‚Es wäre großartig, diese Mauer zu durchbrechen‘
Elena Bezrukowa hat im Januar die Protestierenden über deren Beweggründe befragt
Die Massenproteste zur Unterstützung Alexei Nawalnys, die am 23. Januar anfingen, haben sich mittlerweile auf Dutzende Städte in ganz Russland ausgebreitet. Laut der Menschenrechtsorganisation OWD-Info wurden bei der ersten Kundgebung insgesamt 3770 Personen festgenommen, eine Rekordzahl in der jüngsten russischen Geschichte. Eine Woche später, am 31. Januar, wurden über 5000 Menschen festgenommen. Auch unter denjenigen, die am 2. Februar vor das Moskauer Stadtgericht kamen, um Nawalny zu unterstützen, und denjenigen, die am gleichen Abend auf den zentralen Straßen von Moskau und St. Petersburg ihren Protest gegen das Urteil kundtaten, gab es zahlreiche Festnahmen.
Im Nachgang der Proteste wurden bereits über 40 Strafverfahren eröffnet, und diese Zahl steigt weiter. Für viele Städte waren die Massenfestnahmen und die Zusammenstöße der Sonderpolizei OMON eine neue Erfahrung. Anderenorts schien sich niemand über das Vorgehen der Polizei zu wundern, etwa in Moskau, St. Petersburg, Jekaterinburg und Chabarowsk.
Um nachzuvollziehen, was die Menschen dazu bewegt hat, an den nicht genehmigten Aktionen vom 23. und 31. Januar teilzunehmen – trotz des Risikos, festgenommen zu werden, und zu 15 Tagen Arrest sowie einer erheblichen Geldstrafe verurteilt zu werden – habe ich die Protestierenden auf den Straßen Moskaus befragt. Da eine Massendemonstration nicht gerade ein einladender Ort für längere Gespräche ist, habe ich mich auf zwei bis drei Fragen beschränkt:
Was hat Sie auf die Straße getrieben?
Womit sind Sie nicht einverstanden und wogegen sind sie bereit zu protestieren?
Wie oft nahmen Sie an Demonstrationen teil befürchten Sie, festgenommen zu werden?
Am 31. Januar ergänzte ich den Fragenkatalog um den sozialen Status (Bildungsniveau, Beruf), Nawalny-Anhängerschaft ja oder nein, eigene politische Verortung, Teilnahme an der Demonstration vom 23. Januar und Bereitschaft zur Teilnahme an zukünftigen Protesten.
Insgesamt befragte ich 27 Personen bei der ersten Demonstration und 23 bei der zweiten. Die jüngste interviewte Person war 17 und die älteste 86 Jahre alt.
Die Umfrage erfolgte im Rahmen meiner Dissertation über die Besonderheiten der russischen Protestbewegung. Meine These lautet: Die langjährigen, die Versammlungsfreiheit einschränkenden Verbotsmaßnahmen – etwa das erschwerte Anmeldeverfahren für öffentliche Veranstaltungen, routinemäßig verweigerte Genehmigungen, die rechtliche Gleichstellung einer Serie von Einzelmahnwachen mit einer Kundgebung und vieles mehr – begünstigen keinesfalls eine friedliche Protestkultur. Im Gegenteil, sie lassen den Menschen keine andere Wahl, als an nicht genehmigten Demonstrationen teilzunehmen.
Die Umfrage erhebt keinen Anspruch auf Objektivität und möchte in erster Linie die Meinungen einfacher Protestierender abbilden, die keinen Parteien oder Bewegungen angehören (alle Befragten bezeichneten sich als einfache Menschen – mit Ausnahme des 86-Jährigen, der sich als Mitglied der liberalen Jabloko-Partei bezeichnete).
Teilnahme trotz Angst
Die Umfrage hat meine These im Großen und Ganzen bestätigt. Die meisten Befragten hatten keine Angst davor, an nicht genehmigten Aktionen teilzunehmen und möglicherweise festgenommen zu werden. Dabei gab es aber Unterschiede in den Antworten vom 23. respektive 31. Januar. Bei der Kundgebung auf dem Puschkin-Platz vom 23. Januar verneinten alle Interviewten die Frage: „Haben Sie Angst, festgenommen zu werden?“ Am 31. Januar war das Meinungsbild geteilt; manche gaben an, sie hätten Angst, es hätte aber keinerlei Auswirkungen auf ihre Entschlossenheit zur Teilnahme.
