Heimat in der Fremde
Simone Trieder über ihre 1946 nach Russland zwangsumgesiedelte Familie
In der Nacht vom 22. Oktober 1946 ändert sich das Leben von circa 2500 Familien in der Besatzungszone der UdSSR schlagartig. Sie werden von Soldaten der Sowjetunion aus dem Schlaf gerissen, sie müssen ihr altes Leben hinter sich lassen für ein neues in einem fremden Land.
Ingenieure und Techniker der Flugzeug- und Maschinenindustrie dienen als lebende Reparation. Zusammen mit ihren Familien werden sie in die Sowjetunion umgesiedelt, eine neue Zwangsheimat.
Unter ihnen befindet sich die 22-jährige Studentin Ida, die anfangs der neuen Heimat mit Optimismus entgegenblickt. Basierend auf deren Tagebuch gibt die Autorin Simone Trieder, die Tochter dieses Russlandkinds, einen neuen Einblick in die kalte Zeit der Nachkriegsjahre. Durch Befragung von Zeitzeugen entstand so ein Werk, welches die unbekannten Jahre dieser Spezialistenfamilien aufgreift.
Unsere russischen Jahre
Die verschleppten Spezialistenfamilien
Die Kunststiftung Sachsen-Anhalt will das 2018 erschienene Buch von Simone Trieder mit dem Titel „Unsere russischen Jahre“ mit Workshops, Podiumsgesprächen und Lesungen im Rahmen des Deutschlandjahrs in Russland im Juni 2021 in Petersburg und Archangelsk vorstellen. Dabei soll eine Neuakzentuierung des Heimatbegriffs diskutiert und ein bisher kaum debattiertes Kapitel der deutsch-russische Nachkriegsgeschichte näher beleuchtet werden.
Manon Bursian, die Leiterin der Kunststiftung Sachsen-Anhalt in Halle, sprach mit der Autorin:
Manon Bursian: Was war der Anlass sich nach mehr als fünfzig Jahren mit der eigenen Familiengeschichte und diesem bisher wenig erforschten Kapitel deutsch-russischer Beziehungen auseinanderzusetzen?
Simone Trieder: Der Anlass war der Tod meiner Mutter. Ich konnte anders auf ihr Leben schauen. Es hat mich schon lange beschäftigt, warum sie so unzufrieden mit ihrem Leben war. Schon einen Tag nach ihrem Tod suchte ich das russische Tagebuch heraus, das ich schon 20 Jahre vorher gelesen hatte. Ich suchte nach dem Bruch ihrer Biografie, den ich in der Zeit in Russland vermutete. Und ich staunte über die Persönlichkeit der jungen Frau, das Freche, Mutige, Ausgelassene. Ich glaubte auch mich etwas darin zu erkennen.
Wie entstand die Idee, eine ganz persönliche Familiengeschichte in einem erzählenden Sachbuch so nah zu betrachten?
Eigentlich über einen Umweg. Ich hatte schon länger vor, mich mit meinem Großvater zu beschäftigen. Er war der Spezialist, den die Russen holten, und die nahmen ja bei der Verschleppung gern die ganzen Familien mit. Meine Tante, die jüngere Schwester meiner Mutter, verfolgte sehr aufmerksam meine Bücher und meinte eines Tages, du hast so einen spannenden Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts, guck dir mal deinen Großvater an. Sie gab mir einige Unterlagen.
Jetzt habe ich vor, auch etwas über den Großvater zu schreiben. Das beginnt mit seiner Begeisterung für den Krieg, in den er 1914 mit einem Notabitur zog. Die Begeisterung war ja sehr typisch für diese Generation, die Ernüchterung stellte sich oft schon nach wenigen Tagen Kriegsalltag ein. Und dann war er ein gefragter Ingenieur, dessen Erfindung die Russen haben wollten, doch er konnte sie dort nicht weiterentwickeln.
2016 war das 70. Jahr der Verschleppung nach Russland, da machte ich Rundfunkfeatures für den NDR und WDR zum Thema. 2016 ist aber auch das Jahr, in dem meine Mutter starb. So entwickelte sich das Thema in diese Richtung: Wie die Kinder, die Familien diese Zeit in Russland erlebten. In den „Russischen Jahren“ ist der Großvater ja nur eine Nebenfigur.
Was war das spezielle Können deines Großvaters, dass er aus damaliger Perspektive so interessant war, um zu einer lebenden Reparation zu werden?
Mein Großvater war Ingenieur in der Werkzeugindustrie. Er entwickelte in Zerbst einen Plastspritzgussautomaten, der in die ganze Welt verkauft wurde. Zu Beginn der 1930er-Jahre war der Werkstoff Plaste, Plastik, Kunststoff eine große Entdeckung: Er ist unter Wärme formbar, elastisch, bruchfest, gut zu bearbeiten und chemisch beständig. Das ist heute der Fluch dieses Werkstoffs. (Ein wunderbarer, ambivalenter Bogen, wie ich finde: das Granulat, das mein Großvater für die weitere Verarbeitung in einen Trichter schüttete, ähnelt dem Plastikmüll, der heute die Weltmeere verunreinigt: die Tränen der Meerjungfrau.) Das sowjetische Werk, in dem mein Großvater sein Know-how an die Russen weitergab, stellte bis dahin Plaste aus Torf her.
