Bundeswehr nur teilweise einsatzbereit
Putins Krieg und schlechter Zustand von Heer, Luftwaffe und Marine: Die Ampel muss umschalten
Bundeskanzler Olaf Scholz hat Recht: Der russische Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 markiert eine „Zeitenwende“. Man kann sie nur mit dem 9. November 1989 vergleichen, als der Kalte Krieg in Europa endete. Die Jahre dazwischen werden einst als eine friedliche Epoche Europas oder auch als Zwischenperiode erscheinen. Diese hatte vorige Woche mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine definitiv ihr Ende gefunden.
Wir wissen nicht genau, wie lange der Krieg Russlands noch dauern wird. Militärisch ist die Ukraine hoffnungslos unterlegen. Sie hat keine Chance gegen die russische Kriegsmaschine, die operativ professionell und wie im Lehrbuch der Operationsführung mit überlegener Militärtechnik dabei ist, die ukrainischen Streitkräfte niederzukämpfen.
Dennoch: Gerade in der westlichen Ukraine und in den urbanen Regionen der Ukraine könnte sich der militärische und milizartige Widerstand hinziehen. Aber das Ergebnis, die Niederlage der halbkreisförmig umzingelten und von allen Seiten unter Feuer genommenen ukrainischen Armee, steht fest. Und das trotz westlicher Waffenlieferungen, denen sich an diesem Sonntag auch Deutschland angeschlossen hat.
Auch das ist eine Zäsur: Deutschland liefert erstmalig Waffen in einen kriegerischen Konflikt! Das macht die insbesondere von den Grünen geforderte restriktive Waffenexportpolitik weitgehend zur Makulatur. Die Freigabe von 100 Milliarden Euro zur Ausrüstung der Bundeswehr durch Bundeskanzler Scholz ist auch historisch einmalig und der grundlegenden politischen Lageänderung durch den russischen Überfall geschuldet.
Die Ampelregierung ist gezwungen, mit vielen eigenen Maximen ihrer Sicherheitspolitik zu brechen. Dahinter steht die Befürchtung, dass Putin nach dem Fall der Ukraine weitermachen könnte. Es geht darum, ihm den Appetit auf mehr zu nehmen und das Nato-Vertragsgebiet zu schützen. Das geht nur mit einer einsatzbereiten Bundeswehr. Das wird jedoch leider trotz der Freigabe von viel Geld ein paar Jahre dauern.
Europa sicherheitspolitisch nicht handlungsfähig
Im Krisenmanagement um die Ukraine und auch im jetzigen Krieg zwischen Russland und der Ukraine findet Europa als vielbeschworener „sicherheitspolitischer Akteur“ faktisch nicht statt. Die politischen Entscheidungen fallen in Washington, Moskau und Peking. Europa ist lediglich Objekt der Geschehnisse, leider kein gestaltender Akteur.
Das ist ein nicht hinnehmbarer Zustand. Das zu ändern fällt Deutschland mit seiner neuen Regierung eine Schlüsselstellung zu. Die diesbezügliche Aufgabe ist schwierig und verlangt Führungsstärke in und für Europa.
Vor allem müssen wir in der jahrelang vernachlässigten Verteidigungspolitik mit gutem Beispiel vorangehen. Wir brauchen einen viel stärkeren europäischen Pfeiler in der Nato und im Schulterschluss mit den USA, die ihren strategischen Fokus im Fernen Osten sehen und von uns militärische Lastenteilung zur Verteidigung von Nato-Europa fordern.
Sehr kritisch muss man aus Sicht der europäischen Rüstungskooperation die laufenden Einstufungen und Anlagekriterien der EU-Kommission nach ESG-Maßstäben sehen. Hier muss die Ampelregierung unter Olaf Scholz bei der EU in Brüssel durchsetzen, dass Sicherheit und Verteidigung eine conditio sine qua non von Nachhaltigkeit ist und dafür werben, eine Diskriminierung der europäischen Rüstungskooperation zu verhindern.
Man kann nicht EU-seitig „strategische Autonomie“ und Souveränität als Ziele formulieren und gleichzeitig die dazu erforderliche Rüstungszusammenarbeit als nicht nachhaltig klassifizieren. Das passt nicht zusammen.
Kanzler Scholz muss den weiteren Ausbau der militärischen Zusammenarbeit innerhalb der EU und die Bündelung der militärischen Fähigkeiten der Europäer vorantreiben. Die mit Recht geforderte „EU-Sicherheitsunion“ darf dabei kein Konkurrenzunternehmen zur Nato werden.