Anna, eine studierte Asienwissenschaftlerin, die derzeit auf Arbeitssuche ist, sagte: „Ich habe zwar Angst, aber wenn ich sehe, dass da Menschen festgenommen werden, muss ich mittenrein, ich kann mich nicht zurückhalten.“
Ilja, 29, studierter Ingenieur: „Doch, ich habe große Angst. Ich war auf der ersten Demo an mehreren U-Bahn-Stationen, Sretenskaja und Sucharewskaja. Ich saß dann bei McDonald’s und habe gesehen, wie die Menschen so richtig einkassiert wurden, es war gruselig.“
„Das heißt, Sie haben Angst, aber gehen dennoch auf die Straße? Warum?“
„Schon, aber was soll man sonst machen? Was werde ich meinen Kindern sagen? Soll ich etwa über das schöne Russland von morgen labern, und sie fragen mich dann, und wo warst du? Und ich muss sagen: zu Hause auf dem Sofa?“
18 Personen gaben an, sie hätten die Absicht, sich auch weiterhin an Protesten zu beteiligen, zwei meinten, sie würden ihre Teilnahme von den Umständen abhängig machen.
Wir haben die willkürlichen Verhaftungen satt
Unter den Hauptgründen für ihre Teilnahme an beiden Demonstrationen erwähnten die meisten Befragten einen konkreten Anlass, nämlich die ihrer Meinung nach ungerechte Verhaftung Alexei Nawalnys. Zudem sprachen fast alle von Armut, Korruption und Betrug. Viele nannten das Vorgehen der russischen Justiz illegal.
„Ich bin gegen das Gerichtssystem, das wir in unserem Land haben – bei uns kann jeder Unschuldige hinter Gittern gebracht werden, wenn sie was gegen ihn haben. Mir gefällt es nicht, wie unsere Wirtschaft funktioniert, sie basiert auf Korruption. Alles fängt überall mit Korruption an, du kannst sonst nichts erreichen, kriegst keinen Job. Es gibt keine Arbeitsplätze in der Provinz. Das ganze Geld sitzt in Moskau, alle meine Bekannten in den Regionen sind arbeitslos“, so ein 20-Jähriger, der am 23. Januar zum ersten Mal demonstrierte.
Ähnlich argumentierten am gleichen Tag mehrere junge Paare. Fast alle von ihnen waren auffällig geschminkt und trugen bunte Haare.
„Wir sind es einfach leid, dass unser Land bestohlen wird“, sagte die 19-jährige Natalja.
Iwan, 20: „Ich bin hier, um gegen das zu protestieren, was mit Nawalny passiert ist. Seine Festnahme war völlig willkürlich. Und ich möchte zusammen mit anderen Menschen zeigen, dass es uns nicht egal ist. Besonders die Sache mit den ehrlichen Wahlen.“
Natalja unterbrach ihn: „Wir wollen, dass die Diebe und die Mörder ihre Strafe bekommen, und dass es in unserem Land nicht möglich ist, die Opposition einfach so kaltzumachen.“
Die jungen Leute gaben an, bereits Erfahrungen bei Protesten gesammelt zu haben. Die Frauen hatten sich zuvor schon an Aktionen gegen häusliche Gewalt ebenso wie bei einer dem Großbrand im Einkaufszentrum Simnjaja wischnja im sibirischen Kemerowo gewidmeten Demonstration beteiligt.
Am 31. Januar wiesen die Protestierenden auch auf die Mängel des russischen Justizsystems hin:
„Wir haben die willkürlichen Verhaftungen einfach satt. Wir wollen doch in einem Rechtsstaat leben, wo Gesetze befolgt werden“, so Konstantin, 30 Jahre, Programmierer mit Hochschulabschluss.
Bei vielen Menschen hatte Nawalnys jüngster investigativer Bericht einen Nerv getroffen, besonders vor dem Hintergrund des unablässig sinkenden Lebensniveaus. Fast alle Interviewten führten an, sie wären mit den wirtschaftlichen Zuständen unzufrieden, manche erwähnten auch Qualitätsmängel in der Bildung und bei der medizinischen Versorgung.
