Putins präziser Plan

Rückblickend erscheint klar, dass Putin den Angriff auf die Ukraine lange vorbereitete

von Heiko Pleines
Putin
Voller Verachtung für die Regeln internationalen Rechts; Wladimir Putin

Im Rückblick zeigt sich, dass ein enger Führungskreis um den russischen Präsidenten Wladimir Putin den aktuellen Krieg in der Ukraine bereits seit Jahren systematisch vorbereitet hat. Es ist von außen nicht erkennbar, wann genau der Entschluss zum Angriff auf die Ukraine getroffen wurde. Aber spätestens 2014 begann Russland sich auf einen eskalierenden Konflikt mit dem Westen vorzubereiten und bereits in seiner ersten Amtszeit machte Putin deutlich, dass es ihm um die Wiederherstellung Russlands nationaler Größe geht und dass die Ukraine aus seiner Sicht zu Russland gehört.

Damals war nicht erkennbar, dass Putin bereit sein würde, dafür auch einen Angriffskrieg zu beginnen und es gibt auch keine Belege für entsprechende Pläne. Eine neue Bestandsaufnahme dient deshalb nicht dazu, im Rückblick schlauer zu sein, sondern ermöglicht ein besseres Verständnis russischer Politik.

Putins Reden

Experten, die sich mit Putins Reden und seiner dahinter erkennbaren politischen Position auseinandergesetzt haben, haben schon früh die Bedeutung betont, die Putin der Stärkung des Staats und der nationalen Einheit beimisst. In diesem Sinne wurden Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik und auch die Modernisierung des Lands von vorneherein nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zur Stärkung der Nation verstanden.

Jakob Fruchtmann schrieb so bereits 2004: „Der Putinsche Diskurs polarisiert die politische Landschaft – auf der einen Seite stehen, so die Vorstellung, alle Patrioten, die für Russlands Rettung durch nationale Einheit sind. […] Auf der anderen Seite stehen Menschen, die verdächtig sind, ihre Partikularinteressen in der Zeit der Not nicht dem Gemeinwohl unterzuordnen.“

Und in Putins Rede zur Lage der Nation im April 2005 findet sich bereits die vielzitierte Aussage: „Vor allem müssen wir zugeben, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts war. Für das russische Volk ist sie zu einem echten Drama geworden.“

Zur selben Zeit begann die russische Regierung eine einheitliche Sicht auf die russische Geschichte zu etablieren, bis hin zur Gründung einer „Kommission beim Präsidenten der Russischen Föderation zur Abwehr von Versuchen der Geschichtsfälschung zu Lasten russischer Interessen“ im Jahr 2009. Alexei Miller konstatierte: „Geschichte und Gedenken [werden] als Arena für den politischen Kampf gegen innere und äußere Gegner gesehen. Daraus leitet sich ab, dass ‚Geschichte zu wichtig ist, um sie den Historikern zu überlassen‘.“

Beim Nato-Gipfel 2008 erklärte Putin, dass die Ukraine „kein richtiges Land“ sei. In der populären im Fernsehen übertragenen Fragerunde des Präsidenten mit Anrufern aus dem ganzen Land erläuterte er im April 2014 nach der Annexion der Krim, dass die Teile der Ukraine, die in Russland zunehmend als „Neu-Russland“ bezeichnet werden und die in Putins Aufzählung fünf ukrainische Regionen bis hin zur ukrainischen Westgrenze umfassen, eigentlich nicht zur Ukraine, sondern zu Russland gehören.

Inhaltlich ist es kein allzu großer Schritt bis zu Putins Aufsatz „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ vom Juli 2021. Der renommierte Osteuropa-Historiker Andreas Kappeler stellte in seiner Besprechung des Aufsatzes fest: „Politisch gibt er einen Einblick in Putins Gedankenwelt, in der sich Sowjetpatriotismus, imperialer und russischer Ethnonationalismus sowie revisionistisches Denken vermischen. […] Der Aufsatz belegt, dass Russlands Staatsführung nicht akzeptiert hat, dass die Ukrainer eine eigene Nation mit einem unabhängigen Staat sind. Putins Drohungen sollten ernst genommen werden.“

Während sich im Rückblick eine klare Linie zeigen lässt, hat Putin aber auch oft andere Töne angeschlagen. Selbst in seiner sogenannten Wutrede bei der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2007, in der er die Nato-Osterweiterung als unbegründete Provokation kritisierte, sagte er auch: „Ich bin überzeugt, dass der einzige Mechanismus zur Entscheidung über die Anwendung von Gewalt als letzte Maßnahme nur die UN-Charta sein darf“ und er warb für Abrüstungsverhandlungen.

