Belarus an Putins Haken
Minsk bleibt wirtschaftlich und politisch abhängig von Moskau, auch Lukaschenkos Zukunft liegt in der Hand des Kremls
Die Massenproteste, die Belarus nach den Präsidentschaftswahlen am 9. August 2020 erfasst haben, erfüllen viele Beobachter mit Sorge. Sie fühlen sich an die Krise in der Ukraine im Winter 2013/2014 und deren tragische Folgen erinnert. Tatsächlich haben diese Ereignisse etliches gemeinsam. Beide Länder liegen geographisch zwischen der Europäischen Union und Russland. Wie in der Ukraine im Jahr 2013 sind heute in Belarus weite Teile der Gesellschaft so unzufrieden mit den Machthabern, dass sie bereit sind, monatelang zu Protesten auf die Straße zu gehen.
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in der Zeitschrift Osteuropa, Ausgabe 10-11/2020:
Macht statt Gewalt oder: Gewalt statt Macht.
Belarus: Repression, Schikane, Terror
Die Machthaber lehnen einen Dialog ab und gehen stattdessen gewaltsam gegen die Unzufriedenen vor. Schließlich hat auch der Konflikt in Belarus eine latente geopolitische Dimension: Dem Westen kann angesichts der Forderungen der Protestierenden und der Gewalt, der sie ausgesetzt sind, schwerlich gleichgültig bleiben, während Russland jeden Versuch eines Machtwechsels im postsowjetischen Raum als Bedrohung seiner eigenen Interessen wahrnimmt.
Damit enden allerdings die Gemeinsamkeiten mit den Ereignissen in der Ukraine. In den Vordergrund rücken prinzipielle Unterschiede. Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland sind ganz andere als die zwischen Russland und der Ukraine. Auch die belarussische Gesellschaft nimmt Russland anders wahr. Und schließlich hat sich die internationale Situation in der Region in den letzten sechs Jahren einschneidend verändert.
Sowohl der Westen als auch Russland haben ihre Lehren aus den Ereignissen in der Ukraine gezogen und reagieren auf die Entwicklung in Belarus wesentlich zurückhaltender und vorsichtiger. Das gibt Anlass zur Hoffnung, dass es den Parteien diesmal gelingen wird, eine heftige Konfrontation zu vermeiden, und dass Russland nicht so weit gehen wird, militärisch im Nachbarland zu intervenieren. Das heißt übrigens nicht, dass Moskau nicht versuchen wird, die belarussische Krise für seine Interessen zu nutzen, zumal sich diese bisher für Russland ausgesprochen günstig entwickelt.
Quellen der Abhängigkeit
Nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 gab es in den belarussisch-russländischen Beziehungen eine Harmonie, die im postsowjetischen Raum ihresgleichen suchte. Besonders auffällig war das im Kontrast zu den zahlreichen Konflikten des Kremls mit der Ukraine, Georgien und Moldova. Der Grund dafür war, dass die belarussische Führung gar keine andere Wahl hatte, als eng mit Moskau zu kooperieren, denn die Wirtschaft des Lands war in fast allen Branchen zu abhängig von Russland.
Als führende Wirtschaftspolitiker in der späten Sowjetunion Belarus zu einem Schaufenster der industriellen Leistungsfähigkeit des Landes machen wollten und die Republik mit den innovativsten verfügbaren Produktionsanlagen ausrüsteten, waren sie auf vieles gefasst, nicht aber auf den schnellen Zerfall der Sowjetunion. Dass Belarus nach 1991 trotz der staatlichen Unabhängigkeit wirtschaftlich eng an Russland gebunden blieb, war auch eine Folge dieser Politik: Seine riesigen Fabriken waren ohne billige Energielieferungen aus Russland nicht konkurrenzfähig, und die gewaltige Produktion dieser Fabriken ließ sich wiederum nur auf dem russländischen Markt absetzen.