Olga, 42, die zum ersten Mal bei einer Protestaktion dabei war, betonte: „Ich bin mit diesem Leben nicht zufrieden – damit, wie wir heute leben, in welcher Armut wir leben. Ich möchte Alexei Nawalny unterstützen. Er ist der Einzige, der sehr viel für Russland tut.“
Prochor, 44, Händler mit Hochschulabschluss, der zuletzt 1991 bei Protesten dabei war und „all diese dreißig Jahre nicht einmal daran gedacht“ hat, auf die Straße zu gehen, erklärte bei der Aktion am 31. Januar, warum er diesmal mitmachte:
„Wegen der Wirtschaftsdaten. Wie man in den letzten zehn Jahren sehen kann, zeugen sie von der Unfähigkeit, das Land effizient zu regieren. Ein Beispiel ist die Art und Weise, wie heutzutage Manager für die Verwaltung rekrutiert werden. Der Zusammenbruch der Nationalwährung in den letzten zehn Jahren – das ist ein Fiasko.“
„Im Großen und Ganzen missfällt es mir an diesem Land, dass wir auf allen Gebieten auf dem Holzweg sind, angefangen mit der Außenpolitik. Da haben wir in den letzten zwanzig Jahren fast alle Länder gegen uns aufgebracht, auch die Nationen, die uns besonders nahestehen“, meinte Artjom, 36, Vermessungsingenieur mit Hochschulabschluss. „Dazu kommt die Innenpolitik: Wir haben katastrophale Zustände in der Wirtschaft, in der Bildung, in der demografischen Entwicklung, in fast allen Bereichen.“
Erlernte Hilflosigkeit
In vielen Aussagen spielte die moralische Empörung gegen die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft und das Schweigen der Regierenden eine Rolle:
„Es gibt oft investigativen Berichte, in den Nachrichten redet man ständig von der Korruption und wir alle sind das schon gewohnt“, sagt Pawel, 27, der zum ersten Mal an einer Demonstration teilnahm. „Aber in Wirklichkeit ist es nicht normal.“
Außerdem kritisierten die Menschen auf dem Puschkin-Platz die Zensur sowie die fehlende Presse- und Versammlungsfreiheit. Ein junger Mann, der bereits 2011 an den Protesten teilgenommen hatte, sagte am 23. Januar:
„Mich stört es, dass die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird und dass die Menschen grundsätzlich Angst haben, ihre Meinung zu äußern, egal zu welchem Thema. Das sieht man überall, vor allem unter den älteren Menschen – sie sind die erlernte Hilflosigkeit in Person, sie haben Angst, über solche Themen zu sprechen. Mein Onkel zum Beispiel, er denkt sogar, dass er überall abgehört wird. ‚Bloß nichts Falsches sagen!‘ Wenn wir es schaffen, diese Mauer zu durchbrechen, wäre es großartig.“
Der Vermessungsingenieur Artjom sprach ebenfalls von der fehlenden Meinungsfreiheit: „Was mich letztendlich am meisten stört, ist die Zensur, die Propaganda, all das, was auf dich Tag für Tag psychischen Druck ausübt. Dann erlebt man eine Art Dissonanz: Mit den eigenen Augen sieht man das eine und hört dabei das andere. Ich glaube, dieser Weg führt nirgendwohin, und je weiter wir ihn beschreiten, desto mehr Probleme werden wir später kriegen.“
Wie es bereits üblich geworden ist, gab es nach den Protesten vom 23. Januar in Pro-Kreml-Medien und bei den zentralen Fernsehsendern Spekulationen darüber, dass Minderjährige angeblich in die Proteste hineingezogen würden. Doch entgegen dieser medienwirksamen Überlegungen waren viele der Befragten, die zum ersten Mal demonstrierten, mindestens 18 Jahre alt.
Roman ist 35, er sagte: „Früher dachte ich, sie würden das auch ohne mich klären. Aber jetzt bin ich überzeugt, dass ich mich einbringen muss.“
Einen Minderjährigen konnte ich am 23. Januar befragen. Der 17-Jährige nahm bereits seit zwei Jahren an Protesten teil, weil er mit den Zuständen in Russland unzufrieden sei: „Ich protestiere gegen das Machtmonopol, gegen die Monopolstellung der Staatsunternehmen, und vor allem gegen die Kriminalität. Die Menschen begehen nur deshalb Verbrechen, weil wir es zulassen.“
Soziale Unzufriedenheit, fehlende Versammlungsfreiheit
Offenbar motivierte die Aktion vom 23. Januar weitere Menschen zur Teilnahme. Sie hatten die vergangenen Proteste wahrgenommen, sich aber aus verschiedenen Gründen nicht selbst beteiligt.
