Jerofejew: Warum verlasse ich Russland?

Moskau–Deutschland im Auto: Viktor Jerofejews lange Flucht mit schweren Gedanken und Moskauer Kennzeichen

von Victor Jerofejew
Victor Jerofejew
Victor Jerofejew: "Es ist Krieg, doch über dem Land liegt Bewusstlosigkeit über das, was sich ereignet."

Shiva, unser Graupapagei, die roten Schwanzfedern leicht zerrupft vor banger Sorge, rief uns ein krächzendes „Ciao-ciao!“ hinterher und hockte sich auf seine Stange, unsere baldige Rückkehr erwartend. Ein Papagei kann sehr alt werden. Shiva wird alle überleben, Putin eingeschlossen. Er wird das Russland der Zukunft sehen. Aber ob er uns wiedersehen wird?

Im Auto schliefen alle schnell ein: meine Frau Katja, die beiden Töchter Maja (16) und Marianna (4). Wir verließen Moskau später als geplant: Wir wollten unseren ganzen sentimentalen Kram mitnehmen, wir mussten umpacken. Die Frühlingssonne ging unter, als wir auf die mautpflichtige Autobahn kamen, die Moskau mit Petersburg verbindet. Unser Ziel war Deutschland.

Aber wir machten einen großen Umweg über Finnland und dann per Fähre ins Baltikum. Die allrussische heilige Kirche, sprich: das rund um die Uhr landesweit sendende Fernsehen ist seit Beginn des Kriegs für die intellektuelle Kaste der Unzufriedenen etwa so schlimm wie Rattengift oder „Nowitschok“. Die Leute sahen zu, wie sie sich vor dem Gift in Sicherheit bringen konnten. Geblieben sind jene dermaßen Hartgesottenen, die dieses Gift für Doping halten.

Fährt man von Moskau Richtung Norden, scheint es nur ein Katzensprung nach Petersburg zu sein. Bei Twer beginnt eine verwaiste Landschaft mit schmächtigen Birken und düsteren Tannen. Es schneite, wurde dunkel. Auf der schneeverwehten Autobahn war nur noch ein Fahrstreifen übrig, doch die Fernfahrer bretterten verwegen und fröhlich über die Piste.

Mit Mühe die Fahrspur ausmachend, erkenne ich in dieser Keckheit der Fernfahrer Russland, das sich keiner Schuld bewusst ist. Es ist Krieg, doch über dem Land liegt Bewusstlosigkeit über das, was sich ereignet. Ich fuhr durch ein Russland, das nicht fähig ist, sich zu entschuldigen, da es nicht weiß wofür. Der Zorn der Europäer macht die Russen im besten Fall zu schuldlos Schuldigen. In Wahrheit ist Russland ein draufgängerischer Fernfahrer.

St. Petersburg: Warum fahre ich weg?

Kurz vor Petersburg bekam ich vor Müdigkeit Halluzinationen. Mal erschien mir ein Panzer mit gedimmten Scheinwerfern, mal ein Mann, der die Straße überquerte. Der Weg ins Zentrum Petersburgs ist lang und ermüdend, doch plötzlich fährt man in eine nächtliche Stadt von unglaublicher Schönheit. Jedes Haus hat ein architektonisches Schicksal und eine eigene Persönlichkeit.

Wozu zum Teufel hat man diese fantastische Stadt erbaut, durch und durch europäisch und zugleich kurios russisch? Was für eine Verhöhnung der stillosen Armut Hunderter anderer russischer Städte! Und was hat uns diese von der Geschichte zerrissene Stadt beschert, die Stadt der unheilvollen Revolution, des Großen Terrors, der Blockade durch die Nazis? Gleichsam als Vergeltung für diese Qualen hat sie uns aus ihren Hinterhöfen die Karikatur eines Zaren hervorgeholt, der uns das Weite suchen lässt.

Jeder Russe fürchtet sich, die Grenze seines Staates zu überschreiten. Der Krieg ist in vollem Gange, von Mariupol ist nichts mehr übrig, aber noch kann man hindurchschlüpfen, obwohl es aussieht, als würde das Vorhängeschloss demnächst geschlossen, sobald man sich, wie der besagte Zar es ausdrückt, von der fünften Kolonne gesäubert hat, den „Nationalverrätern“, den „ausländischen Agenten“. In Wirklichkeit befreit sich das Land von allgemeingültigen humanistischen Werten und bekräftigt die halbstarken Vorstellungen von der Überlegenheit unseres Hinterhofs über die ganze Welt.