Wie sah der Alltag in den Spezialistenlagern auf?
Alle Zeitzeugen, mit denen ich sprach, legten Wert darauf, die Orte, wo sie lebten, nicht Lager zu nennen. Sie übernahmen den russischen Begriff Kolonie. Denn mit dem Begriff Lager verbindet man die Zwangsarbeiter und die Kriegsgefangenen, die unter ungleich schwereren Bedingungen in Russland lebten. Zwar wurden den Spezialisten die Papiere abgenommen und sie durften die Kolonien samt unmittelbarer Umgebung nur mit russischer Begleitung verlassen, auch konnten sie nicht zurück in ihre Heimat, selbst wenn der Spezialistenvater in Russland gestorben war. Aber die Väter verdienten gut, besser als ihre sowjetischen Kollegen, und sie bekamen Lebensmittel bzw. konnten sich welche auf dem Schwarzmarkt besorgen. Viele schickten Lebensmittelpakete nach Deutschland, auch meine Familie.
Interessant war, dass die Russen einerseits Wert darauf legten, dass die Kinder mitkommen, andererseits aber vergessen hatten, dass die auch irgendwann zur Schule gehen müssen. So erzählten mir einige Zeitzeugen, dass sie als 10-Jährige das erste Russlandjahr in besonders schöner Erinnerung hatten – ohne Schule. Sie begaben sich in der wunderschönen Natur an und in der Wolga auf Entdeckungsreisen.
Gibt es noch Kontakte zu den russischen Kollegen deines Großvaters? Konnten in dieser Zeit tiefe Freundschaften entstehen?
Hier muss man zwischen den Spezialisten und den Kindern unterscheiden, die sich übrigens selbst als Russlandkinder bezeichnen. Das Verhältnis zwischen deutschen und russischen Fachkräften war oft deswegen nicht einfach, weil dazwischen Politkader standen. Leute, welche die Stimmung zu überwachen hatten, die auch mal schnell Sabotage witterten. Die Probleme im Arbeitsablauf basierten aber meist auf der schlechten Versorgungslage mit Material.
Mein Großvater, der sich übrigens der russischen Sprache verweigerte (seine Tochter, meine Mutter war so etwas wie seine Assistentin, die übersetzte) hatte einen russischen Kollegen, Abramow, mit dem er sich gut verstand. Abramows Sohn, der ebenfalls in dem Bereich Plastikwerkzeugindustrie arbeitete, hat als Kind meinen Großvater kennengelernt. Er kann Deutsch und mit ihm habe ich vor ein paar Jahren telefoniert. Bei den Kindern gab es nach anfänglichem Misstrauen von Seiten der russischen Kinder. Ein Russlandkind, der als Baby dorthin kam, erzählte, das dritte Wort, das er nach Mama und Papa lernte, war Faschisti. Unter den Größeren gab es durchaus Freundschaften. Viele der Russlandkinder fuhren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in den 1990ern wieder an die Wolga, einige nannten den russischen Aufenthaltsort ihre zweite Heimat.
Gab es Bräuche und Gewohnheiten, die Deine Familie für immer aus Russland mitgenommen hat?
Meine Familie lebte im Osten, die meiner Tante, auch meine Großeltern im Westen. Aber wenn sie zusammenkamen, sprachen Großmutter und Mutter und Tante manchmal Russisch, sie warfen sich Codewörter zu, die gemeinsame Erinnerungen triggerten, das fand ich geheimnisvoll. An meinen Großvater kann ich mich kaum erinnern, er starb 1968. Bei meiner Tante in Köln war die Russlandzeit präsenter als bei meiner Mutter, die sie verdrängt hatte. Man konnte ja auch nicht in der DDR erzählen, ich war übrigens fünf Jahre nach Russland verschleppt.
Meine Tante überraschte mich vor einigen Jahren mit dem Trinkspruch: Pod stolom uwiedemca. (Unter dem Tisch sehen wir uns wieder.) Meine Cousine hat in Köln in ihrem Keller eine der Kisten stehen, die die Russen am 22. Oktober 1946, dem Tag der Verschleppung, mitgebracht hatten. In die wurde in wenigen Stunden der ganze Hausrat gepackt. Darauf bin ich ein bisschen neidisch – dass sie noch eine der Kisten hat.
Wie weit haben dich die innerfamilieren Erzählungen zu diesem Buch getragen? Und wann hat Dir deine Mutter ihr Tagebuch übergeben?