Unter dem Druck der ökonomischen Realitäten nahm Belarus, kaum war es unabhängig geworden, mit Russland Verhandlungen über die Wiederherstellung eines einheitlichen Wirtschaftsraums auf. Viele Vereinbarungen über eine Liberalisierung der Zollbestimmungen zwischen beiden Ländern wurden bereits vor Alexander Lukaschenkos Machtübernahme getroffen. Wenn Moskau bei den ersten belarussischen Präsidentschaftswahlen 1994 überhaupt einen Kandidaten unterstützte, dann am ehesten den amtierenden Premierminister Wjatschaslau Kebitsch, mit dem es konstruktive Beziehungen pflegte, nicht jedoch den noch völlig unbekannten jungen Oppositionellen Alexander Lukaschenko.
Freilich verstand Lukaschenko die Bedeutung Russlands für die belarussische Wirtschaft ebenso gut wie seine Vorgänger, und als Präsident fand er rasch eine gemeinsame Sprache mit dem Kreml. Er lernte, sich in den inneren Kreisen der russländischen Politik und des Big Business zu orientieren, und es gelang ihm, die Schwachstellen seines Lands in den Verhandlungen mit Moskau zu Trümpfen zu machen. So führte er das geringe belarussischen Wirtschaftsvolumen als Argument dafür an, dass der Kreml bei der Unterstützung für den Nachbarn nicht zu sparen brauche, denn im kleinen Belarus könnten Summen, die im riesigen Russland keine Rolle spielen würden, einen enormen Effekt haben.
Dank der Integration belarussischer Unternehmen in russländische Produktionsketten konnte Lukaschenko punktuelle Bündnisse mit Verantwortlichen aus Ministerien und Großunternehmern in Russland eingehen und mit ihrer Hilfe Lobbyarbeit betreiben. Gemeinsam mit russländischen Erdölkonzernen etwa warb der belarussische Präsident in Moskau für einen zollfreien Erdölexport nach Belarus. Mit Gazprom setzte er sich für reduzierte Gaspreise in Belarus und für die Fertigstellung der Gasleitung „Jamal-Europa“ ein. Mit Unterstützung von Rosatom gelang es Lukaschenko, von Russland einen milliardenschweren Kredit für den Bau des Atomkraftwerks Astrawez im Gebiet Hrodna zu bekommen.
In den vergangenen Jahrzehnten versuchten Russland und Belarus ihre Kooperation auszubauen und zu institutionalisieren und trafen zahlreiche Vereinbarungen. Bereits 1999 unterzeichneten sie den Vertrag über die Bildung eines Unionsstaats, der eine Verteidigungs- und Wirtschaftsgemeinschaft umfasst sowie regelmäßige politische Konsultationen vorsieht. 2014 gründeten sie gemeinsam mit Kasachstan die Eurasische Wirtschaftsunion. Mit der Realität haben alle diese Verträge jedoch nur indirekt zu tun. Beide Länder fühlen sich nicht ernsthaft an die Bestimmungen gebunden und richten sich in ihrem Handeln eher nach ihren eigenen nationalen Interessen. Wenn nötig, ignorieren sowohl Moskau als auch Minsk ungeniert und einseitig jede Verpflichtung, die sie nicht mehr für aktuell halten.
Dennoch blieb die informelle Geschäftsgrundlage zwischen beiden Ländern im Kern lange Zeit unverändert. Russland lieferte Belarus Energieträger unter dem Marktpreis und gewährte ihm einen erleichterten Zugang zu seinem Binnenmarkt. Im Gegenzug kooperierte Belarus militärisch mit Russland und demonstrierte außenpolitische Loyalität. Differenzen in Einzelfragen gab es ständig, aber insgesamt waren beide Länder bemüht, die Fassade der Freundschaft und Zusammenarbeit zum beiderseitigen Vorteil zu wahren.