Warum fahre ich weg?, dachte ich. Gelogen haben sie doch immer – und du bist nicht weggefahren. Die Lüge wurde repressiv, erklärte sich zu heiliger Wahrheit – und du fuhrst nicht weg. Und nun kam der erwartbare und dennoch unglaubliche Krieg. Unser Volk begrüßte ihn mit Hurra. Du wusstest doch, dass es ihn unterstützen würde! Es bestätigte sich, was du geahnt hast – also Zeit, wegzufahren.

Die Straße von Petersburg bis Wyborg ist nicht bemerkenswert. Endlich der Grenzübergang. Ein Gebäude wie eine öffentliche Toilette. Keine Flagge.

Die Frau hinterm Schalterfenster sah mich mit menschlichem Lächeln an, beäugte meine französische Aufenthaltsgenehmigung, und Katja, Maja und Marianna wurden mit ihren Schengen-Visa als begleitende Familienmitglieder durchgelassen. Ein junger Grenzbeamter schaute mit schüchternem Blick unter die Motorhaube und ins Innere unseres Wagens, kontrollierte, ob wir nicht statt des Ersatzreifens noch jemanden dabeihatten, und verstaute eigenhändig das Gepäck wieder im Kofferraum.

Keine Provokation, kein schiefes Wort. Erstaunt über solche Umgänglichkeit, wünschten wir der Grenzbeamtin, die den Schlagbaum hochklappte, einen schönen Tag und verließen das Land, das der Ukraine ehrlichen Herzens eine wahre Hölle beschert.

Finnland: Zu ehrlich in Europa

„An der finnischen Grenze werden wir nicht mal aus dem Auto aussteigen müssen“, versicherte ich meinen Mädchen. Das hätte ich nicht sagen sollen...

An der finnischen EU-Grenze mit Flaggen an stolzen Fahnenmasten empfingen uns fünf unbestechliche Joulupukkis, finnische Weihnachtsmänner, die uns in einen sauberen Saal mit Kabinen für die Begegnung mit Europa baten. Der erste wackere Weihnachtsmann im schwarzen Roboteranzug mit Kopfhörer im Ohr, Funkgerät, Pistolen an jeder Seite, drehte meine französische Aufenthaltsgenehmigung in den Händen. Meine Mädchen wurden trotz ihrer Schengen-Visa nicht durchgelassen, denn sie hatten freimütig gesagt, sie reisten mit mir nach Deutschland. Doch russischen Staatsbürgern war der Transit durch Finnland verboten.

Ich erklärte dem wackeren Weihnachtsmann, wir reisten aufgrund einer offiziellen Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung, doch das ließ ihn kalt. Hätten wir gesagt, wir seien auf dem Weg zum Skilaufen nach Lappland, hätten sie uns durchgelassen.

Seien Sie nicht zu ehrlich in Europa. Bei uns in Russland wird als Rettung die Lüge praktiziert. In Europa bedient man sich besser der Halbwahrheit. Der zweite, der große Weihnachtsmann, nahm seinem Kollegen die Pässe meiner wunderbaren Mädchen aus der Hand und führte sie in den Raum für Abschiebungen. Zu mir trat der dritte Weihnachtsmann, offenbar höheren Ranges.

„Wir müssen Sie nach Russland zurückschicken.“

In mir wohnen zwei Seelen. Eine russische, die ist ziemlich grimmig. Und eine französische, die durch den langjährigen Kontakt mit Frankreich entstand. Ich wandte mich an die zweite, die lächelnde Seele, die mir riet, über die Maßen gutmütig zu sein. Der Weihnachtsmann legte mir eine Broschüre mit Grenzregelungen vor, doch die französische Seele flüsterte:

„Auf keinen Fall anfassen.“

Die russische grimmige Seele riet mir:

„Sofort Schutzengel anrufen.“

Ich rief den befreundeten westlichen Botschafter in Helsinki an, der uns zum Abendessen erwartete. Ich erklärte ihm die Situation – er bat mich, das Handy an den Weihnachtsmann weiterzugeben. Der verschwand mit meinem Handy. Etwa zehn Minuten später gab mir der Unteroffiziersweihnachtsmann mein Handy zurück und erklärte:

„Ich respektiere Ihren background.“

Ich sah, dass der Weihnachtsmann ein wenig schmolz – doch nicht auftaute. Er bestand weiter auf Formalitäten. Also rief ich meinen finnischen Freund an, einen finnischen Diplomaten, der an diesem Tag tatsächlich mit seinen Kindern in Lappland Skilaufen war. Der Unteroffiziersweihnachtsmann verschwand erneut – und kam völlig aufgetaut zurück. Die anderen, vom Rang her niedriger, tauten wie auf Kommando ebenfalls auf und entließen meine Begleiterinnen aus ihrem Grenzarrest.