Im Rückblick lässt sich diese Aussage so einordnen, dass es statt der UN-Charta um den UN-Sicherheitsrat ging, in dem Russland ein Veto hat und dass Abrüstungsverhandlungen natürlich auch Kriege möglich machen können. Eindeutig war dies nicht. Ebenso gab es in der russischen Politik auch keine permanente Debatte um die Ukraine, sondern nur Reaktionen in Krisenzeiten.

Hinzu kommt, dass der politischen Führung um Putin eine sehr professionelle Kommunikationspolitik attestiert wurde, die auf Umfrageergebnisse reagierte und flexibel mit Krisen umging. Dieser kurzfristige Pragmatismus ließ ideologische Extreme eher als Strategie zur Mobilisierung von Unterstützung und weniger als zentrale politische Mission erscheinen. Die nationalistische Propaganda im Kontext der Krim-Annexion 2014 wurde so von vielen Analysten, mich eingeschlossen, als Versuch interpretiert, die Popularitätsverluste nach dem Ende des Wirtschaftsbooms zu kompensieren. Henry Hale spricht so in einem Sammelbandbeitrag von einer „nationalistischen Wende“ 2014. Die Annahme dahinter entspricht einer Kernidee der Politikwissenschaft: Zentrales Ziel politischer Herrscher ist die Machtsicherung, nicht die Realisierung einer Mission.

Putins Politik

Ein Rückblick auf viele Bereiche russischer Politik seit dem Amtsantritt von Präsident Putin im Jahr 2000 zeigt, dass schon sehr früh Abhängigkeiten vom Westen abgebaut wurden.

In der Wirtschaftspolitik wurde innerhalb der ersten zwei Amtszeiten Putins die Auslandsverschuldung des russischen Staates von 45 Prozent des BIP auf unter 2 Prozent reduziert. Die Zentralbankreserven wurden in diesem Zeitraum von 28 Milliarden US-Dollar auf mehr als 400 Milliarden erhöht und zusätzlich wurde ein Ölfonds geschaffen, der 2008 bereits über 200 Milliarden US-Dollar wert war. 2021 lag die russische Außenschuld bei unter 4 Prozent, der Wert von Zentralbankreserven und Ölfonds zusammen bei über 800 Milliarden US-Dollar.

Während die ursprüngliche Einschätzung von Ökonomen – und wohl auch von für diese Politik verantwortlichen russischen Finanzpolitikern – gewesen war, dass Russland im Ölboom der 2000er-Jahre im Rahmen einer konservativen Fiskalpolitik Reserven für Wirtschaftskrisen anlegte und gleichzeitig hohe Inflation verhinderte, zeigte spätestens die Corona-Krise, dass diese Gelder auch bei einer extremen Wirtschaftskrise nur in geringem Umfang eingesetzt wurden, also wohl – zumindest zu diesem Zeitpunkt – für einen anderen Zweck reserviert waren.

Unter Putin wurde die russische Armee erheblich aufgerüstet. Die realen Rüstungsausgaben, wie sie das Stockholmer Institut für Friedensforschung (SIPRI) regelmäßig berechnet, haben sich von 2000 bis 2019 fast verdreifacht. Putin präsentierte regelmäßig persönlich neue Waffensysteme. Aufrüstung bedeutet natürlich nicht automatisch Kriegsvorbereitung, erst recht nicht für einen Angriffskrieg. Die Großmanöver Russlands in den letzten Jahren waren hier schon konkreter, konnten aber auch einfach eine Drohkulisse sein, um eine bessere Verhandlungsposition zu erreichen.

Gleichzeitig bemühte sich Russland, von Importen unabhängiger zu werden. Im Bereich der Landwirtschaft erfolgte dies vor allem über die „Gegensanktionen“, die 2014 den Import vieler Agrarprodukte verboten. Interpretiert wurde dies als Politik der Importsubstitution, die die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Produktion erhöhen sollte, was in großen Teilen auch gelang.

Im Rückblick erscheint dies aber eher wie eine Politik der Autarkie, die das Land unempfindlich gegen plötzliche Sanktionen macht. Gunter Deuber beschrieb so die „Festung-Russland“-Strategie, die seit 2014 in Reaktion auf westliche Sanktionen verfolgt wurde.