Zweifel an der Kooperation
In den letzten Jahren allerdings begann sich die Situation allmählich zu ändern. Für Lukaschenko wurde es immer schwieriger, von inneren Spannungen im zunehmend konsolidierten und autoritären russländischen Staat zu profitieren, und der Kreml war es leid, mit der belarussischen Führung über jede Kleinigkeit feilschen zu müssen, während Moskau gleichzeitig in anderen Ländern erfolgreich intervenierte und seine Interessen durchsetzte. Die 2018 aus demographischen Gründen in Angriff genommene Rentenreform und die wachsenden Haushaltsprobleme infolge des gesunkenen Ölpreises waren für die russländische Führung weitere Motive, bei der finanziellen Unterstützung von Belarus den Rotstift anzusetzen. Am Ende kamen sowohl Moskau als auch Minsk zu dem Schluss, dass die Kooperation ihnen wesentlich mehr Kosten als Nutzen einbrachte, und hielten sich daher für berechtigt, Änderungen nicht nur im Detail, sondern im Grundsätzlichen zu verlangen.
In der letzten Dekade versuchte Lukaschenko die Beziehungen seines Lands zum Westen zu verbessern. In wichtigen Fragen der Politik im postsowjetischen Raum distanzierte sich Belarus demonstrativ vom russländischen Kurs. So erkannte Minsk die von Moskau betriebene Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens an, verhielt sich höchst zurückhaltend zur Annexion der Krim und bezog eine neutrale Position zum Krieg im Donbass.
Zwischen dem Jahr 2018 und Mai 2020 verhängte der Kreml für diverse belarussische Waren ein Importverbot. Mal betraf es Milch und Milchprodukte, mal Fleisch, mal Äpfel und Pilze, mal verarbeitete Rohölprodukte. Auch zeigte sich Russlands Führung immer weniger bereit, Belarus weiterhin Energieträger zu vergünstigten Preisen zu liefern.
Das eingespielte freundschaftliche Verhältnis ging 2019 endgültig in die Brüche, als Russland eine neue Besteuerung der Ölindustrie vorschlug: Die Ölexportzölle sollten abgeschafft und durch eine Steuer auf die Förderung von Bodenschätzen ersetzt werden. Dieses Reformvorhaben war jahrelang vorbereitet worden und sollte zur Modernisierung der russländischen Ölindustrie beitragen. Es betraf aber – aufgrund der Zollunion zwischen beiden Ländern – auch zwei große Raffinerien in Belarus. Als Minsk von Moskau verlangte, die belarussischen Betriebe ebenso wie die russländischen zu unterstützen, knüpfte Moskau dies an die unrealistische Bedingung einer Vertiefung der Integration der beiden Staaten in Form einer Art einheitlicher Steuerpolitik.
Beide Seiten waren übereinander verärgert. Sie konnten sich weder über eine vertiefte Integration noch über den Preis für die Lieferung von russländischem Öl nach Belarus einigen. Die belarussischen Raffinerien blieben dadurch in den ersten Monaten des Jahres 2020 praktisch ohne Öl aus Russland, bis Moskau und Minsk zumindest einen befristeten Kompromiss fanden.
Lukaschenko machte sich daraufhin ernsthaft auf die Suche nach alternativen Öllieferungen, nicht zuletzt auch aus den USA. Das wirkte sich auch auf den Tenor seines Wahlkampfs aus, der geprägt war von ungewöhnlich scharfen verbalen Angriffen auf Russland, bis hin zu dem Vorwurf, Russland wolle die Situation in Belarus destabilisieren und habe zu diesem Zweck Angehörige der berüchtigten Söldnertruppe „Wagner“ ins Nachbarland geschickt.