Doch unsere Pässe waren noch in den Händen der Weihnachtsmänner. Der Chefweihnachtsmann, ein glattrasierter Offizier, rief mich in sein Büro. Selbst im aufgetauten Zustand trug er seinen Sermon vom Transitverbot nochmal vor, doch da schaltete ich meine russische Seele ein:

„Als Kremlkritiker bin ich erstaunt, dass man mich zurückschicken und denen tatsächlich zum Fraß vorwerfen wollte.“

Das war eine Übertreibung. Aber wie erfreut er reagierte! Ich kann Sie nicht zurückschicken, erklärte er. Die Papiere waren abgestempelt und meinen Mädchen ausgehändigt worden.

„Uff!“, seufzte ich. Aber die Geschichte war damit noch keineswegs beendet.

Ein neuer Weihnachtsmann, ein Zollbeamter, erklärte, wir seien nicht mit der richtigen Bereifung unterwegs – ohne Spikes! Wieder schaltete ich meine französische Seele ein und antwortete ihm zärtlich, in Polen sei es nicht erlaubt, mit Spikes zu fahren, was solle ich also tun? Suchen Sie sich eine Mitfahrgelegenheit!

Ich bat darum, uns ein Taxi zu rufen (bis Helsinki sind es zweihundert Kilometer) und einen Abschleppwagen. Anderntags fuhr der Abschleppwagen an unserem Hotel vor. Ich setzte mich ans Steuer und kutschierte ohne Spikes durch Helsinki. Die Einreise nach Europa, zum Teufel auch, kostete mich mit Taxi und Abschleppwagen 1100 Euro.

Ich gratuliere dem großen Europa zu seinem Formalismus! Gogol fragte in seinen „Toten Seelen“, wohin stürmst du, Troika Rus? Es ist Zeit, Europa diese Frage zu stellen.

Ostsee: Verliere ich nun meinen Antrieb?

Wir schipperten durch die grauen Wellen der Ostsee auf einem Schiff, das wie eine ganze Stadt alles bot: Kommerz, Vergnügung, Hunderte Autos. In der Bar spendierte ich meinen Mädchen Eis, ließ mich in einem beigefarbenen Sessel nieder, blickte aufs Wasser und entspannte mich.

„Na, dir geht’s wohl gold?“, fragte mich meine russische Seele. „Wenn du dich in Europa niederlässt, verlierst du den wichtigsten Antrieb deines Lebens.“

„Soll heißen?“, verstand ich nicht.

„Du hast dein Werk... entschuldige das große Wort... als Kampf gegen die russische Entropie aufgebaut. Du wolltest die russische Welt besser machen, sie mit deinen Ohrfeigen aufwecken. Aber aufgewacht ist sie vom Kriegsgeheul ihres Führers und ging mit solchem Gebrüll auf die Ukraine los, dass du geflohen bist.“

„Ich bin auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung unterwegs“, sagte ich.

„Weißt du, wann du zurückkehrst?“, fragte meine russische Seele.

„Nein.“

„Hör mal. Ein normales Austauschen von Köpfen geht da vor sich, typisch für jede Revolution. Ihr, Tausende russischer liberaler Schwätzer, seid abgehauen, an eurer Stelle wächst neues Personal heran. Es beginnt ein anderes Leben ohne euch. Denk an Lenins Philosophenschiff! Du bist mit deinem Philosophen-BMW abgehauen...“ (Meine russische Seele brach in wildes Gelächter aus.) Musste man erst aus dem Totenhaus fliehen, um sich selbst in eine tote Seele zu verwandeln?

