Moskau: Nazis und Normalität

In der russischen Hauptstadt kehrt der Frühling ein, aber die Mittelschicht ist verzweifelt

von Friedrich Schmidt
Keine Nazis hier. Schaufenster am 9. Mai 2022 Moskau
Die "Nazis" und die "Ereignisse" in der Ukraine sind weit weg und irgendwie doch da: Ein Schaufenster am Tag des Siegs in Moskau

Wer, wie viele Russen, westliches Fast Food schätzt, hat immer noch große Auswahl. McDonald’s hat zwar geschlossen, will sich nun wegen des Ukrainekriegs ganz aus Russland zurückziehen; aber Burger King und KFC braten weiter. Ein Moskauer Familienvater, der kürzlich in Kasan war, der Hauptstadt der Teilrepublik Tatarstan, berichtet freudig, dass dort sogar McDonald’s geöffnet gewesen sei. „Burger und Pommes schmeckten wie immer“, sagt er, im kleinen Triumph der Normalität über die politischen Wirren.

Solche Erfolge gibt es viele. Eine Fahrt durch Moskaus Vorstädte und in Einkaufszentren ergibt, dass zwar die deutsche Baumarktkette OBI geschlossen ist, aber die französischen Wettbewerber von Leroy Merlin weitermachen. Im Bereich Körperpflege sind die Läden von The Body Shop geschlossen, doch Yves Rocher bleibt geöffnet. Zu sind die Läden von Adidas, aber Turnschuhe des Unternehmens kann man in anderen Läden kaufen. Auch Apple hat Direktverkäufe in Russland eingestellt, doch iPhones sind in anderen Läden erhältlich.

In den Supermärkten sind die Regale gut gefüllt, Panikkäufe der ersten Kriegstage vorbei. Fachleute sagen, in zwei, drei Monaten könnten sich die Lager leeren, wenn der Nachschub ausbleibe und Finanzsanktionen und Logistikprobleme durchschlügen. Unternehmen wie IKEA und Volkswagen, die ihr Russlandgeschäft eingefroren haben, schickten ihre Arbeitnehmer erst einmal in bezahlten Urlaub. In der Summe entsteht ein Bild der Normalität, an dem sich die meisten gern festhalten.

In Moskau sind die Bars und Restaurants, wie jedes Jahr in den Frühlingstagen, gut besucht. Junge Leute ziehen feiernd durch die Nacht. An manchen Gebäuden und Autos sieht man das „Z“, das Symbol des Kriegs. Aber die Präsenz des Buchstabens ist bei Weitem nicht so stark, wie es die Staatspropaganda für die „Spezialoperation“ vermuten ließe. Auf einem der schicken Märkte mit Imbissen von Sushi bis Pizza, wie sie typisch für die jüngsten Moskauer Modernisierungen sind, fällt eine Frau mit weißem „Z“ auf schwarzem T-Shirt auf, als große Ausnahme.

Die „Ereignisse“ in der Ukraine

Ein älterer Moskauer, der ob seiner kargen Rente immer weiterarbeitet, findet, dass die Leute zum Thema Krieg respektive „Spezialoperation“ schwiegen, es umgingen. Fragt man sie direkt nach dem Krieg oder vorsichtig nach den „Ereignissen“ in der Ukraine, antworten viele in Sätzen, die man aus dem Fernsehen kennt. Zum Beispiel zwei Männer, beide 40 Jahre alt, die mit ihren Kindern zu Siegesparade am 9. Mai gekommen sind. „Der Nazismus hebt wieder sein Haupt“, sagen sie, „wir müssen die Sache unserer Väter, Großväter und Urgroßväter zu Ende führen.“

Soziologen streiten mehr denn je über die Aussagekraft russischer Umfragen, jetzt, da anstelle des Autoritarismus wieder ein Totalitarismus tritt, in dem Abweichler als Landesverräter verfolgt werden. Doch offenkundig glauben viele Russen die Kriegsrechtfertigungen der Führung wirklich – so wie sie bis zu Präsident Wladimir Putins Ansprache zur „Spezialoperation“ am 24. Februar glaubten, dass die westlichen Berichte über russische Angriffspläne gegen die Ukraine „russophobe Hysterie“ seien. Der Kreml hat es in kurzer Zeit geschafft, das Narrativ von einem bevorstehenden Angriff auf den Donbass und Russland zu etablieren, dem man habe zuvorkommen müssen, um Schlimmeres zu verhüten.