Versuche der Diversifizierung
Man kann nicht behaupten, dass Lukaschenko in den 26 Jahren seiner Regierung nichts getan hätte, um die Abhängigkeit seines Lands von Russland zu reduzieren. Zumindest ist es ihm gelungen, viele der Schlüsselbetriebe unter belarussischer staatlicher Kontrolle zu halten, die große russländische Konzerne gerne übernommen hätten. Versuche und Projekte zur Diversifizierung der belarussischen Volkswirtschaft gab es nicht wenige, vor allem in den letzten Jahren. Aber hier war die belarussische Führung bestenfalls mäßig erfolgreich.
Wegen der geringen Größe des Binnenmarkts ist die Diversifizierung der belarussischen Wirtschaft nur möglich, wenn das Land neue Außenhandelspartner findet. Das Land profitierte vom russländisch-ukrainischen Konflikt und verdoppelte von 2014 bis zum Jahr 2019 seine Exporte in die Ukraine. In der ersten Jahreshälfte 2020 beliefen sie sich auf 7,4 Prozent des Außenhandelsumsatzes. Den Handel mit China baute Belarus nahezu von Null auf. Heute ist China der drittwichtigste Handelspartner. Im ersten Halbjahr 2020 erreichte sein Anteil am belarussischen Außenhandel sieben Prozent.
Russlands Anteil geht sehr langsam zurück und bleibt überproportional hoch. Im ersten Halbjahr 2020 lag er bei 48,5 Prozent des belarussischen Warenumsatzes. Die Hauptexportgüter des Lands in den Westen sind Ölprodukte, die fast ausschließlich aus Rohstoffen aus Russland hergestellt werden. Einzelne Projekte der belarussischen Regierung, etwa eine spezielle Gesetzgebung für den IT-Sektor oder der gemeinsam mit China entwickelte Industriepark „Vjaliki Kamen’“ im Süden von Minsk fördern zwar die ökonomische Diversifizierung, ihr Umfang reicht aber bislang eindeutig nicht aus, um die Gesamtlage grundsätzlich zu verändern.
Auf anderen Gebieten verhält es sich ähnlich. Russland nimmt mit großem Abstand den ersten Platz als größter Investor in Belarus ein. 2019 entfielen auf das Land über 45 Prozent der gesamten ausländischen Direktinvestitionen. Das Gleiche gilt für Anleihen: 48 Prozent seiner Auslandsverschuldung hat Belarus gegenüber Russland, das sind etwa acht Milliarden US-Dollar.
Dazu kommen noch die Geldüberweisungen von mehr als einer halben Million belarussischer Arbeitsmigranten, die in Russland arbeiten, außerdem der einheitliche Zolltarif beider Länder, die noch bestehenden Preisnachlässe auf russländisches Öl und Gas sowie das Atomkraftwerk nahe der Stadt Astravec im Gebiet Hrodna, das von Russland finanziert wurde und von der russländischen Atombehörde Rosatom gebaut und betrieben wird. Es gibt zwei russländische Militärbasen in Belarus, zwischen den Armeen und den Sicherheitsapparaten beider Länder besteht eine enge Kooperation, ein bedeutender Teil der belarussischen Elite hat eine Ausbildung an Hochschulen in Russland absolviert – die Liste der Verflechtungen ließe sich noch lang fortsetzen.
In den zweieinhalb Jahrzehnten seiner Herrschaft verfolgte Lukaschenko nicht das Ziel, dieses feingewebte Netz aus Abhängigkeit zu durchtrennen. Nicht nur weil es dafür schmerzhafter Reformen bedurft hätte, die schwerwiegende sozioökonomische Konsequenzen für Belarus nach sich gezogen hätten, sondern auch weil Lukaschenko selbst, die herrschende Elite und das Gros der Gesellschaft diese Abhängigkeit von Russland als völlig selbstverständlich und unbedenklich empfanden. Einschneidende, kurzfristige Veränderungen schienen schlicht nicht nötig.
