Aus Königsberg wird Kaliningrad
Am 4. Juli 1946 wurde Königsberg umbenannt, aber wer gab der Stadt den Namen?
Es war ein einfacher administrativer Akt inmitten der gewaltigen Umwälzungen, die Ostmitteleuropa der unmittelbaren Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, dem nationalsozialistischen Völkermord und verschiedenen Vertreibungen und „ethnischen Säuberungen“ erlebte. Vor 75 Jahren, am 4. Juli 1946, wurde aus Königsberg Kaliningrad.
Die Namensänderung zeigte auch den Wechsel der staatlichen Zugehörigkeit der Stadt an – von den Resten des geschlagenen Deutschen Reichs zur Sowjetunion, die den deutschen Vernichtungsfeldzug unter unvorstellbaren Opfern abgewehrt und zurückgeschlagen hatte. Außerdem vollzog sich in diesen Jahren ein dramatischer Austausch fast der gesamten Bevölkerung der Stadt: Von der in den Ruinen bei Kriegsende verbliebenen deutschen Bevölkerung – gut 100 000 Menschen – starben bis zu 80 000 durch Krankheiten, Hunger oder Gewalt, die Überlebenden wurden 1947/48 in die sowjetische Besatzungszone deportiert, während aus der gesamten Sowjetunion nolens volens die neuen Bewohner der entstehenden Nachkriegsstadt eintrafen.
Auf der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 hatten die „Großen Drei“ – die Regierungschefs der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion – beschlossen: Das nördliche Drittel des ehemaligen Ostpreußens inklusive Königsbergs soll an die Sowjetunion gehen. Am 7. April 1946 wurde dieses Gebiet mitsamt der Stadt auf Grundlage einer Resolution des Ministerrats der Sowjetunion „Zur Verwaltungsstruktur der Stadt Königsberg und des Umlands“ auch administrativ zu einem Teil der Sowjetunion gemacht, spezifisch der Russischen Sowjetrepublik.
Bald legte der Ministerrat dem Obersten Sowjet der UdSSR einen Entwurf für ein zu verabschiedendes Dekret „Über die Umbenennung der Stadt Königsberg in die Stadt Baltijsk und des Königsberger Gebiets in das Baltische Gebiet“ vor, außerdem einen Entwurf für ein Dekret „Über die administrativ-territoriale Struktur des Baltischen Gebiets“. Im Juni 1946 sollte das Präsidium des Obersten Sowjets über diesen Vorschlag befinden.
Von Kaliningrad war im April und Mai 1946 noch keine Rede. Die geographische Lage sollte namensgebend werden – „Baltijsk“ könnte man vielleicht mit „Baltische Stadt“ übersetzen, nach dem „Baltischen Meer“, wie die Ostsee im Russischen genannt wird.
Benannt nach einem Bolschewisten
Dann aber starb am 3. Juni 1946 Michail Kalinin, und alles änderte sich. Bis kurz vor seinem Tod war er mehr als zwanzig Jahre das – machtlose – Staatsoberhaupt vor Stalins Gnaden und „Frühstücksdirektor“ der Sowjetunion gewesen.
Die Bolschewiki hatten bekanntlich schon früh wenig Bedenken, ganze Städte nach ihresgleichen zu benennen: Leningrad (1924 – 1991), Stalingrad (bis 1925 Zarizyn, seit 1961 Wolgograd), Molotow (1940 – 1957 der Name von Perm) oder Kuibyschew (wie Samara von 1935 – 1990 hieß) sind nur die Spitze des Eisbergs. Und so musste dieses unvermeidliche Ritual sowjetischer Herrschaft auch auf den Tod des Staatsoberhaupts folgen: Dekret Nr. 1444 des Ministerrats der UdSSR vom 30. Juni 1946 „Zur Verewigung des Andenkens an Michail Iwanowitsch Kalinin“ wurde veröffentlicht auf der Titelseite der Prawda vom 1. Juli 1946.
Darin wurde unter anderem angeordnet: die Errichtung von Kalinin-Denkmälern in Moskau, Leningrad und Kalinin (so hieß die Stadt Twer bereits seit 1931), die Umbenennung verschiedener Industriewerke und militärischer Institutionen nach Michail Kalinin, die Herausgabe der Werke Kalinins, einer Biografie und eines seinem Leben gewidmeten Kunstbands, die Schaffung von Kalinin-Stipendien, eines Kalinin-Museums, einer Kalinin-Straße. Auch die Umbenennung von Städten und Gebieten durfte nicht fehlen, darunter das kaum drei Monate zuvor in die RSFSR integrierte Königsberger Gebiet und seiner namensgebenden Hauptstadt.
So wurde die Namensgebung der neuen westlichsten Stadt Russlands zu einem rituellen Nebenprodukt und Nachhall des Ablebens des Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets – obschon dieser zu seinen Lebzeiten zur Stadt Königsberg keinerlei Beziehung hatte. Der ursprüngliche Plan, aus Königsberg Baltijsk zu machen, war Makulatur, noch bevor über ihn befunden werden konnte. Da aber auch alle anderen Ortschaften des neuen Kaliningrader Gebiets neue Namen erhalten sollten, konnte die Bezeichnung Baltijsk trotzdem Verwendung finden. Seit November 1946 heißt so der Vorhafen Kaliningrads, das ehemalige Pillau.
Ein europäischer Ort
Namen sind Schall und Rauch, heißt es. Ortsnamen sind aber auch Ausdruck von Zugehörigkeiten, Zeugnisse historischer Entwicklungen, landschaftlicher Gegebenheiten, früherer Nutzungen oder – manchmal – auch Abbilder politischer Systeme und ihrer Eigenarten.
Auch dieser Ort hat tatsächlich deutlich mehr Namen als es der einfache Gegensatz Königsberg/Kaliningrad glauben lässt. Schon lange vor der Gründung Königsbergs lag hier eine Twangste genannte Siedlung bzw. Burg. Für die hier langansässige litauische Minderheit hieß die Stadt Karaliaučius, für die benachbarten Polen Królewiec. Heute nennen manche Bewohner sie kurz und knapp Kenig.
Doch gerade dieses Sprachengewirr und diese wechselvolle Namensgeschichte der Stadt – die ihrer kosmopolitischen Geschichte und den vielfältigen Einflüssen Ausdruck verleihen, aber auch das totalitäre Zeitalter, faschistische Vernichtungsphantasien und durch sie erzeugte Abwesenheiten auf den Plan rufen – macht sie vielleicht zu einem ganz besonders „europäischen“ Ort, mit allem Guten und Schlechten, was dieser Begriff und seine Geschichte impliziert. In jedem Fall ist die Stadt – historisch, geographisch, aber eben auch namentlich –zweifellos ein sehr geeigneter Ort für deutsch-russische Dialoge, zumal sie gerade hier nur als ein europäischer Austausch denkbar sind. Umso besser, dass es auch die Heimatstadt Kants ist, eines Vordenkers des Kosmopolitismus.
Lesetipp
Per Brodersen: "Die Stadt im Westen. Wie Königsberg Kaliningrad wurde", Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2008.