Wenn es darum geht, dass genuin europäische Sicherheitsaufgaben von Europäern gelöst werden, sind wir auf dem richtigen Weg der Lastenteilung im Bündnis. „Gemeinsamen europäischen Kommandostrukturen“ – wie von Teilen seiner Partei und den Grünen gefordert – sollte Kanzler Scholz schon aus Gründen der Nicht-Finanzierbarkeit eine klare Absage erteilen.
Der Ausbau der EU zu einer globalen Gestaltungsmacht im Rahmen eines starken transatlantischen Bündnisses ist notwendiger denn je. Deutschland als Zentralmacht in der Mitte Europas sollte diesen Prozess weiter aktiv vorantreiben.
Künftige Verteidigung Europas
Es ist absehbar: Wir brauchen insgesamt mehr militärische Kampfkraft, insbesondere an den ostwärtigen Grenzen der Nato. Die Einschränkungen, die wir uns im Rahmen der Nato-Russland-Grundakte aus den 90er-Jahren auferlegt haben, stehen zur Disposition. Wir müssen prüfen, ob rotierende, nicht substanzielle militärische Verbände – wie zurzeit – ausreichen, um die Sicherheit unserer östlichen Bündnispartner auf Dauer und nachhaltig zu gewährleisten.
Insbesondere die Sicherheitslage der drei baltischen Staaten ist stark gefährdet. Sie waren früher Sowjetrepubliken mit russischen Minderheiten, die von Putin – wie in seinem politischen Drehbuch im Donbass – politisch missbraucht werden könnten.
Putin hat vor dem Einmarsch die politische Souveränität der Ukraine einfach und völkerrechtswidrig negiert. Die Gefahr besteht, dass er das mit den baltischen Staaten auch so macht. Eine effektive Verteidigung ist schwierig. Ein nur 80 Kilometer langer Landstreifen verbindet Litauen und Polen, der von russischen Streitkräften im Kriegsfall schnell geschlossen werden könnte. Nato-Verstärkungskräfte für das Baltikum sind also mit Masse auf den Luft- und Seeweg angewiesen.
Wir brauchen gerade im Baltikum eine glaubwürdige militärische Abschreckung, die Putin daran hindert, weiteren Expansionsgelüsten nachzugeben. Auch die langen Ostgrenzen Polens und Rumäniens werden nach der Niederlage der Ukraine besser geschützt werden müssen.
Die am Sonntag von Putin ins Spiel gebrachte und angedrohte nukleare Option ist ebenso ernst zu nehmen und die Raketenabwehr des Bündnisses so zu strukturieren, dass wir in Zukunft nicht durch Russland erpressbar werden. Dazu gehört auch, dass die Ampelregierung sich klar und eindeutig zur nuklearen Teilhabe Deutschlands bekennt.
Auch hier ist sie aufgrund der neuen Bedrohungslage gezwungen, sich von früheren politischen Positionen zu verabschieden. Aufgrund der konventionellen Unterlegenheit von Nato-Europa ist die nukleare Teilhabe und auch die Beschaffung bewaffneter Drohnen ein nicht mehr wegzudenkender, wichtiger Baustein für die künftige Verteidigung Europas.
Effizienter durch „Nationale Sicherheitsstrategie“
Wir brauchen zunächst dringend eine ressortübergreifend unter Federführung des Bundeskanzleramts erarbeitete „Nationale Sicherheitsstrategie“. Der Koalitionsvertrag sieht das vor – und das ist gut so. Wir brauchen dazu kein neues Gremium wie einen Nationalen Sicherheitsrat. Der würde schnell an rechtliche Grenzen stoßen, passt nicht zu deutschen Koalitionsregierungen und zu unserer föderalen politischen Führungskultur. Er ist auch gar nicht nötig, wenn der Mindset des Kanzlers gesamtstrategisch ausgerichtet ist.
Der genuine politische Ort für das Entwerfen einer Nationalen Sicherheitsstrategie und ihrer praktischen Umsetzung in Regierungspolitik ist der Bundessicherheitsrat (BSR) unter Führung des Bundeskanzlers. Olaf Scholz muss ihn nur aktiver gestalten und häufiger zusammentreten lassen. Dabei sollte er die beteiligten Ressortminister in das Erarbeiten einer nationalen Sicherheitsstrategie einbeziehen. Dazu bedarf es keiner neuen Strukturen und Gremien, lediglich einer personellen Verstärkung des Sekretariats im Bundeskanzleramt.