Doch im Lauf dieser Jahre erfuhr das Selbstverständnis der Belarussen einen Wandel, der sich als tiefgreifend und irreversibel erweist. 1991 war Belarus eine der wenigen Sowjetrepubliken, in der es keine breite Unterstützung für einen Austritt aus der UdSSR gab. In den ersten Jahren der Unabhängigkeit schien die Option, sich wieder mit Russland zu vereinigen, durchaus akzeptabel und realistisch.
Doch seither hat sich ein Generationswechsel vollzogen. Mehr als die Hälfte der belarussischen Bevölkerung hat – bei einem Durchschnittsalter von 40 Jahren – die Sowjetära nicht mehr erlebt oder erinnert sich nicht mehr daran. Für sie ist die Unabhängigkeit des eigenen Landes selbstverständlich. Entsprechend hat sich auch die allgemeine Einstellung zur Idee einer Vereinigung verändert: Während vor 20 Jahren etwa ein Drittel der Belarussen eine Vereinigung unterstützten, sind es heute weniger als zehn Prozent.
Anstelle eines auf der Sprache basierenden Ethnonationalismus, der in Belarus in den 1990er-Jahren keine breite Unterstützung fand, hat sich in den 30 Jahren der Unabhängigkeit im Land ein inklusiver Staatsbürgernationalismus herausgebildet. Die absolute Mehrheit der Einwohner von Belarus versteht sich als Teil der belarussischen Nation, als Kriterium der Zugehörigkeit sieht sie aber weder die Sprache noch Religion oder Geburtsort, sondern das schlichte Faktum der Staatsangehörigkeit.
Diese erfolgreiche Entwicklung einer belarussischen Staatsbürgernation war letztlich auch die Ursache für die Massenproteste, die das Land nach den Präsidentschaftswahlen am 9. August 2020 erschütterten. Seit der Unabhängigkeit und seit der ersten Wahl Lukaschenkos zum Präsidenten Mitte der 1990er-Jahre ist die belarussische Gesellschaft urbaner, gebildeter und kosmopolitischer geworden. Die Gesellschaft des Lands, in dem 2019 die meisten Schengen-Visa pro tausend Einwohner ausgestellt wurden, eines Lands, das über einen blühenden IT-Sektor verfügt, konnte gewissermaßen gar nicht anders, als den Übergang von Lukaschenkos despotischem, quasisowjetischen Paternalismus zu einem ausdifferenzierteren, flexiblen politischen System zu fordern.
Diese Forderung der modernen belarussischen Gesellschaft an die archaisch wirkende Staatsmacht betraf ausschließlich den inneren Aufbau des Lands, keinesfalls die Außenpolitik, die geopolitische Orientierung oder gar die Mitgliedschaft in einem Militärbündnis. Aber in dem konfrontativen Klima zwischen Russland und dem Westen, das seit der Krise in der Ukraine 2014, der Annexion der Krim durch die Russländische Föderation und dem Krieg im Donbass herrscht, war es nahezu unvermeidlich, dass auch der Konflikt in Belarus eine internationale Dimension annahm.
Lukaschenko retten
Auslöser der belarussischen Proteste, in denen sich auch die lange aufgestaute Unzufriedenheit mit dem verknöcherten Regime entlud, war die dreiste Fälschung der Präsidentschaftswahlen am 9. August und das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die ersten Protestierenden. Die folgenden Kundgebungen kamen für die Machthaber unerwartet und waren in ihrem Ausmaß präzedenzlos. Selbst die sozialen Gruppen, die immer als Lukaschenkos Machtbasis gegolten hatten, forderten nun seinen Rücktritt: Lehrer, Ärzte und die Arbeiter in den Staatsbetrieben.
Allerdings erregten die Ereignisse in Belarus im Westen anfangs keine große Aufmerksamkeit. Die Krise fiel in eine Zeit, in der das westliche Interesse am postsowjetischen Raum stark zurückgegangen war. In den USA setzte die Regierung Trump auf eine Strategie des nationalen Egoismus: Washington war gern bereit, mit Minsk über Öllieferungen zu verhandeln, welche die Lieferungen aus Russland ersetzen könnten, aber es war nicht bereit, einen ernsthaften Beitrag zur Demokratisierung in Belarus zu leisten, zumal die USA angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen im eigenen Land genügend andere Probleme hatten.