Wenn Putins Medien Bilder der Zerstörung aus der Ukraine zeigen, sind für alle Schäden und Toten ukrainische „Nazis“ und westliche Strippenzieher verantwortlich. Es ist eine schlichte, verführerische Logik: Wie zu sowjetischer Zeit steht Russland für das Gute, Amerika für alles Übel. So kann man sich problemlos beispielsweise mit der Hausmeisterin über den Krieg unterhalten, das Grauen, die Unsicherheit, jeder unter seinem Vorzeichen. Nur dass sie am Ende seufzt: „Das liegt alles an Amerika!“

Depression, Ohnmacht, Scham

Zwar musste der Radiosender Echo Moskwy, auf dem auch Oppositionelle zu Wort kamen, schließen, auf seiner Frequenz verkündet nun das Staatsradio Sputnik Erfolge in der „Spezialoperation“. Doch über Telegram-Kanäle oder einen VPN-Umweg kann, wer will, unabhängige Nachrichten über den Krieg verfolgen – und verzweifeln.

Ein Moskauer Unternehmer, der jetzt, in der bevorstehenden Rezession, keine Aufträge mehr bekommt, fühlt sich schuldig, den Krieg nicht verhindert, nicht demonstriert zu haben, als das noch weniger riskant war. Er sieht die vielen Landsleute, die den Krieg passiv-aggressiv unterstützen, spricht von Depression, Ohnmacht, Scham. „Warum hat er das getan?“, fragt er und meint Putins Überfall.

Zwar sind Zehntausende nach Kriegsbeginn aus Russland ausgereist. Aber auch viele, die blieben, sind von stummem Grausen erfüllt. Sie werden gehalten von Immobilien, Unternehmen, Arbeit, den Eltern, dem ganzen bisherigen Leben.

Jetzt sind auch Russen, die gerne weggingen, die Wege ins Ausland verbaut. Wer ein Visum hat oder bekommt, kann über die Türkei oder Dubai in die EU ausreisen oder Russland auf dem Landweg verlassen.

Ihre russischen Bankkarten können sie im Westen aber nicht mehr nutzen, und die Arbeitserlaubnis ist fraglich. Neue Kapitalkontrollen sorgen dafür, dass sie ihr Geld in Russland lassen müssen. Das stützt den Rubel. Dass dessen Wechselkurs zu Euro und Dollar künstlich hoch ist, sieht man daran, dass die Wechselstuben mehr Rubel für den Euro geben als die Banken.

Doch solche Ausreisegedanken betreffen nur die wenigen, die etwas Wohlstand anhäufen konnten. Die schmale Mittelschicht, die im Ölboom der Nullerjahre profitierte, nach Westen schaute und dorthin in den Urlaub fuhr, Putin nicht besonders mochte – und umgekehrt. „Putin hasst Leute wie mich“, sagt der traurige Unternehmer. Die Unterstützer des Präsidenten sind, neben den Staatsdienern, die abgehängten, benachteiligten Bewohner der Provinz.

„Diskreditierung der Streitkräfte“

Wenn Putin den Westen anklagt, Russland erniedrigen und „zerschlagen“ zu wollen, vertritt er Ressentiment und Kränkung dieser Leute und verstärkt sie zugleich. Ihnen und sich selbst verspricht Putin den „Sieg“ im Kampf gegen „Nazis“, im Stellvertreterkrieg gegen Nato und USA, den Triumph der „Gerechtigkeit“. Die Abgehängten stellen auch Putins Truppen: Aus Moskau oder Sankt Petersburg kommen wenige Soldaten, es kämpfen Burjaten, Dagestaner, Osseten, Leute aus armen Gegenden, wo Armee und Sicherheitskräfte die Arbeitgeber sind, die einigermaßen zahlen.

Dann gibt es die wenigen, die es wagen, trotz der Gefahren offen das Wort zu ergreifen. In Jekaterinburg im Ural sterilisierte eine alleinerziehende Mutter eine Nadel, nähte sich den Mund zu und stellte sich mit einem Protestschild gegen den Krieg ins Zentrum. Da stand sie, bis sie denunziert wurde und die Polizei sie abführte; jetzt hat sie schon zwei Verfahren wegen „Diskreditierung der Streitkräfte“ am Hals. Dutzende Russen sitzen aufgrund solcher Vorwürfe schon in Untersuchungshaft, ständig kommen Fälle dazu.

Einer von ihnen ist der Oppositionelle Wladimir Karsa-Mursa, der 2015 und 2017 Vergiftungen knapp überlebte und immer wieder aus dem Ausland zurückkehrte. Nun drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft. Aus einer Moskauer Zelle schrieb Kara-Mursa jüngst in einem Brief an einen nach Georgien geflohenen Journalisten, innerhalb eines Monats hinter Gittern hätten ihn nur zwei der Mitarbeiter der Haftanstalten, die er durchlief, „mit gespielter Empörung“ gefragt, ob er „dagegen“ sei – gegen den Krieg. „Die Mehrheit schweigt einfach“, schrieb Kara-Mursa. „Alles Böse in der Welt geschieht mit dem Einverständnis der Schweigenden.“

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