieten (und anderen Not leidenden Gebieten der Welt) Europa dem bis dahin größten Stresstest ausgesetzt. Die osteuropäischen Staaten verweigerten jede Unterstützung und damit war klar, dass Europa vor der Zerreißprobe stand. Was lag da näher, als noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, um den eigenen Zielen näher zu kommen? Putin bombardierte in Syrien die Zivilbevölkerung und fachte weitere Flüchtlingsströme an.

141 Mitgliedsstaaten der UN verurteilten den Krieg Russlands gegen die Ukraine, das ist die Mehrheit der Staaten auf dieser Welt. In der Liste der Länder, die sich enthalten haben, befinden sich aber die Länder mit der größten Bevölkerungszahl. Die Länder Afrikas und Asiens sind nicht mehr im westlichen Boot.

Für diese Erfolgsgeschichte brauchte Putin natürlich einen „fruchtbaren Boden“, den er im Westen aufgrund der inneren Schwächen der westlichen Systeme fand. Maßgebliche politische und wirtschaftliche Entscheidungen verbunden mit der Globalisierung und dem Einfluss der wirtschaftsliberalen Denkschulen in den USA haben eine geringe Zahl von Superreichen immer reicher gemacht, viele Menschen wurden ärmer, und ganze Landstriche sind in Armut versunken. Auch in Europa wurde wegen der wachsenden Ungleichheit der Boden für den Erfolg disruptiver Strategien vorbereitet.

Das, was die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg ausmachte, war das Konzept der sozialen Marktwirtschaft. Die Vermeidung großer Ungleichheit und die Wahrung des sozialen Friedens sind tragende Elemente dieses Konzepts. Bei der Umsetzung notwendiger Reformen gewannen aber auch in Deutschland die neoliberalen Wirtschaftskonzepte an Einfluss und bestimmten schließlich die politischen Entscheidungen.

Das führte unter anderem dazu, dass knapp drei Millionen Sozialwohnungen aus dem öffentlich-rechtlichen Besitz herausgelöst wurden, was heute mit dazu beiträgt, dass viele Menschen mit niedrigen Einkommen Probleme bei der Wohnungssuche haben, die bisweilen existenzieller Natur sind. Solche Nöte machen Menschen anfällig für Putins disruptive Strategien.

Wir hatten demnach Gelegenheit, uns auf das, was am 24. Februar 2022 seinen Anfang genommen hat, vorzubereiten. Wir haben nicht zugehört und das, was aus der Giftküche zu uns drang, nicht ernst genommen. Deshalb wurden viele falsche Entscheidungen getroffen, unsere Wirtschaft und unser Wohlstand auf tönernen (Gas-)Füßen aufgebaut, und heute sitzen wir in der Falle.

Der Westen gegen den Rest der Welt

Der Westen hat umfangreiche Sanktionen gegen Russland beschlossen, russische Rohstoffe finden aber längst Abnehmer in den Staaten, die großen Energiehunger haben und die sich aufgrund ihrer eigenen Interessenlage nicht an den Sanktionen beteiligen. Der Rubel stabilisiert sich und in allen westlichen Ländern droht die Wirtschaft in die Rezession abzugleiten. Unser Instrumentarium funktioniert nicht mehr wie gewohnt.

Die Verantwortung für das Desaster wird im Meinungsmainstream den politisch Verantwortlichen zugeschrieben. So leicht können wir es uns nicht machen. Wir müssen uns fragen, ob wir als Gesellschaft bereit sind, aus der Komfortzone auszusteigen.

Wohlstand und Demokratie lassen sich nicht in der Hängematte retten. Wir müssen dafür kämpfen, und das können die Ukrainer nicht stellvertretend für uns tun. Was geschieht, wenn wir eines Tages wieder einmal ahnungslos aufwachen und feststellen, dass die Strategie, die Nato-Truppen aus dem Krieg rauszuhalten, nicht funktioniert?

Hören wir zum Abschluss, wie Sergej Karaganow, der strategische Architekt des Kremls, die Lage sieht: Der Krieg in der Ukraine ist ein „Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und dem Rest der Welt“. Russland ist „die Spitze des Rests für eine zukünftige Weltordnung“. Deshalb ist der Einsatz der russischen Elite sehr hoch – „für sie ist es ein existenzieller Krieg“.

Die westlichen Waffenlieferungen werden als Eskalation gesehen und Karaganow vermutet, dass man die Polen, „die immer zum Kampf bereit“ sind, als Erste aktiv im Krieg sehen wird. Damit sind für ihn die weiteren Eskalationsstufen klar. Die Verantwortung für den Einsatz von Atomwaffen sieht er bei den USA. Russland geht nicht davon aus, dass die USA einen „Atomwaffen-Staat“ angreifen werden, genauso wie er vermutet, dass die USA keine eigenen Truppen ins Gefecht senden werden.

Esther Weitzel-Polzer ist Soziologie-Professorin an der FH-Erfurt im Ruhestand mit den Lehrgebieten NGO-Management, Diversität und Biographieforschung.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 4.7.2022 im Rahmen der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung erschienen. Wir danken der Redaktion des Blatts für die Erlaubnis, diesen Text auf KARENINA zu veröffentlichen.

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