Auch im Bereich der Finanzen, mit der Etablierung eines eigenen Zahlungssystems, und des Internets, mit Versuchen das Runet weitgehend zu isolieren, wurde offensichtlich eine Autarkie-Politik verfolgt. Diese wurde aber in der Regel mit Blick auf China interpretiert, welches in beiden Bereichen weiter fortgeschritten war und (so zumindest bis heute die verbreitete Interpretation) vor allem eine eigenständige technologische Entwicklung und Zensur im Innern sichern will.

Die in Russland stetig zunehmende staatliche Repression gegen politische Opposition und unabhängige Medien wurde, sicher nicht ganz zu Unrecht, als Mittel der Machtsicherung interpretiert. Die von Russland provozierte außenpolitische Eskalation im Jahr 2021 konnte im Zusammenhang mit der Verhaftung des prominentesten Oppositionspolitikers Alexei Nawalny,  der Ausschaltung seiner Organisation und weiterer unabhängiger Stimmen durchaus als Versuch gesehen werden, im Inneren den patriotischen Konsens zu fördern und im Ausland von Repressionen abzulenken. Im Rückblick ging es aber wohl darum, möglicher Opposition gegen einen Krieg jegliche organisatorischen und moralischen Repräsentanten zu nehmen.

Putins Ziel: Russland wieder stark machen

Ein großer Teil der russischen Begründung für die eigene Außenpolitik bezieht sich auf die Bedrohung durch die Nato, konkret durch die Nato-Osterweiterung. Für das Gefühl der Bedrohung ist weder relevant, ob die Nato-Osterweiterung legitim war oder einen Vertrauensbruch darstellt, noch ob die Nato tatsächlich bedrohliche Absichten hat. Extrem formuliert: Auch das Bedrohungsgefühl von Paranoikern ist echt und handlungsrelevant.

Ein Blick auf die aktuelle militärische Strategie Russlands in der Ukraine zeigt aber, dass das direkte militärische Nichteingreifen der Nato offensichtlich fest eingeplant ist. Es gibt keinen Versuch, die Grenze zur Nato oder die russische Flotte im Schwarzen Meer abzusichern.

Die bisherige Argumentation bedeutet natürlich nicht, dass die Eroberung der Ukraine bereits seit dem Amtsantritt Putins geplant wurde. Im Jahr 2013 zum Beispiel gab es in Russland die berechtigte Hoffnung, dass der Druck auf den ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch den Beitritt des Lands zu den russischen Wirtschafts- und Militärbündnissen bewirken könnte. Nur die Massenproteste des Euro-Maidan verhinderten dies.

Ebenso ist zu beachten, dass die konkrete Kriegsplanung offensichtlich im kleinsten Kreis erfolgte. Öffentliche Aufzeichnungen von Gesprächen des Nationalen Sicherheitsrats und der Regierung zeigen, dass viele Mitglieder dieser zentralen Entscheidungsgremien offensichtlich nicht voll informiert waren.

Deutlich ist aber, dass Putin von Beginn seiner Amtszeit den Zusammenbruch der Sowjetunion bedauerte und das Wiedererstarken Russlands als zentrales Ziel sah. Hinzu kommt ein Verständnis von Außenpolitik, das sich auf Einflusszonen bezieht. Henning Schröder schrieb so bereits 2006 zur russischen Außenpolitik: „Dabei ist die erste Priorität die Konsolidierung der eigenen Stellung im ‚nahen Ausland‘, d. h. Einflussnahme auf Entwicklungen in den GUS-Staaten – einschließlich Bereitschaft, mit Georgien oder Moldowa in eine Konfrontation einzutreten.“ Wie weit dieses Verständnis von Außenpolitik, auch mit seiner spätestens seit 2014 expliziten nationalistischen Begründung, von der westlichen Perspektive entfernt ist, scheint in Russland unterschätzt worden zu sein.

Putins Fehlkalkulation

Der militärische Einmarsch in die Ukraine brachte dann im Februar 2022 offensichtlich nicht den erhofften schnellen Sieg. Ein vorab terminierter Jubel-Kommentar bei mehreren staatlichen Nachrichtenagenturen zur „russischen Einheit“ aus drei Staaten (Russland, Weißrussland und Ukraine als „Klein-Russland“) sowie „der Schaffung einer neuen Weltordnung“ verschwand am dritten Kriegstag schnell wieder aus dem Internet. Gleichzeitig waren die Sanktionen offensichtlich härter als von Russland erwartet, insbesondere die Neutralisierung eines großen Teils der Währungsreserven durch die Finanzsanktionen.