Das funktioniert aber nur, wenn der Kanzler hier einen festen, politischen Willen gegenüber den Ressortministern hat. Er muss politisch durchsetzen, dass der Bundessicherheitsrat aktiviert wird.
Die drängenden sicherheitspolitischen Fragen unseres Lands gehören in Gänze auf die Tagesordnung. Der Bundessicherheitsrat ist der Ort für politische gesteuerte Strategiebildung in Deutschland.
Ernüchternder Zustand der Bundeswehr
Der momentane Zustand der Bundeswehr ist ernüchternd: überbordende Bürokratie, mangelhafte Einsatzfähigkeit, gravierende Materialprobleme, ein verschleppendes Beschaffungswesen, fehlende Attraktivität und massive Personalprobleme (mehr als 20 000 Dienstposten sind weiterhin unbesetzt) – das listen seit Jahren regelmäßig die Berichte des Wehrbeauftragten auf. Die Bundeswehr kann zwar die laufenden Auslandseinsätze wie etwa in Mali und die aktuell der Nato zugesagten Verstärkungen an der Nato-Ostflanke, insbesondere in Litauen, der Slowakei und in Rumänien gerade noch stemmen. Aber die Bundeswehr ist gerade mit Blick auf Szenarios wie die russische Invasion in die Ukraine definitiv nicht einsatzbereit und alles andere als optimal aufgestellt für die Landes- und Bündnisverteidigung.
Wir haben keine kampfkräftigen und durchhaltefähigen Einsatzverbände. Das liegt daran, dass wir in den vergangenen Jahren alles auf die Auslandseinsätze – wie zum Beispiel in Afghanistan oder in Mail – fokussiert und die Landes-und Bündnisverteidigung vernachlässigt haben.
Nur ein Bruchteil des Geräts in Heer, Luftwaffe und Marine ist einsatzbereit. Die Bundeswehr hat Mühe, eine einzige gefechtsfähige Brigade mit etwa 5000 Soldaten für die Nato-Eingreiftruppe auf die Beine zu stellen. Dazu müssen Personal und Material, soweit verfügbar, aus hunderten von Dienststellen und Verbänden abgezogen werden, die dann in der Tat „blank“ sind, im Grunde nur auf dem Papier existieren.
Es gibt Panzerbataillone mit nur fünf Kampfpanzern oder Panzergrenadierbataillone ohne einsatzbereite Schützenpanzer. In einer ähnlichen Lage wie der in der Ukraine könnten unsere Landstreitkräfte uns in keiner Weise schützen.
Deutschland stünde „blank“ da, wenn wir zum Beispiel an der Ostgrenze Polens das Nato-Vertragsgebiet schützen müssten. Wir besitzen einfach nicht mehr die dazu erforderlichen einsatzbereiten und aus dem Stand verfügbaren Großverbände.
Von dem Ziel, im Jahr 2027 wenigstens eine einzige einsatzbereite Division mit drei Brigaden zu haben, ist das Heer meilenweit entfernt, und das Ziel von drei Divisionen im Jahre 2031 zu erreichen wird aufgrund der fehlenden finanziellen, personellen und materiellen Rahmenbedingungen immer unrealistischer. Für eine der größten Volkwirtschaften der Welt ist das ein erbärmlicher und angesichts der aktuellen Bedrohungslage durch Russland nicht hinnehmbarer Zustand.
Wenn das Heer von heute noch maximal eine einsatzbereite, vollausgerüstete Brigade auf die Beine stellen kann und zeitweise weniger Kampfpanzer als die Schweiz hat, unsere Luftwaffe stellenweise nur rund ein Drittel ihrer Kampfflugzeuge startklar hat, die deutsche Marine die kleinste ihrer Geschichte ist und weniger Schiffe in den Einsatz schicken kann als die Niederlande, dann steht Deutschland in der Tat „blank“ da, wie kürzlich der Inspekteur des Heeres Alfons Mais sagte. Insbesondere mit Blick auf die bedrohliche Lage im Osten Europas ist so der Verfassungsauftrag der Bundeswehr nicht leistbar.
Materielle Ausstattung schnell verbessern
Die schnelle Instandhaltung des Geräts und die Versorgung mit Ersatzteilen sind seit Jahren ein Problem in der Bundeswehr. Ausschreibungsverfahren und bürokratische Prozeduren ziehen sich über Gebühr in die Länge. Oberhalb der Einsatzverbände erleben wir viel bürokratisches Missmanagement und eine weitverbreitete Verantwortungsdiffusion in einer kopf- und stablastigen Bundeswehr, was die Wehrbeauftragten seit Jahren kritisieren.