Meine französische Seele empörte sich. „Man kann einen neuen Antrieb finden. Er (also ich – V. J.) war nie ein Liberaler! Er war ein Schüler des Marquis de Sade, machte sich keine Illusionen bezüglich der menschlichen Natur. Und der jetzige Antrieb besteht darin, dass man die Russen in Europa für viele Jahre hassen wird, und er (das heißt ich – V. J.) wird genug zu tun haben. Karl Jaspers schrieb nach dem Krieg über die Schuld der Deutschen...“ Die Fähre näherte sich Tallinn.

Tallinn: Hass auf unsere russische Autonummer

Vana Tallinn – das bedeutet Alt-Tallinn und ist zugleich der Name eines bitteren Likörs. Wenn wir seinerzeit aus Moskau hierherkamen, um dieses rührend bittere Getränk zu schlürfen, war dies unser kleines sowjetisches Ausland mit Cafés und einer gewissen Freiheit in der Kunst. An der Universität von Tartu unterrichtete Juri Lotman, ein nahezu freier literaturwissenschaftlicher Kopf.

Heute passen die engen Gässchen der Altstadt gut zu den malerischen Läden mit dem netten Geschenkeplunder. In den Schaufenstern Ukraine-Fähnchen. Wir kauften eines und befestigten es an unserem Wagen – damit Europa, das jetzt nicht gut auf Russen zu sprechen ist, nicht die Scheiben unseres „Philosophenautos“ mit Moskauer Kennzeichen einschlug. Je weiter wir Richtung Polen kamen, desto aggressiver wurde der Hass auf unsere Autonummer.

In Tallinn sprachen wir mit Tiina Lokk, der Direktorin des Internationalen Dokumentarfilmfestivals darüber, wodurch sich das russische Glück vom europäischen unterscheidet. Die Intelligenzija in Russland vor und nach der Revolution schaute mit Verachtung aufs spießbürgerliche Glück – mit Kanarienvogel, Geranien und Spitzendeckchen. Überträgt man dieses kleinbürgerliche Idyll auf das Glück des europäischen Millionärs, so ist der Unterschied nicht groß: Der Nippes wird zum Park von Luxuskarossen, die Geranien zum Haus an der Riviera.

Für die russische Intelligenzia ist das langweilig – sie braucht eine Utopie vom grenzenlosen Glück. Das europäische Glück flößt aber auch dem russischen Volk kein Vertrauen ein. Versunken in Armut und Unglück von Jahrhunderten russischer Geschichte, hat es sein Glück gefunden, indem es nach Art des heiligen Narren auf jegliche Norm pfeift.

Wenn man Wodka trinkt, dann bis zur Bewusstlosigkeit. Wenn man feiert, dann bis der Arzt kommt. Wenn man sich prügelt, dann bis einer tot umfällt. Hauptsache, man versetzt sich in einen Bewusstseinszustand, in dem das Leben als närrisches Treiben erscheint und zugleich als Sieg über alle übrigen Formen des Daseins. Ein Minderwertigkeitskomplex und ein Komplex der Überlegenheit über alle anderen Völker produzieren einen casus belli, das Präludium für einen bestialischen Krieg ohne Regeln.

Wir tranken Kaffee in der Hotellobby, als meine potenziellen estnischen Verleger auftauchten, ein Mann und eine Frau, bescheiden, fast sowjetisch gekleidet. Sie standen wie ein Fels in der Brandung für ein frei sich entwickelndes Estland, doch die Epidemie der Dummheit, mit der sich praktisch die ganze Welt infiziert hat, beunruhigte sie und wirkt sich negativ auf die Auflagenhöhe von Büchern aus.

„Europa dümpelt vor sich hin“, suggerierte ihnen meine russische Seele. „Es entwickelt keine neuen Werte, und wenn doch, dann eher als Festschreibung der alten Toleranz. Vor sich hindümpelnd kann man lange leben; der geistige Reichtum des alten Europas ist enorm. Aber ein Erkalten des europäischen Körpers ist zu spüren, und das ermuntert die Russen, es in Stücke zu reißen.“

„Warum bist du hierhergekommen?“, fragte mich meine französische Seele traurig.

„Wohin soll ich denn sonst gehen?“, zog ich erstaunt die Augenbrauen hoch.

Riga: Auch das Wort Frieden ist verboten

In Riga hob sich unter Hunderten neuen „toten Seelen“, bekannten Journalisten und Politologen, aber auch einfach ehrlichen Leuten, denen von all den Lügen speiübel ist, ein alter Mann, mein Freund, den ich dort wiedertraf, dadurch hervor, dass er es war, der praktisch allen, die jetzt gehen, seit ihrer Kindheit geholfen hat, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.

