In welche Welt gehen wir?
Ende der Illusionen: Die europäische Ordnung liegt in Scherben, alles ändert sich
Der Weltprozess gerate plötzlich in furchtbare Schnelligkeit; Entwicklungen, die sonst Jahrhunderte brauchen, schienen in Monaten und Wochen wie flüchtige Phänomene vorüberzugehen und damit erledigt zu sein: So beschrieb Jacob Burckhardt in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ das Wesen der Krise als großer Beschleunigerin.
Mit einem eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht, dem Krieg gegen den unabhängigen europäischen Staat Ukraine, hat Putin versucht, die Ergebnisse der europäischen Revolutionen von 1989/90 zu seinen Gunsten zurückzubuchstabieren. Wenn demnächst in der Ukraine ein Marionettenregime von Putins Gnaden installiert sein wird, wird sich der russische Waffengang als Pyrrhussieg erweisen.
Die europäische Ordnung liegt bereits in Scherben. Nichts wird mehr so sein, wie es war. Ein Russland unter Putins Führung ist als Partner nicht mehr vorstellbar.
Die Krise der alten Ordnung wird nicht zu einer schönen neuen Welt, sondern zu einem neuen Zeitalter der Konfrontation und der Großmachtrivalität führen. Erinnerungen an die sowjetische Außenpolitik werden wach. Die Geschichte wiederholt sich nicht.
Putin hat indes in der deutschen Sicherheitspolitik geschafft, wozu in den letzten 20 Jahren kein Kanzler willens und keine Koalition fähig war: eine sicherheitspolitische Kehrtwende, die die Realitäten anerkennt und die Nato-Verteidigungsziele erreicht.
Warum gerade jetzt?
Weltordnungen bleiben nie statisch, sie verändern sich. Die Dynamik internationaler Beziehungen wird seit je beeinflusst von technologischen, wirtschaftlichen, sozialen, ideengeschichtlichen oder völkerrechtlichen Entwicklungen. Internationale Konstellationen und innerstaatlicher Systemwandel müssen dabei immer als zusammenhängendes Ganzes gesehen werden.
Putins Flucht in den Krieg sagt viel aus über den inneren Zustand seines Lands. Die jüngsten Ansprachen lassen eine Gehetztheit und Aggressivität erkennen, die nur als Schwäche ausgelegt werden kann. Je gefestigter ein Land in seinem Inneren ist, je grösser der demokratische Grundkonsens, das Einverständnis über gemeinsame Positionen, desto berechenbarer wird seine Außenpolitik erscheinen.
Warum hat Putin ausgerechnet jetzt den Zeitpunkt für seine Aggression gesucht? Strategische Unsicherheiten, die innere Krise der Europäischen Union, vermehrte Zeichen amerikanischer Schwäche unter Präsident Biden haben dazu beigetragen. Der überstürzte und auch mit den Verbündeten schlecht abgestimmte Abzug aus Afghanistan steht dafür. Die amerikanische Hegemonie befindet sich im Niedergang, Chinas machtpolitischer Aufstieg ist nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch sicherheitspolitische Bedrohung und eine Auseinandersetzung der Systeme.
Zugleich nehmen die Erosionserscheinungen innerhalb der demokratischen Systeme zu. Die Brüchigkeit der freiheitlichen Ordnung hat sich in der Geschichte immer dann besonders deutlich manifestiert, wenn Bindungen nachließen und der Zusammenhalt schwand.
Asymmetrie zwischen Europa und USA
Die gegenwärtige Krise lenkt insbesondere den Blick auf die machtpolitische Asymmetrie zwischen Europa und Amerika. Diese Asymmetrie ist zunächst nichts grundlegend Neues. Sie war in der Ordnung von Jalta und Potsdam angelegt und hat auch in den ersten zwanzig Jahren nach dem Fall der Mauer fortbestanden, als sich Amerika von 1990 bis etwa 2006 auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung befand. Aber diese Asymmetrie können sich weder Europa noch Amerika auf absehbare Zeit leisten, wenn sie im Zeitalter der neuen Machtrivalität nicht weiter geschwächt (Amerika) oder gar marginalisiert (Europa) werden wollen.
In welche Welt gehen wir? Im strategischen Wettbewerb der Zukunft geht es vor allem darum, wie ein Leben in Freiheit, Sicherheit, Wohlstand und Nachhaltigkeit möglich ist. Er wird sich – insbesondere innerhalb der internationalen Organisationen – im Ringen um Handels-, Technologie-, Industrie-, Gesundheits-, Sicherheits-, Umwelt- und Menschenrechtsstandards oder um Eigentumsrechte ausdrücken. Gravierendste Folge dieses Wettbewerbs ist eine geoökonomische Neuordnung der Welt, bei der die Karten von Macht und Einfluss neu gezeichnet werden.