Von den Hauptwaffensystemen der Bundeswehr sind zurzeit nur 77 Prozent einsatzbereit. So steht es im neuesten Bericht des Ministeriums zur materiellen Einsatzbereitschaft.
Aber das ist schon geschönt, wenn mehr als eintausend Lastwagen der Bundeswehr eingerechnet werden. Die Berichte beziehen sich immer nur auf den aktuellen Verfügungsbestand des Materials in der Truppe, nicht auf den Bestand an Material, der buchungstechnisch zum jeweiligen Verband gehört.
Wenn also von 45 Kampfpanzern eines Panzerbataillons aufgrund von Abstellungen, Instandsetzung et cetera nur fünf in der Truppe verfügbar sind, von denen zwei Panzer nicht einsatzklar sind, dann hat der Verband nach BMVg-Rechnung mit drei einsatzfähigen Panzern eine materielle Einsatzbereitschaft von 60 Prozent. Oder: Wenn von den sechs U‑Booten der Marine vier in der Werft sind und zwei im Geschwader verfügbar, und eines davon nicht seeklar ist, dann liegt die Einsatzbereitschaft bei 50 Prozent. Mit solchen geschönten Berichten informiert das BMVg das Parlament und gaukelt unseren Abgeordneten ein Potemkinsches Dorf vor.
Fakt ist: Nur sehr wenige der Kampfhubschrauber „Tiger“, der Mehrzweckhubschrauber „NH-90“ und der total veralteten „CH-53“ sind einsatzbereit. Für die Pilotenausbildung musste die Bundeswehr 2021 bis 2024 Hubschrauber beim ADAC anmieten.
Von den 284 neu zugelieferten „Puma“-Schützenpanzern des Heeres rollt weniger als ein Viertel.
Von den veralteten „Tornado“-Kampfflugzeugen bleiben im Schnitt drei Viertel am Boden.
Wegen der prekären personellen und materiellen Lage der Luftwaffe ist der mit unzähligen Pannen behaftete „A 400 M“ der Luftwaffe nur die Hälfte der vorgesehenen Flugstunden in der Luft. Das Flugzeug hat sich bei der Evakuierungsoperation aus Kabul im Sommer 2021 zwar bewährt, aber im Berichtzeitraum zwischen Mai und Oktober sind laut Ministerium nur weniger als 10 der etwa 30 Maschinen „einsatzbereit“ gewesen.
Von den Hubschraubern der Bundeswehr sind weniger als 40 Prozent einsatzbereit. Im Ministerium freut man sich, dass diese Quote nicht noch schlechter ausgefallen ist
Beim Kampfhubschrauber „Tiger“ beispielsweise kommen Bundeswehr und Industrie mit den Inspektionen nicht hinterher, erst in vier Jahren könnten mehr Maschinen als heute einsatzbereit sein.
Von den sechs der Marine noch verbliebenen U-Booten ist zeitweise kein einziges auslaufklar.
Von den 15 größeren Kampfschiffen der Marine „auf dem Papier“ sind dem letzten Bericht des Wehrbeauftragten zufolge nur neun bedingt einsatzbereite Schiffe real vorhanden. Beinahe jeder zivile deutsche Motorbootverein oder Motorflug-Club hat einen besseren Klarstand!
Diese Missstände müssen schnellstens behoben werden. Auch das wird dauern, muss aber dringend angegangen werden. Wir haben nicht viel Zeit dafür, wieder eine glaubwürdige, militärische Abschreckung aufzubauen.
Nur wenn es uns Europäern zusammen mit den USA überzeugend gelingt, in Europa gegenüber Russland und in Asien gegenüber China eine glaubwürdige Abschreckungsarchitektur aufzubauen, bleibt unsere freie Welt und Lebensform auf Dauer erhaltbar. Versäumen wir das, kommt es für Europa so, wie es bereits Thukydides vor mehr als 2400 Jahren beschrieb: „Die Großen tun, was sie können, die Kleinen tun, was sie müssen.“ Genau dies gilt es durch ein führungs- und gestaltungsmächtiges Deutschland unter Olaf Scholz zu verhindern.
Erich Vad ist Brigadegeneral a. D., war Gruppenleiter im Bundeskanzleramt in Berlin und langjähriger Militärpolitischer Berater der Bundeskanzlerin. Er lebt heute in Grünwald, ist Unternehmensberater und Dozent an Universitäten im In- und Ausland.
Dieser Beitrag erscheint auch im Rotary Magazin.