Die Europäische Union war und ist geschwächt und gespalten durch die Corona-Pandemie und den Streit darüber, wie man die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie am besten in den Griff bekommt. Darüber hinaus war ihr Engagement in der Ukraine seit 2014 für die europäischen Regierungen eine eher belastende Erfahrung. In Belarus ähnliche Verpflichtungen zu übernehmen, die große Investitionen erfordern und unkalkulierbare Reaktionen Russlands auslösen könnten, ist daher keine allzu attraktive Perspektive für sie.
Die westlichen Regierungen haben die Wahlfälschungen in Belarus sowie den brutalen Umgang mit den Protestierenden scharf verurteilt und Lukaschenkos Sieg nicht anerkannt. Gegen 40 Repräsentanten des belarussischen Regimes und Verantwortliche für die Wahlfälschung und die Gewaltanwendung sind personenbezogene Sanktionen eingeführt worden. Allerdings wird das kaum ausreichen, um Lukaschenkos Verhalten wirklich zu beeinflussen. Vermutlich wird dieser Druck der EU ihn lediglich in der Überzeugung bestärken, dass allein Russland das belarussische Regime vor dem vollständigen Zusammenbruch retten kann.
Die Reaktion des Westens und die Diskreditierung Lukaschenkos haben dazu geführt, dass der Ausgang der Krise in Belarus jetzt umso mehr von Moskau abhängt. Die russländische Führung wird diese einmalige Gelegenheit, die Beziehungen zu dem wichtigen Verbündeten entschieden zum eigenen Vorteil zu verändern, nicht ungenutzt verstreichen lassen.
Die Bedeutung des Militärbündnisses
Für den Kreml war Belarus nie nur ein Nachbarland. Die Bereitschaft zur Annäherung an Moskau war hier größer als in allen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. An den postsowjetischen Integrationsprojekten des Kremls hat Minsk sich nicht nur stets umgehend aktiv beteiligt, es hat mit seinem Beispiel auch andere postsowjetische Staaten motiviert, einer Annäherung an Russland zuzustimmen.
Belarus blieb der letzte Verbündete des Kremls, der räumlich zwischen Russland und den NATO-Staaten liegt. Zugleich ist das belarussische Territorium im Weltbild der russländischen Führung, in dem Sicherheitsfragen seit jeher Vorrang haben, der kürzeste Weg zwischen dem feindlichen Westen und Moskau. Diese Wahrnehmung wird durch die historische Erfahrung bestärkt. Sowohl in den Napoleonischen Kriegen als auch im Zweiten Weltkrieg erfolgte der Hauptangriff auf Russland über das heutige belarussische Gebiet.
Das Militärbündnis mit Belarus ist von strategischer Bedeutung für die russländische Luftverteidigung, für die Verbindung zur Kaliningrader Exklave und für den militärindustriellen Komplex. Außerdem ist es für den Kreml selbstverständlich, dass Russland als Großmacht auch außerhalb seiner Landesgrenze Einflusssphären hat. Könnte Moskau – so das Räsonnement – nicht einmal ein Land wie Belarus, das in unmittelbarer Nähe liegt, in dieser Sphäre halten, so würde sich das auf die internationale Reputation Russlands ungünstig auswirken.
Da aus seiner Sicht so viel auf dem Spiel stand, konnte sich der Kreml nicht heraushalten oder riskieren, den belarussischen Protesten Vorschub zu leisten. Freilich konzentrierten sich die Protestierenden auf die Kritik an Lukaschenko und verzichteten bewusst auf jede Geste gegen Russland. In der belarussischen Gesellschaft würde Russlands Popularität enorm anwachsen, wenn es sich auf die Seite der Protestbewegung stellte. Doch für Moskau wäre die weitere Entwicklung in diesem Fall zu unberechenbar und schwer zu kontrollieren.