Meine Tochter Maja wurde mit seinen Büchern groß, und jetzt möchte auch Marianna vor dem Einschlafen seine Geschichten hören. Noch bevor der Krieg begann, fand er eine Wohnung in Riga. So ergab sich eine halbe Emigration in eine vertraute Stadt, deren Einwohner überwiegend Russisch sprechen oder Russen sind.

Doch wie soll man sich richtig verhalten, um irgendwann ohne Angst zurückkehren zu können? Den Krieg beim Namen nennen oder ihn entsprechend den Forderungen Moskaus nicht als Krieg bezeichnen? Sich wegducken oder sich frei äußern? Zurückkehren, wenn der heiße Krieg ein kalter geworden ist, oder abwarten, bis die Hauptfigur abtritt? Mit der russischen SIM-Karte telefonieren? Werden sie dich schon nächste Woche einen „ausländischen Agenten“ nennen? Wovon hängt das ab? Von deinem Verhalten? Deiner Bekanntheit? Vom Zufall? Und wenn sie dich so nennen, was dann?

In Kriegszeiten können sie jeden abknallen – der Tod ist auf freiem Fuß und treibt sein Unwesen. An die Vorkriegszeiten erinnert man sich wie an paradiesische Zustände, obwohl in den letzten Jahren die Schrauben immer fester angezogen wurden.

Kurz vor unserer Reise, als der Krieg bereits begonnen hatte, war ich als Jurymitglied auf einem Festival in Riga. Man redete auf mich ein, nicht zurückzufahren. Aber wie konnte ich meine Familie mit den Anstrengungen ihrer Abreise dort allein lassen? Ich entschied mich zurückzukehren. Als mein Kollege in russischen Kulturangelegenheiten beschloss, in Riga zu bleiben, erschien ein Haufen internationaler Journalisten. Fernsehkameras, Blitzlichtgewitter.

Ich begriff, dass, wäre ich an seiner Stelle, meine Familie an der Ausreise gehindert worden wäre. Oder nicht? Auf dem Festival unterhielt ich mich mit Dmitri Muratow, dem Friedensnobelpreisträger und Chefredakteur der oppositionellen Nowaja Gaseta.

Wie ich kehrte auch er nach Moskau zurück. Aber für wie lange? Er musste das Erscheinen seiner Zeitung bis zum Ende des Krieges stoppen – andernfalls hätten sie sie verboten. „Alles wird geplündert, verraten, verkauft...“, schrieb Anna Achmatowa Anfang der 1920er-Jahre, aber in der Fortsetzung dieser Verse sah sie dennoch Licht – in Freundschaft, persönlichem Leben, Familie. So saßen auch ich und der Kinderbuchautor bei einem ausgezeichneten Abendessen und tranken guten Wein.

Auf einmal war er der Märchenerzähler und las meinen Kindern seine neuen Gedichte vor. Wir scherzten. Wir lachten. Dann lachten wir nicht mehr. Der Krieg ist voller Gerüchte und Klatsch. Der eine wurde gefeuert, der andere eingesperrt, der dritte übersehen. Vollkommen verschwunden in seiner Lagerhaft ist Nawalny. Krieg ist verboten, aber auch das Wort Frieden ist verboten. Wir lachten, wir waren entsetzt. Goya hat Recht: Krieg ist der Schlaf der Vernunft. Jeder Tag vergrößert die Kluft zum Leben vor dem Krieg. Russland wird aus dem Krieg auftauchen als unbegreifliches, unberechenbares Land.

Vilnius: Überall bin ich ein Verräter

Der Krieg hat alle anderen Themen ausgeblendet. Witze, das Frischfutter für den russischen Geist, sind nicht mehr lustig und haben sich in Missgeburten des Denkens verwandelt. Noch schlimmer ist die Auslöschung von Erfolgen im Leben und Schaffen.

Unter den neuen „toten Seelen“ traf ich in Vilnius einen Moskauer Musiker, den Leiter eines Sinfonieorchesters, den ich seit der Kindheit kenne. Er war nie Dissident, doch dieser Krieg, gleich einer unfassbaren Perversität, wurde für ihn unerträglich, und er schlug seine Zelte in Vilnius auf.