Russland: Das getriebene Objekt
Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion und asiatische Flankenmacht war der geopolitische Verlierer des Zusammenbruchs der Ordnung von Jalta und Potsdam im Jahr 1989/90, und Russland wird ein zweites Mal Verlierer sein mit seinem gegenwärtigen Versuch des Revisionismus.
Russland ist es nicht gelungen, die Hypotheken aus der imperialen Vergangenheit der Sowjetunion abzustreifen. Das Land wird damit mehr und mehr vom Subjekt, das die politischen Entwicklungen Europas und der Welt beeinflussen wollte, zum getriebenen Objekt, das mit zunehmenden innenpolitischen Erosionserscheinungen, wirtschaftlicher Schwäche und Anlehnung an China als Juniorpartner zurückgeworfen wird. Der vollständige Anschluss an den Westen misslang, deshalb verblieb als Kategorie nur die Erhaltung der eigenen Macht.
Das Denken in Kategorien der Großmachtpolitik geht in der Tradition der russischen Politik bis in die 1930er-Jahre zurück. Ein wirtschaftlich empfindlich geschwächtes Russland unter Putin, das zugleich Nuklear- und Vetomacht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist, wird weiter unberechenbar bleiben und sich nolens volens an der Seite Chinas wiederfinden. Bei den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen besteht ein deutliches Ungleichgewicht zugunsten Chinas, das traditionell gegenüber Russland einen Überlegenheitsanspruch erhebt.
China ist vor allem daran interessiert, Rohstoffe aus Russland zu beziehen, und betrachtet den Nachbarstaat in erster Linie als Absatzmarkt für seine Fertigprodukte. Russland ist für Europa geografisch, historisch und politisch näher als China, die europäische Geschichte ist seit Jahrhunderten auf vielfältige Weise mit der Geschichte Russlands verbunden.
Europa braucht Russland für die Lösung der unbewältigten Aufgaben auf dem Balkan und in Europas Peripherie. Zu den strategisch weitreichendsten Verschiebungen der geopolitischen Kräfteverhältnisse zählt zudem das künftige Verhältnis zwischen Russland und der Türkei, die ihrerseits in einer tiefen Orientierungskrise steckt und fortgesetzte Neupositionierungsversuche unternimmt.
Europa und USA: Geteilte Werte
Entscheidend für die künftige Entwicklung der Staatenwelt wird die Frage sein, ob sich der schon seit einiger Zeit anhaltende strategische Rückzug der Vereinigten Staaten und der damit verbundene Einflussverlust fortsetzen wird und ob die Europäische Union ihren eigenen ambitionierten Bekundungen endlich Taten folgen lässt, ihre Kultur der Selbstzufriedenheit abstreift und sich zu strategischem Denken und Handeln aufschwingt. Die wirtschaftliche und moralische Stärke der atlantischen Gemeinschaft gründet auf geteilten Werten.
Die Artikel-5-Aufgaben des Washingtoner Vertrags werden im neuen strategischen Konzept der Nordatlantischen Allianz eine Renaissance erleben. Landesverteidigung als Bündnisverteidigung wird eine Kernaufgabe bleiben, die Systemrivalität zu Russland und China wird beim Namen genannt werden.
Eine noch größere Klarheit über die eigene Rolle ist unerlässlich. Nicht nur Deutschland als wirtschaftlich potentestes Land Europas braucht einen Prozess des politischen Umdenkens und die Bereitschaft zu einer Neugestaltung. Gerade aber Berlin mit seinem noch unterentwickelten strategischen Kompass muss eine neue europäische und geopolitische Verantwortung anzunehmen bereit sein. Wenn aber Europa seine Chancen auf Gestaltung verpasst und nicht zu einer neuen Partnerschaft mit Amerika findet, dann wird sich der strategische Bedeutungsverlust Europas fortsetzen.
Damit die Nordatlantische Allianz ihre künftige strategische Bedeutung definieren kann, wird die gemeinsame Beantwortung der über den Geltungsbereich des Washingtoner Vertrags hinausreichenden geopolitischen Fragen eine entscheidende Rolle spielen. Dabei geht es insbesondere auch um die mit den Turbulenzen im Nahen Osten, dem Aufstieg Chinas und den Entwicklungen Asiens verbundenen Fragestellungen.
Die Krise der Ordnung ist eine globale Krise und wird uns noch auf absehbare Zeit fordern. Wenn jetzt das Ende der Illusionen gekommen ist, wäre dies zumindest ein Anfang.
Ulrich Schlie ist Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung und Direktor des Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (Cassis) an der Universität Bonn.
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in: Neue Zürcher Zeitung, 7.3.2022