Memorial: Eine Leerstelle entsteht
Das Museum Berlin-Karlshorst zeigt noch einmal die Memorial-Ausstellung „Postscriptum“ über Zwangsarbeiter
Zum Beispiel Sinaida. Sie war 21 Jahre jung, als sie verschleppt wurde. Gemeinsam mit ihrem Mann lebte sie als Zwangsarbeiterin auf einem Bauernhof in Nürnberg: „Mein Mann und ich lebten zu zweit beim Bauern, in einer Ecke unter dem Dach. 1944 wurde unser Sohn Oleg geboren. Während wir arbeiteten, war er auf dem Hof oder im Kuhstall. Einmal, da war er zwei Monate alt, haben ihn die Ferkel fast totgebissen.“
Zum Beispiel Witalij. Er war 18 Jahre, als die Deutschen ihn gefangen nahmen und zwangen, in einer Fabrik bei Leipzig zu schuften: „Wir hatten Gummihandschuhe an. Die wurden für 7 Tage ausgegeben, sie rissen aber schon früher und wir konnten auf keinen Fall neue bekommen. Die Säurelösung gelangte durch die durchgewetzten Löcher an die Haut. Auf der Haut bildeten sich tiefe Geschwüre, die danach nicht verheilten.“
Dass wir heute deren Zwangsarbeitergeschichte kennen, ist einer missverständlichen Nachricht in der Zeitung Iswestija geschuldet. Dort war 1990 zu lesen, dass die Gesellschaft Memorial sich um die Auszahlung von Entschädigungsleistungen für die unbezahlte Arbeit in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs kümmern werde. Binnen zwei Monaten gingen danach mehr als 320 000 Briefe ein. Darin berichteten die Menschen detailliert über ihre Erlebnisse in Deutschland, schickten persönliche Dokumente und Fotos.
Memorials unverzichtbare Bedeutung
„Der Irrtum eines Journalisten hatte dazu geführt, dass eine ganze Generation von Opfern der Zwangsarbeit zu sprechen begann.“ Mit diesen Worten erläutert das Deutsch-Russische Museum Karlshorst die große Bedeutung der Organisation Memorial International für die Geschichtsschreibung, speziell die Erinnerung an die Zeit von Krieg und deutscher Besatzungsherrschaft. „Daneben ist es ein nicht zu unterschätzender Beitrag, dass Memorial den sowjetischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern nach Jahren der Verdrängung und des Verschweigens erstmals eine Stimme in der russischen Öffentlichkeit gab.“
Wegen der Anklage der russischen Generalstaatsanwaltschaft gegen Memorial hat sich das Museum entschlossen, die Ausstellung „Postscriptum – ‚Ostarbeiter‘ im Deutschen Reich“, die 2017/2018 von Memorial erarbeitet wurde, erneut im Museumsgarten zu präsentieren.
„Die Arbeit von Memorial ist für das Museum Berlin-Karlshorst ein unverzichtbarer Bestandteil der multilateralen internationalen Zusammenarbeit mit Partnern im osteuropäischen Ausland“, heißt es in einer Mitteilung. „Memorial hat mit seiner jahrzehntelangen dokumentarischen Arbeit einen elementar wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung unserer gemeinsamen Geschichte geleistet.“ Und weiter: „Wir wollen nicht, dass durch die vorsätzliche Auflösung von Memorial eine Leerstelle in die versöhnende Zusammenarbeit über Grenzen hinweg gerissen wird.“ PHK
„Postscriptum – ‚Ostarbeiter‘ im Deutschen Reich“
eine Ausstellung von Memorial
Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst
Zwieseler Str. 4
10318 Berlin
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