Putin ist leider unerreichbar

Täglich sterben Hunderte Ukrainer. Wir haben das Recht, unsere Feinde zu töten

von Semjon Glusman
Putin in Polen
Putin in Polen: Krakau, 2. Mai 2022

Der bekannte Zyniker Antisthenes antwortete auf die Frage, wie man mit der Politik umgehen solle: Wie mit dem Feuer, so gehe nicht zu nahe heran, um dich nicht zu verbrennen, und nicht zu weit weg, um nicht zu erfrieren. Aber niemand hat Antisthenes eine andere Frage gestellt: Was soll man tun, wenn einem die Politik zu nahekommt?

Einer unserer Zeitgenossen bemerkte: Ein Intellektueller, der in die Politik geht, bekennt sich bewusst zu seiner Mittelmäßigkeit. Eine harte Definition, die nur deshalb zu entschuldigen ist, weil sie vor mehr als 20 Jahren in der postsowjetischen Ukraine geboren wurde, die von Lügen und dem Schmutz professioneller Gangster, die in die Politik gingen, nur so wimmelte.

Die Unabhängigkeit der Ukraine war ein Wunder. Aber dieses Wunder wurde nicht erlitten und eingelöst. Deshalb wiederholt sich heute so vieles. Vor allem der Krieg mit dem Blut von Tausenden von Menschen, die von Politikern betrogen wurden.

Leider ist das totalitäre Denken unfähig, auf sich selbst zurückzublicken, weil ihm eine moralische Tendenz fehlt. Karl Jaspers schrieb: „Gott sagt den Menschen nicht direkt, was er will. Große Demut in Unwissenheit ist nötig. Die Fragen Hiobs werden nicht beantwortet.“

Heute sterben jeden Tag Hunderte von Ukrainern. Nicht nur Soldaten. Ich wage zu behaupten: Deshalb haben wir das Recht, unsere Feinde zu töten. Es ist schade, dass der wichtigste Feind, der grausame Tyrann Putin, nicht zur Verfügung steht. Er ist für uns unerreichbar.

Aber es gibt noch eine andere Seite dieser Situation. Hat ein Mensch das Recht, im Namen einer Idee, im Namen einer Wahrheit, die für ihn offensichtlich ist, in den Kampf gegen das Böse zu ziehen und dabei seine Angehörigen und seine Familie schutzlos zurückzulassen?

Ich habe zum ersten Mal als Erwachsener darüber nachgedacht. Vorher, in meinen jungen Jahren, als ich gegen das bestialische Grinsen des KGB protestierte, habe ich nie darüber nachgedacht. Und wenn ich darüber nachgedacht hätte, hätte ich mich wohl kaum zu dieser offensichtlich gefährlichen Tat entschlossen. Eigentlich wollte ich etwas anderes – ein guter Arzt sein, psychisch kranken Menschen aufrichtig helfen.

Im Lager im Ural

Ja, ich hatte Angst. Sehr viel Angst. Schon damals, in meiner Jugend, las ich die journalistischen Artikel von Andrei Sacharow und die Prosa von Alexander Solschenizyn im Samisdat, ich wusste von der Existenz von Lagern für politische Gefangene in der UdSSR. Aber ich wagte den Schritt und schrieb ein Dokument, das einen konkreten Fall von psychiatrischem Missbrauch aufdeckte. Dafür musste ich bezahlen. Nun, ich habe vollständig bezahlt und meine gesamte Strafe abgesessen.

Im politischen Lager im Ural wurde ich mit der Geschichte meines Landes konfrontiert, die mir zuvor sorgfältig verborgen geblieben war. Dort verbrachten Bauernsöhne ihr irdisches Leben, die sich weigerten, totalitäre Verhaltensnormen zu akzeptieren. Sie wurden alle zu 25 Jahren Haft verurteilt, mussten Folterungen, die Androhung der Todesstrafe und süße Angebote zum Verrat über sich ergehen lassen. Das wollten sie nicht. Sie blieben ihren einfachen Wahrheiten treu.

Als ich sie besser kennenlernte und täglich mit ihnen kommunizierte, wurde mir klar: Keiner von ihnen war ein Fanatiker. Das war für mich, einen jungen Psychiater, eine erstaunliche Entdeckung. Und ich freundete mich aufrichtig mit ihnen an, mit Ukrainern, Litauern, Letten, Esten. Und heute, in meinen schlaflosen Nächten, spreche ich immer noch mit ihnen.