Weil er Russe ist, erhielt er von internationalen Konzertsälen mehrere Absagen. Zugleich ist klar, dass er in Russland sein Orchester verliert, wenn er nicht zurückkehrt. Was tun? Die ewige russische Frage schwebt wie ein Damoklesschwert über unseren Köpfen.

Doch dann hörte ich von anderer Seite eine unerwartete Liebeserklärung für die russische Kultur. Nach vielen Jahren der Arbeit am Moskauer Wachtangow-Theater ist der Regisseur Rimas Tuminas nach Vilnius zurückgekehrt. Wegen seiner Arbeit in Moskau hält man ihn in Litauen für einen Verräter, und in Moskau befand man ihn als litauischen Nationalisten für eine missliebige Person. Vor nicht langer Zeit inszenierte er eine Aufführung nach Tolstois „Krieg und Frieden“, in der das Bühnenbild aus einer diagonal über die Bühne verlaufenden Wand bestand, die Leben und Tod, Gut und Böse voneinander trennte.

Rimas erzählte durch Tolstoi vor allem von sich selbst, von seinem Kampf gegen den Krebs. Und er fand in Natascha Rostowas liebender Hingabe das flatterhafte, Spott provozierende Modell der menschlichen Natur. Das Moskauer Vorkriegspublikum war überwältigt von der Inszenierung, ein Abgrund an Bedeutungen tat sich auf. Und nun – alles für null und nichtig erklärt.

Jetzt wird er weder dort noch hier gebraucht. „Überall bin ich ein Verräter“, wie er sagt. Trotz seiner Krankheit traf er sich mit mir, wirkte frischer und scheinbar genesen. Wir lachten viel (wie auch mit dem Kinderbuchautor). Lachen ist natürlich eine Medizin, aber kein Allheilmittel.

Ich bin sicher, dass gerade Tolstoi, zusammen mit Tschechow und Turgenjew, die Europäer in ihrer Abscheu gegenüber dem heutigen Krieg bestärkt haben. Erst hat die russische Kultur aus der westlichen Erfahrung gelernt, dann hat sie selbst viele Generationen von Europäern gelehrt. Bloß uns selbst hat die russische Kultur wenig beigebracht.

Mein trauriger Musiker kam auf meine Eltern zu sprechen. Sein Vater, ein genialer Geiger, war mit meinem Vater befreundet, der während des Chruschtschowschen Tauwetters als Kulturattaché an der russischen Botschaft in Paris arbeitete. Der Geiger war nach Paris gereist, um eine seltene alte Geige zu erwerben. Nach dem Kauf statteten sie Yehudi Menuhin, dem amerikanischen Geiger, einen Besuch ab.

Die beiden Musiker waren dermaßen in die Betrachtung des Instruments versunken, rissen es sich buchstäblich gegenseitig aus den Händen und waren so entzückt, dass sie meinen Vater ganz vergaßen. Der schaute den beiden nur verblüfft zu. Sämtliche ideologischen Differenzen zwischen dem amerikanischen und dem sowjetischen Musiker hatten sich in Luft aufgelöst. Ich erinnere mich, wie mein Vater mir erzählte, er habe in jenem Moment verstanden: Die Musik steht über allem.

Polen: Schämen Sie sich nicht?

Bei uns gibt es ein Sprichwort: „Die Natur ruht sich aus bei den Kindern“. So sagt man, wenn die Kinder begabter Eltern mittelmäßig geraten. Mein Sohn lebt schon viele Jahre in Polen; seine Mutter ist Polin. Er wohnt unweit der russischen Grenze in Masuren. Direkt vom Haus führt ein Pfad zum See. Da liegt ein Boot. Daneben ein Tisch für Jausen im Freien. Mein Sohn ist Buchdesigner. Für ihn und seine Familie habe ich das Sprichwort abgeändert: Die Kinder ruhen sich aus in der Natur.

Vielleicht hat er Recht: sich in ein schönes Eckchen der Welt zurückziehen und es sich gut gehen lassen. Dem stürmischen russischen Glück entsagen. Er versuchte mich davon abzuhalten, durch Polen zu fahren. Ich hörte nicht auf ihn. Aus dem Baltikum fuhren wir ihn besuchen.

Wir überklebten die russische Trikolore auf dem Nummernschild – und übersahen dabei folgendes: In Polen gibt es eine enorme Zahl ukrainischer Flüchtlinge. Sie wissen, wie russische Nummernschilder aussehen; der Aufkleber auf dem Nummernschild und das ukrainische Fähnchen retteten uns nicht. Man rief uns „Ruhm der Ukraine!“ hinterher und ballte dazu die Fäuste. Meine Mädchen waren zu Tode erschrocken.

