Pazifismus heißt: Angriffe verhindern
Trotz oder gerade wegen des Kriegs: Weshalb wir jetzt eine neue Friedensbewegung brauchen
Im Krieg stirbt zuerst der Pazifismus. Männer, die vor Kurzem den Dienst verweigerten, kennen plötzlich sämtliche Panzergattungen. Die Partei, die eben noch ohne Waffen Frieden schaffen wollte und sich vor allem deshalb einst gründete, spricht von „wehrhaftem Pazifismus“. Berufslinke, die sonst eher Irokesen als Tarnanzug tragen, sehen nichts dabei, Wörter wie „Lumpenpazifismus“ zu benutzen.
Das lässt sich leicht erklären. Kein anständiger Mensch will Krieg. Krieg ist, wie Annalena Baerbock zu Beginn des russischen Angriffs kindgerecht sagte und jeder längst wusste, „das Allerschlimmste, was passieren kann“. Wenn sich Menschen trotzdem an einem Krieg beteiligen, dann weil sie keine andere Wahl sehen. Weil sie angegriffen werden, und das Einzige, was schlimmer ist, als sich mit Waffen zu verteidigen, wäre jetzt, sich nicht zu verteidigen.
Wer, wie zum Beispiel die Grünen, bereit ist, dabei mitzuhelfen, dass zwangsrekrutierte, russische Teenager erschossen werden, der tut etwas, das moralisch so schwer zu ertragen ist, dass er vollkommen überzeugt sein muss, dass die Alternative jenseits des moralisch auch nur Diskutablen liegt. Pazifisten stehen für diese Alternative.
Das Problem ist nun: Nicht mal unanständige Menschen wollen Krieg. Machthaber wollen Ressourcen oder Macht oder Landgewinn, sie nehmen den Krieg vielleicht sogar gerne mit, aber die, die den Krieg führen, Soldaten, wollen den Krieg in der Regel nicht.
In der Geschichte der Menschheit lässt sich kaum ein Krieg finden, der von denen, die ihn führten, als „Angriffskrieg“ verstanden wurde. Im Narrativ Putins verteidigt sich Russland gegen die Nato und ukrainische Nazi-Aggressoren.
Amerika führte gegen den Irak einen Präventionskrieg – also eine Verteidigung gegen einen Angriff, der lediglich noch nicht stattgefunden hatte. Sogar Hitler hat ab 5.45 Uhr bekanntlich nur „zurückgeschossen“.
Hermann Göring erklärte 1946 einem amerikanischen Gerichtspsychologen: „Das Volk will keinen Krieg.“ Um es sogar in einer Demokratie trotzdem dazu zu bringen, brauche man, so Göring, „nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr“.
Pazifisten wissen, dass jeder, der freiwillig in den Krieg zieht, denkt, er kämpfe für das Gute und gegen das Böse. Und er denkt es auch dann, wenn er dabei ein Z auf der Brust trägt oder zwei S.
Pazifisten wissen, dass im Krieg, ganz kurz nach dem Pazifismus, die Wahrheit stirbt. Und zwar überall – auch die Alliierten hatten Propagandaabteilungen, auch sie logen, dass sich die Balken bogen. Pazifisten denken: Wenn Deutsche, Amerikaner und Russen verführbar waren, wieso sollte man mich nicht auch verführen können? Pazifisten müssen hinnehmen, dass unschuldige Menschen ermordet werden, damit sie sich absolut sicher sein können, dass sie selbst niemals Unschuldige ermorden.
Pazifismus widerspricht dem Instinkt
Auch wenn er in sich vollkommen logisch ist: Für die meisten Menschen ist Pazifismus nichts. Er widerspricht dem Instinkt, sich zu verteidigen. Und dem Bedürfnis zu helfen, wo andere angegriffen werden. Die meisten Menschen wollen keine Pazifisten sein, da sie um den Preis wissen.
So lässt sich auch das Oxymoron des „wehrhaften Pazifismus“ begreifen. Pazifismus ist eben eines genau nicht: wehrhaft. Da aber jeder Krieg immer als Verteidigungskrieg verstanden wird, da niemand jemals Krieg will, gibt es in Wahrheit eben nur Pazifismus (niemals kämpfen, unter keinen Umständen) und den Rest (man könnte es Bellizismus nennen, wenn die Bellizisten dann nicht immer gleich beleidigt wären, schließlich wollen sie ja eigentlich keinen Krieg).
Natürlich kann man sagen, dass „Pazifismus nur auf der humanitären Theorie basieren kann, dass jede Nation ein Recht auf Leben haben muss“. Aber das ist eben kein Pazifismus, sondern ein Hitlerzitat. „Wehrhafter Pazifismus“ ist der Versuch, gleichzeitig den Pazifismus zu haben und den Krieg trotzdem zu essen.
Das funktioniert nur nicht. Weil der, der für die Beteiligung an einem Krieg ist, nicht gleichzeitig dagegen sein kann. Ein Interessenkonflikt, den wir überall sonst sofort verstehen. Polizisten sind nicht gleichzeitig Richter und Vollstrecker. Und der Kläger übernimmt selten die Verteidigung.
Es steht schlecht um die Friedensbewegung
Deswegen braucht es Pazifisten genau dann, wenn fast alle sich für massive Waffenlieferungen aussprechen. Gerade weil man sich an einem Krieg beteiligt, braucht man Menschen, die sich niemals an einem Krieg beteiligen würden. Man muss die Argumente gegen Krieg genau dann hören, wenn man sie am wenigsten hören will. Nicht um ihnen notwendigerweise zuzustimmen, sondern um sich selbst in genau diesen Stunden immer wieder zu hinterfragen.