Es waren vor allem die Erzählungen meiner Tante, ihre Anregung, mich mit dem Großvater zu befassen. Ich lernte in Zerbst vor zehn Jahren einen Unternehmer kennen, der im Nachfolgebetrieb meines Großvaters gearbeitet hatte. Er interessierte sich für meinen Großvater und kam mit einem Fernsehteam nach Köln, um meine Mutter und meine Tante zu interviewen. Ich habe Aufzeichnungen davon. Der Film ist leider nie realisiert worden. Man könnte sagen, dass auch der Unternehmer mich angeregt hat, also kam das Interesse sogar von außen. Das Tagebuch meiner Mutter hatte sie schon in der DDR-Zeit abgeschrieben. Das Original existiert leider nicht mehr. Dann hat sie diese Abschrift nach der Ausreise 1988 in Köln noch mal kommentiert, das fand ich besonders spannend. Gegeben hat sie das „Russlandtagebuch“ mir und meinem Bruder in den 1990er-Jahren.
Wie hast du es geschafft, noch so viele Zeitzeugen zu finden und sie über ihre „Heimat“ in der Fremde so intensiv zu befragen?
Das kam mit dem Tod meiner Mutter. Ich war Ostern 2016 mit einem Aufnahmegerät bei ihr, aber sie war schon so dement, dass ich nichts verwerten konnte, zwei Wochen später starb sie. Und da dachte ich, nun muss ich mich beeilen, diese Generation stirbt aus. Und ich fand andere Russlandkinder über eine Kuratorin des halleschen Stadtmuseums, welche die Geschichte eines Petroleumkochers untersuchte, den hallesche Russlandkinder dem Museum übergeben hatten. Es wurden mehr als 20 Zeitzeugen aus ganz Deutschland, nach dem Erscheinen des Buchs noch viele mehr.
Was hat dich in der Begegnung mit all den „Nachfahren der Spezialisten“ am meisten beeindruckt?
Eine der wichtigsten Zeitzeugen war Gisela Franke aus Chemnitz. Sie war etwas jünger als meine Mutter und arbeitete in Russland als Lehrerin. Sie ist vor vier Wochen gestorben, wenige Tage vor ihrem 95. Geburtstag. Vor einem Jahr konnte ich mit ihr eine schöne Veranstaltung in Chemnitz machen, ich befragte sie als Zeitzeugin. Sie war geistig ganz fit, auch witzig, und erzählte so wunderbar, wusste genau, wie laut sie sprechen musste und fand immer den Bogen zu meinen Fragen.
Im Publikum saßen einige ihrer Schüler (Leute um die 80), die sie teilweise immer noch Fräulein Franke nannten. Denn sie hat nie geheiratet, das gehörte zu ihrer Biografie wie die acht Jahre in Russland. Sie nannte ihre Schüler „meine Familie“. Die Schüler sammelten in den 1990er-Jahren Geld, damit sie mit ihr zusammen noch mal an die Wolga reisen konnten.
Es gibt auch viele andere bewegende Begegnungen mit Russlandkindern, damit könnte ich schon wieder ein Buch füllen. Einige sind inzwischen tot. Und einige habe ich im O-Ton in den Features, die vielleicht noch mal gesendet werden. Übrigens auch Frau Franke.
Wie lange hat die Arbeit an diesem Buch gedauert?
Es gab einen langen Vorlauf. 2016 war sehr intensiv von dem Thema geprägt, auch weil sich da die Verschleppung zum 70. Mal jährte. 2017 habe ich das ganze Jahr an dem Buch geschrieben, das war eine sehr schöne Zeit. Dafür hatte ich das Stipendium der Kunststiftung bekommen und konnte mich ganz darauf konzentrieren. Ich habe den ganzen Text erst mal mit der Hand geschrieben, das mache ich bei „Herzenstexten“ immer so. Das ist auch ein Ritual, das Papier zurechtlegen, die Bleistifte spitzen, den Kaffee hinstellen – und dann den frischen Tag nutzen.
Wer waren und sind deine Vorbilder? Woher kommt deine eigene künstlerische Haltung? Wer hat dich geprägt?
Das könnte etwas mit der Russlandzeit meiner Mutter zu tun haben: Ich liebe die Russen. Tschechow, die Kurzerzählungen, die Theaterstücke. Puschkin, auch Majakowski, auch jüngere Autoren. Viel Anregung kommt aus dem Theater. Ich habe zehn Jahre lang als Regieassistentin gearbeitet, dabei kam die Lust, selbst Theaterstücke zu schreiben. Ich schreibe auch in der Prosa gern Dialoge und meine Arbeit für den Rundfunk sehe ich verwandt mit dem Theater.
Welches sind deine nächsten Projekte?
Fast fertig ist ein Buch über die Fischer an der Ostseeküste. Ein Handwerk, das am Aussterben ist. Mit dem Thema befasse ich mich seit sieben Jahren. Und ich habe Iwona Knorr kennengelernt, die auf Rügen Ostseefischer fotografiert hat. Es wird ein Foto-Essayband. Dann bin ich 2020 Großmama geworden, gleich zwei Mal. Also habe ich mit Robert Voss ein Kinderbuch gemacht, klein und fein. Und dann möchte ich noch über den Großvater schreiben. Keine Biografie, sondern einen Roman.