Alexei Sacharow, Dozent an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Wirtschaftshochschule Moskau, ermittelte ein durchschnittliches Alter der Protestierenden von 31 Jahre. Sie seien etwas jünger als bei vorangegangenen Demonstrationen. „Dennoch waren lediglich zehn Prozent der Befragten 18 Jahre alt oder jünger.“
Umfragen durch die Meinungsforschungsinstitute FOM und WZIOM zeigen, dass schon seit drei Jahren etwa 30 Prozent der Befragten bereit zu sein, an Protestaktionen teilzunehmen. Dieser Wert war während der Proteste 2011 – 2012 ähnlich hoch, danach sank er zunächst, um 2018 im Zusammenhang mit der Rentenreform wieder zu steigen.
Laut aktuellen Studien ist die Zahl der Massenproteste in Russland im vorigen Jahr gesunken: Corona-Beschränkungen lieferten einen Anlass, Veranstaltungsgenehmigungen zu verweigern; gleichzeitig wollten auch viele Menschen aus Angst vor Ansteckung nicht demonstrieren. Doch obwohl es 2020 nicht zu den massiven landesweiten Protesten gekommen ist, die im Zusammenhang mit den Verfassungsänderungen allerseits erwartet wurden, heißt das lange nicht, dass die allgemeine Unzufriedenheit verschwunden wäre. Im Gegenteil, sie hat mit dem sinkenden Lebensniveau und den durch die Pandemie bedingten Einschränkungen zugenommen.
In den letzten Jahren war die soziale Problematik zwar bei nahezu allen Protestaktionen präsent. Es fehlt aber an einer stabilen politischen Kraft, die in der Lage wäre, diese Agenda aufzunehmen und voranzutreiben.
Entsprechend nannten die meisten der Befragten zunächst die willkürliche Verhaftung Nawalnys als Hauptgrund für ihre Teilnahme an der Demonstration, auf die Frage, was ihnen in Russland generell nicht gefalle, antworteten sie aber am häufigsten: die Armut und das niedrige Lebensniveau. Hinzu kommt, dass die Menschen zurzeit von Corona-Müdigkeit, Inflation, sinkenden Löhnen und Angst vor Arbeitslosigkeit betroffen sind – all das führt zu einer generellen Unruhe in der Gesellschaft. Außerdem haben viele Belarus und die beharrlichen regionalen Proteste in Chabarowsk vor Augen.
Während die Versammlungsfreiheit immerzu eingeschränkt wird, wird die protestbereite Bevölkerung allmählich immer zorniger:
„Mit unserem Geld, das nicht aus der Staatskasse genommen, sondern dem Volk dienen soll, werden Paläste bezahlt. Und zwar über Offshore- und Strohmannkonten“, sagte am 23. Januar die 20-jährige Inna. „Dabei wollen wir eine ordentliche medizinische Versorgung haben, gute, angemessene Bildung, wir wollen, dass unsere Kinder zum Studieren nicht ins Ausland gehen, sondern in diesem Land Zugang zu guter Bildung bekommen. Dafür sind die Gelder nötig, die in die Paläste fließen.“
Fragen auch an Nawalny
Bemerkenswert sind auch die Antworten bezüglich Nawalny. Etwa die Hälfte der 15 Personen, die ich dazu befragen konnte, gaben an, sich nicht als Anhängerin oder Anhänger zu betrachten. Es handelte sich vor allem um Menschen über 25.
Prochor, 44, sagte: „Eigentlich mag ich ihn nicht, er ist toxisch. So war das bis zu den Ereignissen des letzten Monats, als der Kreml selbst ihn ungelenk zu einem echten Helden gemacht hat. Jetzt bin ich bereit, ihn zu unterstützen, vor einem Jahr war das nicht so.“
Artjom, 36: „Ich persönlich hätte genug Fragen auch an Alexei Nawalny, aber ich finde es noch schlimmer, was gerade passiert. Ich habe das Gefühl, dass nur noch Willkür herrscht, und dass man irgendwie seine Position deutlich machen muss.“
Wladimir, 43: „Ich bin kein Nawalny-Anhänger, aber im Moment sind wir Weggenossen.“
Die Situation ist in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit den Bolotnaja-Protesten, an denen Menschen mit recht unterschiedlichen Interessen beteiligt waren, vereint von einer breiten bürgerlichen Agenda. Doch im Vergleich zu 2011 gibt es heute weniger Freiraum für die freie Meinungsäußerung, weswegen viele Menschen auf der Suche nach einer Plattform sind, um ihrem Unmut über die Regierungspolitik im Allgemeinen Luft zu machen.