Im Zentrum von Warschau luden wir vor dem Hotel in der Ulica Smolna unser Gepäck aus dem Auto. Mir fiel ein großer Pan mit Brille und schwarzem Mantel auf, der uns beobachtete. Ein feiner Herr. Er trat auf uns zu und fragte mich:

„Schämen Sie sich nicht, Russe zu sein?“

Ich antwortete ihm auf Polnisch, ich sei gegen diesen Krieg und gegen den Kreml, doch er wollte das nicht glauben und lachte spöttisch, während das überklebte russische Nummernschild ansah. Ich sagte, ich spräche polnisch mit ihm, weil mein Sohn Pole sei. Er stutzte, nahm uns aber mit seinem Handy auf. Auch ich holte mein Handy hervor – und so kam es zu diesem kurzen Video-Scharmützel, bis er schließlich davonging.

Die Geschichte wiederholt sich. Zu Sowjetzeiten reiste ich mit meiner polnischen Ehefrau in unserem Lada mit sowjetischem Kennzeichen nach Warschau. Einmal war ich allein in der Ulica Nowy Świat unterwegs, und ein eleganter Pan mit Hut spuckte demonstrativ auf meine Kühlerhaube. Ich hob den Daumen, um zu zeigen, dass ich ihn verstehe. Sie hätten seinen verblüfften Blick sehen sollen!

Beim Abendessen erzählte ich meinem Freund Adam Michnik, dem legendären Helden von „Solidarność“, von der Begegnung mit polnischem Hass in der aktuellen Variante. Schreckliche Kriege in Afrika sind schnell vergessen, aber einen Krieg in Europa wird man jahrzehntelang nicht vergessen.

Unser dritter Mann bei diesem Gespräch, der russische Journalist K. aus Kiew, begann über Butscha zu reden. Jetzt wird der Name dieser kleinen Stadt einen so unheilvollen Klang haben wie Katyn. Übrigens gibt es in Russland bis heute Sturköpfe, die wider besseres Wissen die Deutschen für die Schlächter von Katyn halten. Dasselbe erwartet Butscha. Uns quälte der Gedanke, dass die Ukraine auf dem Schlachtfeld nicht siegen dürfe.

Das Bestmögliche wäre eine Lösung wie im Winterkrieg gegen Finnland im Jahr 1940: Der Pseudosieg für Stalin, in Wahrheit eine Niederlage, ermöglichte es den Finnen, den neutralen Status ihres Landes zu bewahren. Aber hier, je näher die Ukrainer einem Sieg kommen, desto deutlicher zeichnet sich der Atompilz über einer der ukrainischen Städte ab. Wir stritten, auf welche Stadt sie eine Atombombe werfen könnten. Wir verglichen die Diktatoren, die gestrigen und die heutigen. Adam musste lachen: „Ein absurder Wettstreit!“

Deutschland: Des Menschen Unmenschlichkeit

Noch nie habe ich mit solcher Erleichterung die polnisch-deutsche Grenze überquert. Das Schicksal hat bestimmt, dass wir für eine gewisse Zeit im Schloss Wiepersdorf Zuflucht finden und durchatmen können. Meine französische Seele jubiliert: Hier gibt es einen französischen Park mit Büschen, die zu geometrischen Figuren zurechtgestutzt sind.

Mein Intellekt ist glücklich – hier lebte Bettina von Arnim, magischer Kristall der deutschen Romantiker. Im Park, in dem diese mutige lebenslustige Dame begraben liegt, wurden anlässlich des frühlingshaften Wetters die Statuen antiker Krieger und Schönheiten mit nackten Beinen aus ihren vertikalen Särgen befreit.

Krieger wird es immer geben. Unmenschlichkeit ist ein integraler Bestandteil des Menschen. Selbstaufopferung der Verteidiger der Heimat – auch das ist ein menschliches Faktum. Putin hat die ukrainische Nation geschaffen und mit Blut zusammengeschmiedet. Im Park singen die Vögel. Meine russische Seele fragt besorgt: Wann bloß werde ich endlich meinen Papagei Shiva wiedersehen?

Aus dem Russischen von Beate Rausch. Dieser Beitrag ist ursprünglich am 2.5.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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