Mit dieser Fehlkalkulation stand die russische Führung aber nicht alleine da. Auch Militärexperten im Westen hatten angesichts der erdrückenden zahlenmäßigen Überlegenheit der russischen Armee in allen Bereichen im Fall einer Invasion mit einem schnellen Sieg gerechnet und die Debatte um Sanktionen schien noch kurz vor dem Kriegsbeginn durch Russland vor allem auf Nord Stream 2 konzentriert, also auf einen zukünftigen alternativen Transportweg, nicht auf aktuelle russische Exporte.

Der Krieg bestätigt auf perfide Weise das Mantra der Pipelinebefürworter, dass der Energiehandel für beide Seiten, für Russland und für viele europäische Staaten, insbesondere Deutschland, zu wichtig sei, als dass er einfach abgebrochen werden könnte. Dementsprechend werden auch nach Kriegsbeginn die russischen Lieferverpflichtungen für Erdgas durch ukrainische Pipelines voll erfüllt. Trotz extrem hoher Preise hatte Russland im Vorjahr seine Lieferungen nicht erhöht. Das Ziel war ganz klar, für den Zeitpunkt des Kriegs die Abhängigkeit von weiteren Lieferungen aufgrund leerer Gasspeicher zu erhöhen.

Soweit die bescheidenen Geländegewinne in der Ukraine dies zeigen können, scheint die längerfristige Strategie Russlands für die Ukraine dem Vorbild der „Volksrepubliken“ in der Ostukraine zu folgen. Mit Hilfe russischer Sicherheitskräfte werden potenzielle Organisatoren von Widerstand und Protesten ausgeschaltet, die Macht wird formal an einheimische pro-russische Politiker übergeben, die dann mit einer Terrorherrschaft die Kontrolle übernehmen.

Hier ist die allgemeine Einschätzung internationaler Experten, dass dies dauerhaft kaum funktionieren kann. Die Ukraine ist (nach Russland) der größte Flächenstaat Europas. Nach der wahllosen Bombardierung ziviler Ziele durch die russische Armee ist in der Ukraine wohl kaum noch mit Sympathie für die Besatzer zu rechnen.

Wenn Russland die gesamte Ukraine kontrollieren will, erfordert das Kapazitäten, die die Fähigkeit der Armee, Nationalgarde und Geheimdienste übersteigen dürften. Wenn Russland nur einen Teil der Ukraine kontrollieren will, dann wird es – wo auch immer – eine lange Grenze geben, die immer wieder Ziel von Angriffen sein dürfte.

Bereits der Versuch der militärischen Eroberung hat kurzfristig hohe Verluste der Armee und immensen wirtschaftlichen Schaden durch die Sanktionen bewirkt. Langfristig dürfte Russland sowohl militärisch als auch wirtschaftlich mit jedem möglichen Szenario überfordert sein. Staaten wie Iran, Venezuela, oder Nordkorea demonstrieren aber auf unterschiedliche Weise, dass eine aus Sanktionen resultierende lange und schwere Wirtschaftskrise weder einen vollständigen Zusammenbruch noch einen Machtwechsel oder eine weniger aggressive Außenpolitik bewirken muss.

Schlussfolgerung

Niemand kann die Entscheidungen einer kleinen Gruppe politischer Führer vorhersagen. Dies gilt umso mehr, wenn sie sich von alternativen Informationsquellen und Ratschlägen isolieren und, wie vor allem auch der arrogante und aggressive Kommunikationsstil nahelegt, von der eigenen Überlegenheit und Mission überzeugt sind.

Russland hat seit 2014 jedes Mal gelogen, wenn es um den Einsatz der eigenen Armee in der Ukraine ging und zeigt jetzt in allen Stellungnahmen vollständige Verachtung für die Regeln internationalen Rechts. Hier auf eine konsensuale Verhandlungslösung zu setzen, ist naiv.

Wenn das Verschieben von Staatsgrenzen durch unprovozierten Krieg und die wahllose Zerstörung ziviler Ziele nicht dauerhaft die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln werden sollen, dann muss jetzt so nachdrücklich und so schnell wie möglich der Preis für diese Politik erhöht werden. Je größer der wirtschaftliche Druck durch Sanktionen und vielleicht auch der moralische Druck durch Ächtung, desto größer die Chance, dass es in Russland an verschiedenen Stellen Widerspruch gegen den Krieg gibt. Je schneller der Druck erfolgt, je geringer sind die Möglichkeiten Russlands diesen abzufedern oder sich schrittweise anzupassen.

Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: Ukraine-Analysen Nr. 417 vom 21.3.2022. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, den Text auch auf KARENINA zu veröffentlichen.

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