Schlussfolgerungen
Eine meiner zentralen Schlussfolgerungen aus der Umfrage lautet: Die Menschen haben immer weniger Angst vor nicht genehmigten Demonstrationen und halten diese zunehmend für eine gängige Praxis. Sie verstehen zwar, dass sie juristisch gesehen an einer illegalen Veranstaltung teilnehmen, doch für sie überwiegt ihr Recht auf freie Meinungsäußerung:
„Ich weiß, dass sie vor nichts zurückschrecken“, so Andrei, 28. „Ich weiß, was zu befürchten steht, aber ich habe keine Angst, etwas für die Wahrheit zu tun.“
„Wenn es zu brutalen Festnahmen kommt, werde ich ein blödes Gefühl haben, wenn ich meine Position nicht gezeigt habe, nicht gekommen bin“, sagte Oleg, 31. „Denn wenn ich nicht gekommen bin, hatten wahrscheinlich auch viele andere Angst, und dann bin ich also schuld, dass nicht genug Menschen da waren. Und sie [die Polizistinnen und Polizisten] haben deshalb gespürt, dass ihnen alles erlaubt ist.“
Ein solches Verhalten kann als eine der Folgen der restriktiven Politik in Sachen Versammlungsfreiheit betrachtet werden. Heute sind die protestbereiten Menschen die Verbote in einem solchen Maße gewohnt, dass sie keinen Unterschied mehr zwischen genehmigten und nicht genehmigten Veranstaltungen sehen und in jedem Fall auf die Straßen gehen. Mehrfach hörte ich das Argument, dass es gemäß der russischen Verfassung und, global gesehen, gemäß der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ein Recht auf freie Versammlung gebe, selbst wenn dadurch einzelne Gesetze verletzt werden sollten.
Von den Befragten, die angaben, in der Vergangenheit bereits an Protesten teilgenommen zu haben, sagten die meisten, sie hätten 2019 angefangen zu demonstrieren. Die meisten dieser Demonstrationen waren ebenfalls nicht genehmigt.
Folglich ist die massenhafte Teilnahme an nicht genehmigten Protestaktionen trotz der damit verbundenen hohen Risiken eine neue Realität, die durch die routinemäßig verweigerten Genehmigungen zustande gekommen ist. Auch die Regierungsstrategie, das Zentrum von Moskau zu blockieren und so den Protestierenden den Zugang zum ursprünglichen Treffpunkt, dem Lubjanka-Platz, zu verwehren, scheiterte.
Zwar musste der Kundgebungsort dreimal verlegt werden, was nicht nur den Protestierenden, sondern auch Unbeteiligten viele Schwierigkeiten bereitete, doch der Protest konnte dadurch nicht verhindert werden. Das zeugt von der Entschlossenheit und Konsequenz der Protestierenden.
Natürlich besteht in der russischen Gesellschaft ein Spektrum an Meinungen. Gegen Ende der Kundgebung vom 23. Januar interviewte ich Oleg, der 50 Jahre alt ist und regelmäßig an Protesten teilnimmt. Oleg trug ein Plakat mit der Parole „Danke, dass ihr gekommen seid“. Während des Interviews wurden wir von einer Passantin unterbrochen, die wütend schrie: „Danke, dass ihr abhaut!“
Wie immer behauptet die Regierung, dass die Menschen, die in ganz Russland protestierten, die Gesellschaft als Ganzes nicht vertreten und nicht in ihrem Namen sprechen können. Doch Russland ist nun mal ein großes Land, und solche Verallgemeinerungen sind weit von der Wahrheit entfernt. Die Protestierenden sind in erster Linie auf die Straße gegangen, um ihrer Stimme und dem Recht auf alternative Meinungen Gehör zu verschaffen. Sie sind jung, zornig, sichtbar, und wollen, dass die Regierenden eine Reaktion zeigen.
Elena Bezrukova ist Politikwissenschaftlerin und Projektmanagerin bei der Rosa Luxemburg Stiftung in der Russischen Föderation. Die Namen ihrer Gesprächspartnerinnen und -partner sind geändert. Der Beitrag ist ursprünglich auf Russisch erschienen in opendemocracy.net. Übersetzung von Vera Kurlenina und Lisa Jeschke, Gegensatz Translation Collective.