War Stepan Bandera ein Faschist?
Ja, sagt der polnischen Historiker Grzegorz Rossoliński-Liebe, Berliner Zeitung, 2.7.2022
Der Botschafter der Ukraine in Berlin, Andrij Melnyk, hat kürzlich für Aufregung gesorgt, weil er Stepan Bandera nicht als Faschist bezeichnen wollte und seine Beteiligung an Massenmorden der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) im Zweiten Weltkrieg in Abrede stellte. Hat Melnyk Recht? Die Berliner Zeitung hat den polnischer Historiker Grzegorz Rossoliński-Liebe befragt, der seine Doktorarbeit über den ukrainischen Nationalisten schrieb.
„Die Reaktion Andrij Melnyks gibt das ukrainisch-nationale Bild Banderas wieder, das in der Westukraine und der ukrainischen Diaspora verbreitet ist“, sagte der wissenschaftlicher Mitarbeiter am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Rossoliński-Liebe sprach von einem „Mythos, der nach seiner Ermordung am 15. Oktober 1959 in München von OUN-Veteranen wie Petro Mirtschuk konzipiert wurde“. Mirtschuk habe Banderas Bild auf die nationalen und „positiven“ Elemente reduziert und ihn als Nationalhelden dargestellt.
„Bandera war eindeutig ein Faschist“, meint Rossoliński-Liebe. Er habe „den ukrainischen Faschismus mit erfunden und er sollte der Führer eines ukrainisch-faschistischen Staates werden, der in einem Europa funktionieren sollte, das von Hitler und Mussolini regiert wird“.
Allerdings habe Hitler diesen Staat 1941 nicht anerkannt. „Hitler wollte keinen ukrainischen Staat haben, ähnlich wie er keinen litauischen oder weißrussischen Staat in dem Gebiet haben wollte, das bis Sommer 1941 im sowjetischen Machtbereich lag.“ Dass Bandera in einem Nazi- Gefängnis saß, habe geholfen, Bandera als Nazi-Gegner zu stilisieren.
Gemordet habe Bandera nicht, aber er wollte einen ethnisch homogenen Staat. Deshalb sei er für Verbrechen mitverantwortlich, die ukrainische Nationalisten an Juden, Polen, Russen und Ukrainern begangenen haben, so Rossoliński-Liebe. Außerdem habe er vor dem Krieg Attentate vorbereitet wie jenes auf Polens Innenminister Bronisław Pieracki, und er ließ OUN-Mitglieder töten, die mit dem polnischen Geheimdienst zusammenarbeiteten. „Der Plan der OUN war, Juden, Polen und Russen teilweise zum Verlassen der ukrainischen Gebiete zu zwingen, teilweise zu ermorden.“
Die Geschichte seiner Verantwortung für die Massenmorde sei „kompliziert. Auf jeden Fall komplizierter als bei Hitler, Mussolini oder Pavelić.“ Aber die Behauptung, Bandera sei nicht verantwortlich für die Verbrechen an Juden und Polen in der Westukraine, sei „falsch, weil er einige Morde und Massenmorde selbst mit vorbereitet hat und für andere eine politische Verantwortung trägt“.
Banderas „eigentliche Aufstieg“ sei erst post mortem geschehen, nach seiner Ermordung 1959 in München. „Da er durch einen KGB-Agenten ermordet wurde, wurde er als ein Held verstanden, der im Kampf für die Ukraine gefallen ist.“ Dieses Narrativ sei nach dem Zerfall der Sowjetunion in der Westukraine in den frühen 1990er-Jahren aufgegriffen, mehrere Denkmäler seien errichtet worden. PHK