Ich war im Lager sehr aktiv. Natürlich konnte ich Breschnew und seine Schergen nicht besiegen, aber ich habe auch dort versucht, mich den Behörden zu widersetzen. Im Jahr 1977 sagte ein hochrangiger KGB-Beamter in einem vertraulichen Gespräch einen Satz, der mich stolz machte: „Du, Semjon, bist der Meister in der Anzahl der Texte, die im Lager geschrieben und dann im Westen veröffentlicht wurden.“

Dennoch habe ich mich lange Zeit gefragt: „Soll man sich mit Strafzellen, Protest-Hungerstreiks und anderen Formen des Widerstands gegen das totalitäre Übel auseinandersetzen?“ Nein, das sollte man eigentlich nicht.

Heute habe ich meinen eigenen Krieg, unerwartet, schrecklich. An dem ich nicht direkt teilnehmen kann: das Alter, die Krankheiten. So wie früher Stalin und Hitler Europa geteilt haben, so teilt der russische Diktator Putin mein Land, die Ukraine, in zwei Teile. Mein Land, das in seiner Innenpolitik nicht sehr klug ist, aber offensichtlich nicht in fremde Gebiete eindringt.

Einst, während des Kriegs gegen Hitler, wurde der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg sehr populär wegen seines Satzes: „Wenn du leben willst – töte einen Deutschen!“

Putin: Der kleine Mann, ein Ungeheuer

Heute höre ich immer öfter solche Worte von populärsüchtigen ukrainischen Journalisten, die uns alle auffordern, die klassische russische Literatur, Malerei und Musik zu vergessen. Es tut mir weh, auch heute noch bin ich russischsprachig, ich bin mit der russischen Sprache aufgewachsen und gereift, ich habe Goethe und Heine, Hesse und Rilke, Thomas Mann und Heinrich Böll in russischer Übersetzung gelesen. Ich bin sicher, dass Wladimir Putin, der in Deutschland gedient hat, all diese Autoren nie gelesen hat. Er hat einen anderen Klassiker – den Vorläufer des Nazismus, den Philosophen Iljin.

Ich weiß, dass dieser Sprachenkonflikt im Laufe der Jahre verschwinden wird. Sonst wird es keine europäische Ukraine geben. Und im Jahr 2014 und heute kämpfen sowohl ukrainischsprachige als auch russischsprachige Ukrainer gegen Putins Truppen. Und sie sterben auf dem Schlachtfeld. Es gibt keinen Konflikt zwischen ihnen. Dieser Konflikt wurde von unseren Politikern geschaffen.

Die ausgezeichnete Herta Müller bemerkte, dass Ignoranz und Diktatur Komplizen sind. Der aggressive, ungerechtfertigte Krieg Russlands gegen uns bestätigt diese Feststellung. Russische Soldaten, die in armen Regionen Russlands fernab der Zivilisation aufgewachsen sind, begegnen den alltäglichen Realitäten in der Ukraine mit Irritation und Hass: Sie sehen Waschmaschinen, Toilettenschüsseln und so weiter.

Dies führt zu einer noch größeren Wut der jungen Männer, die zuvor keine Erfahrungen mit einem komfortablen Leben gemacht haben. Wladimir Putin hat ihnen nie Führungen durch seine Bunkerwohnung angeboten, wo er Entscheidungen trifft, die für seine Soldaten und Offiziere katastrophal sind.

Eine seltsame und schreckliche Zeit. Ein unerwarteter und unprovozierter Krieg. Die reale Bedrohung durch Putins Atomwaffe. Die russische Intelligenz wird von der Angst erdrückt. Dumme Unentschlossenheit westlicher Politiker, die aus einem unbedeutenden, bemitleidenswerten kleinen Mann ein schreckliches Ungeheuer geschaffen haben. Die Politik ist uns allen zu nahe getreten. Antisthenes hat die Frage, was wir in diesem Fall tun sollen, nicht beantwortet.

Semjon Glusman

1971 schrieb Semjon Glusman, ein junger Psychiater aus Kiew, ein psychiatrisches Gutachten über General Pjotr Grigorenko, der sich gegen die Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion aussprach. In diesem Bericht kam er zu dem Schluss, dass Grigorenko geistig gesund war und aus politischen Gründen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden war. Im Mai 1972 wurde Dr. Gluzman vom KGB wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“ verhaftet. Einem Gerichtsurteil zufolge musste er sieben Jahre in einem Arbeitslager und drei Jahre in der sibirischen Verbannung verbringen. Während seines Aufenthalts im Lager war er weiterhin wissenschaftlich und journalistisch tätig.

Nach Verbüßung der Strafe kehrte er nach Kiew zurück, gründete 1991 die Ukrainische Psychiatrische Vereinigung und ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher und kreativer Publikationen zu den Themen Menschenrechte, Ethik und Rechte in der Psychiatrie. Zuletzt erschienen:

Semyon Gluzman, Hartmut Berger (Hg.): „Angst und Freiheit. Vom Überleben eines ukrainischen Psychiaters im Gulag“, Mabuse 2020

Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen im Rotary Magazin.

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