Und ja, das bedeutet, dass man Pazifisten eben genau dann braucht, wenn man sie wirklich unerträglich findet. Wenn alles in einem schreit, die Lage sei doch wirklich eindeutig. Hilfreicher Indikator: Wenn Pazifisten in einem Gewaltfantasien auslösen, ist man zu emotional und damit zu verführbar, um Entscheidungen über Leben und Tod zu fällen.
Bis vor Kurzem erschien die seit dem Ende des Kalten Kriegs fortschreitende Atrophie der Friedensbewegung unproblematisch, denn wer keine Waffen hat, muss auch nicht verhindern, sie versehentlich zu benutzen. Wie schlecht es um die Friedensbewegung in Deutschland steht, wurde dann erst in den vergangenen sechs Monaten deutlich. Kein Wunder, der letzte Krieg ist lange her.
Atombomben kennt man noch vom Hörensagen. Die Partei, deren Aufgabe es war, pazifistisch zu sein, ist jetzt Regierung. Und wo der Anwalt Richter wird, schwächelt die Verteidigung.
Jetzt fehlen die Pazifisten. Womöglich bräuchte ein Land, dass ein Verteidigungsministerium hat (sprich: ein Kriegsministerium), ebenso eine Art Pazifismusministerium. Nein, nicht als Traumschloss mit Müsli und Blumen. Sondern als notwendige Aufgabe in einem wehr- (und damit kriegs-)fähigen Land, als wichtige Gegenstimme im Ernstfall und vor allem als andere Art der Kriegsprävention.
Pazifismus heißt: Angriffe verhindern
Denn Pazifismus ist – auch das haben die vergangenen Monate gezeigt – eine schlechte Antwort, wenn man erst mal angegriffen wird. (Was nicht bedeutet, dass Bellizismus eine gute Antwort ist, außer man hält es für gut, Teenager zu erschießen.) Das heißt: Wer pazifistisch ist, muss anders in die Zukunft blicken. Er muss alles tun, um einen Angriff zu verhindern, auch wenn das aus wirtschaftlichen Gründen gerade nicht opportun ist.
Staatlich-verankerter Pazifismus hätte erkannt, dass es nach der Annexion der Krim keine gute Idee war, dass aus Deutschland Waffen im Wert von 122 Millionen Euro an Russland verkauft wurden. Berufspazifisten hätten die Fortsetzung der Minsker Verhandlungen mit anderer Dringlichkeit bedacht. Sie hätten die Abhängigkeit von russischem Gas hinterfragt, so wie sie jetzt fragen würden, ob man sich wirklich Katar und einem womöglich bald wieder von Trump regierten Amerika verpflichten sollte. Hätten angemerkt, dass es falsch ist, eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine weder durchzusetzen noch auszuschließen.
Berufspazifisten würden vielleicht auch sehen, dass es in einem zunehmend faschistischen Europa absoluter Wahnsinn ist, dass Deutschland der viertgrößte Rüstungsexporteur der Welt ist. Sie würden hinterfragen, ob man Waffen nach Ungarn und Italien, Katar und Saudi-Arabien liefern muss. Pazifisten wüssten, dass sie auf einen Angriff mit diesen Waffen keine Antwort hätten, sie wären deshalb deutlich motivierter, diesen Handel zu unterbinden, als zum Beispiel Angela Merkel und ihre wirtschaftspragmatischen Minister es je waren.
Natürlich, vieles ist längst die Aufgabe von Diplomaten, nur dass diese eben die Möglichkeit des Kriegs immer mitdenken, als „Diplomatie mit anderen Mitteln“. Wer Probleme aber (natürlich immer nur im schlimmsten Fall und obwohl das keiner will) mit Waffen lösen kann, kommt zu anderen Lösungen. So wie kleingeratene Hänflinge andere Arten der Prävention kennen als kampfsporterfahrene Hünen. Was alles sonst noch möglich wäre, merkt man manchmal erst, wenn man den letzten Ausweg kategorisch ausschließt.
Deutschland kann weder Krieg noch Pazifismus
Vielleicht ist das das größte Versäumnis der Wehrdienstjahre: dass man die einen zum Krieg ausgebildet hat, die anderen aber nicht zum Pazifismus. Dass diejenigen, die aus moralischen Gründen verweigerten, nicht lernen mussten, wie man verweigert und trotzdem moralisch bleibt.
So hat man das Schlechteste aller Welten herangezogen: Menschen, die Krieg führen würden, aber nicht kämpfen können. Und solche, die Krieg ablehnen, aber nie gelernt haben, Alternativen zu finden.
Zurzeit kann Deutschland weder Krieg noch Pazifismus. Wenn das eine jetzt nachgerüstet wird (100 Milliarden Euro fürs Erste), darf das andere auf keinen Fall fehlen. In der Zwischenzeit sollte man jenen, die diese Lücke füllen, mit Dankbarkeit begegnen, auch wenn sie mitunter nur Fragen und keine Antworten haben.
Und gerade weil sie, die Pazifisten, in diesen Monaten etwas tun, das bei vielen Gewaltfantasien auslöst.
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 28.9.2022 / Alle Rechte vorbehalten: Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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