Trotz ihrer Breite ließen sich in der belarussischen Protestbewegung weder eindeutige Wortführer noch ein klares Programm und eine zentrale Organisationsstruktur identifizieren. Unter diesen Umständen lässt sich nicht vorhersagen, wer von den oppositionellen Aktivisten nach einem hypothetischen Abgang Lukaschenkos die entscheidenden Posten in der Regierung einnehmen würde. Andererseits liegt auf der Hand, dass jeder dieser politisch unbelasteten Aktivisten, käme er dank eines demokratischen Programms an die Macht, eine ungleich bessere Ausgangsposition für eine Annäherung an den Westen hätte als der derzeitige, in die Ecke gedrängte Präsident, dessen Legitimität die Europäische Union nicht mehr anerkennt.
Deshalb hat der Kreml nach kurzem Schweigen Partei für Lukaschenko ergriffen. Die russländischen Machthaber haben den Protestierenden, dem desorientierten belarussischen Staatsapparat und dem Westen deutlich zu verstehen gegeben, dass Lukaschenko nicht abtritt und er im Notfall auf großzügige russländische Unterstützung zählen kann, sei es durch die Sicherheitsstrukturen, sei es finanziell. Dies half dem belarussischen Regime, sich vom ersten Schock zu erholen und zu versuchen, die Kontrolle über die Situation wiederherzustellen, die Loyalität der Sicherheitsstrukturen zu bewahren, eine westliche Vermittlung in der Konfliktregulation auszuschließen und die Protestbewegung nach und nach durch gezielte Repressionen zu ersticken.
Die Strategie des Kremls
Allerdings heißt das alles nicht, dass der Kreml sich mit einer Rückkehr zum Status quo ante zufriedengibt. In Moskau versteht man, dass Lukaschenko hoffnungslos diskreditiert ist und nicht einfach weiterregieren kann wie bisher. Darüber hinaus hat sich der belarussische Führer in den letzten Jahren zu einem so problematischen Partner entwickelt, dass der Kreml eine Rückkehr zum bisherigen Format der Beziehungen nicht wollen wird.
Eine Verfassungsreform, die alle Konfliktparteien unterstützen, könnte beide Probleme lösen. Lukaschenko selbst hatte schon vor den Wahlen zugesagt, die Verfassung zu revidieren. Der gemäßigte Teil der Protestbewegung dürfte sich schon mit bescheidenen Anzeichen einer Veränderung zufriedengeben. Der Westen wird jeden Schritt in Richtung einer Demokratisierung des Regimes begrüßen. Und Russland kann nach einer Umverteilung der Vollmachten des Präsidenten auf andere Machtzentren endlich seinen Einfluss auf Belarus diversifizieren und wird nicht mehr allein von der Person Lukaschenko abhängig sein.
Die Strategie des Kremls zielt darauf ab, unter Umgehung Lukaschenkos möglichst viele direkte Kontakte mit verschiedenen Teilen des belarussischen Regimes zu etablieren. Russländische Experten haben bereits die Arbeit der belarussischen Propagandamaschinerie übernommen. Russländische siloviki, Angehörige der Gewaltapparate, beraten ihre belarussischen Kollegen über die effizienteste Taktik bei der Bekämpfung der Proteste. Führende Repräsentanten des Lukaschenko-Regimes wie etwa Außenminister Wladimir Makei sind im ständigen Austausch mit ihren Kollegen aus Russland. Sie wiederholen permanent öffentlich das Mantra des Kremls, dem zufolge die Protestierenden versuchten, im Auftrag des Westens eine „Farbrevolution“ anzuzetteln.
Diese Schritte sollen den belarussischen Staatsapparat und die Machtstrukturen, die noch vor kurzem Lukaschenko gegenüber loyal waren, allmählich auf die Seite des Kremls ziehen. Einstweilen sind die belarussischen siloviki und die činovniki, die Staatsbeamten, verunsichert. Die Forderungen der Protestierenden nach einer Lustration und Strafverfolgung der Verbrechen des Regimes haben sie in Angst und Schrecken versetzt. Und sie sehen, dass Lukaschenko keine Autorität mehr hat und ihnen keine sichere Zukunft mehr bieten kann. In dieser Situation besteht die beste Überlebensstrategie darin, dem Kreml die Treue zu schwören, der allein den Erhalt des belarussischen Regimes langfristig garantieren kann.
Gerade diese Personen der herrschenden Elite sollen im Zuge einer Verfassungsreform, die Lukaschenko in den Hintergrund drängen würde, neue Befugnisse erhalten. Ohne breiten Rückhalt im Land, im Ungewissen über die eigene Zukunft und untereinander verfeindet, werden sie gezwungen sein, sich in erster Linie an Russlands Wohlwollen zu orientieren. Das ermöglicht es dem Kreml, die Beziehungen zu Belarus so zu gestalten, dass er selbst entscheiden kann, in welchen Fragen sich die Länder einander annähern und in welchen nicht, und wo Russland sich besser heraushält und keine belastenden Verpflichtungen übernimmt.
Diese Option ist für Moskau weit weniger riskant und kostspielig als eine Militärintervention, eine Annexion von Belarus oder sogar eine vertiefte Integration im Rahmen eines Unionstaats. Der Kreml war nie darauf erpicht, in die inneren Angelegenheiten seiner Satelliten einzudringen, er hat ihnen in Wirtschaft und Innenpolitik vielmehr immer freie Hand gelassen, solange die außenpolitische Orientierung an Moskau nicht angetastet wurde. Die Regierenden in Transnistrien, Abchasien und selbst in Armenien können abgewählt werden und nach Belieben Reformen durchführen. Moskau kümmert das nicht, solange die internationale Situation ihnen zu einem Bündnis mit Russland keine Alternative bietet. In eine ähnliche Lage möchte der Kreml auch Belarus bringen.
Ohne Frage besitzt das Land einige wichtige Rüstungsbetriebe und etliche lukrative Unternehmen, die das Interesse russländischer Konzerne wecken. Aber um diese unter die eigene Kontrolle zu bringen, ist es nicht erforderlich, dass Russland die Staatsschulden des Nachbarlands bezahlt oder seine Renten dem russländischen Niveau angleicht. Die stagnierende, verstaatlichte Wirtschaft in Belarus zu reformieren, ist eine undankbare Aufgabe, die man lieber den lokalen Machthabern überlässt. Dasselbe gilt für die innenpolitischen Konflikte, die unweigerlich aufbrechen werden, sobald die Verfassungsreform Leben in die belarussische Politik bringt. Mit all diesen Dingen könnte sich die künftige – nach den Vorstellungen des Kremls kollektive und prorussische – belarussische Führung selbstständig befassen. Moskau beließe es dann bei der Kontrolle der Außen- und Verteidigungspolitik.
Natürlich birgt die Umsetzung dieser Strategie nicht wenige Risiken. Die Karten des Kremls könnten sowohl durch eine schärfere westliche Reaktion auf die belarussische Krise durcheinandergebracht werden als auch durch Widerstand von Seiten Lukaschenkos, der die Macht nicht abgeben will, oder durch deutlich wachsende Aktivitäten der Zivilgesellschaft in Belarus. Doch in den letzten Jahren hat der Kreml auch wachsende Bereitschaft zu außenpolitischen Risiken gezeigt, deshalb wird er kaum der Versuchung widerstehen, die belarussische Frage, mit der er sich schon seit mehr als 20 Jahren herumschlägt, ein für alle Mal zu lösen.