Russland: ‚Der Westen muss realistisch bleiben‘
Historiker Vladislav Zubok rechnet nicht mit dem Zusammenbruch Russlands, Foreign Affairs, Juli/August 2022
Putins Blitzkrieg ist gescheitert. Aber auch die Prognosen des Westens haben sich nicht bewahrheitet. Russland ist unter den harten Sanktionen nicht kollabiert. Die Mehrheit der Russen unterstützt den Krieg in der Ukraine, der von Analystinnen und Kommentatoren erhoffte Putsch oder Massendemonstrationen sind ausgeblieben und Putin ist noch immer nicht (s)einer angeblichen schweren Krankheit zum Opfer gefallen.
Wieso haben die Demokraten so geirrt? Weil sie die Geschichte und das Ende der Sowjetunion falsch gedeutet und auf Putins Russland übertragen haben, meint der Historiker Vladislav Zubok (London School of Economics und Autor von „Collapse: The Fall of the Soviet Union“).
Russland weise heute „eine ganz andere Kombination aus Widerstandsfähigkeit und Verwundbarkeit auf als die Sowjetunion in ihrer Endzeit“. Putins Regime sei viel stabiler als es das von Gorbatschow war.
Das heiße nicht, dass der Westen hilflos sei. Wenn er geeint bleibe, könne er die Macht des russischen Präsidenten langsam untergraben. Allerdings könnten westliche Führer, so Zubok, nicht mit einem schnellen und entscheidenden Sieg rechnen. „Sie werden sich auf absehbare Zeit mit einem autoritären Russland auseinandersetzen müssen, auch wenn es geschwächt sein mag.“
Als Gründe nennt Zubok unter anderen:
Russland verfüge über 600 Milliarden Dollar finanzielle Reserven, weltweit eine der größten Reserven.
Die hohen Einnahmen aus den Geschäften mit Energieträgern habe Putin eingesetzt, um seine Macht und den autoritären Staat abzusichern, Sicherheitsdienste und die Militär- und Rüstungsindustrie auf- und auszubauen.
Überrascht habe Putin, wie hart die Sanktionen des Westens ausfielen, und dass mehr als 700 westliche Unternehmen Russland verließen. Die westliche Euphorie darüber habe allerdings nicht lang gehalten. Denn der Rubel ist nicht kollabiert, es habe auch keine breiten Proteste gegeben. Stattdessen lernten die russischen Unternehmen, mit der neuen Realität zurechtzukommen, und dabei erhielten sie Hilfe durch Staaten wie China und Indien. Ergebnis: „Kurzfristig ist es unwahrscheinlich, dass die scharfen Sanktionen den Rubel zerstören und den Kreml zum Einlenken zwingen.“
Allerdings träfen die Strafen einen bestimmten Teil der russischen Bevölkerung: die Eliten und die städtische Mittelklasse. „Für die Kosmopoliten des Lands hat Russlands Invasion das Leben erschwert.“ Sie flüchteten in nennenswerter Zahl das Land, was Putin als „natürliche und notwendige Selbstreinigung der Gesellschaft“ sogar unterstützt.
Der andere Teil der Bevölkerung, Zubok schätzt drei Gruppen, die zusammen achtzig Prozent der Bevölkerung stellen, stehe hinter Putin. Sie stünden nicht in Verbindung mit der globalen Wirtschaft und seien nicht geplagt durch Russlands Bann und die Sanktionen. Und sie befürworteten aus historischen Gründen (Gorbatschows Idealismus und „Schwäche“) einen starken Anführer und die Festigung des Lands, „nicht Demokratie, Menschenrechte und nationale Selbstbeschränkung“.
Sanktionen wirken langfristig
Und doch: „Sowohl westliche als auch kluge russische Ökonomen sind sich einig, dass die Sanktionen langfristig zum Schrumpfen der russischen Wirtschaft führen werden, wenn die Lieferkettenunterbrechungen zunehmen.“ Putin dagegen glaube, dass die Sanktionen „chaotisch“ seien und die westlichen Ökonomien und die Verbraucher härter treffen werde als die russischen. Ohnehin habe der Westen angesichts der zunehmenden Multipluralität das Sagen verloren, glaube Putin und etliche russische Ökonomen, die Welt werde weiterhin Handel mit Russland treiben, auch unter Verletzung der Sanktionen, und Russlands Verhältnis zur Welt werde sich wie 2014 wieder normalisieren.
Zubok räumt ein, dass es nicht leicht sein werde, „das Level an Einigkeit zu wahren“ oder gar die Sanktionen zu verschärfen. Für Ungarn, Deutschland und Italien wäre ein Energieembargo ein „schwerer Schlag für ihre Wirtschaft“. Und ein solcher Energiebann würde nicht sofort zu einer Krise in Russland führen. „Aber wenn der Westen Putin ernsthaft stoppen will, muss er trotzdem versuchen, den Druck aufrechtzuerhalten“, so Zubok. „Je länger die Sanktionen dauern und je härter sie werden, desto mehr wird das antirussische Wirtschaftsregime des Westens von anderen Akteuren der Weltwirtschaft implementiert und internalisiert.“ Denn sie machten sich zunehmend Sorgen wegen möglicher Sekundärsanktionen, Unternehmen fürchten um ihren Ruf. Chinas Telekommunikationsgigant Huawei habe neue Verträge mit Russland bereits ausgesetzt, indische Firmen gerieten wegen Ölgeschäften mit Russland unter Druck.
Langfristig erwartet der Historiker eine Schwächung Russlands. Aber es werde nicht zerbrechen wie damals die Sowjetunion. Deshalb: „Der Westen sollte Kurs halten“, so Zubok. „Die Sanktionen werden Russlands Kriegskasse und Kampfkraft nach und nach erschöpfen. Angesichts zunehmender Rückschläge auf dem Schlachtfeld könnte der Kreml einem unsicheren Waffenstillstand zustimmen.“
Aber der Westen müsse auch realistisch bleiben. Es werde eine Periode geben, „in der die Ukraine und der Westen mit einem geschwächten und beschämten autokratischen Russland leben müssen. Westliche Politiker sollten sich eher darauf vorbereiten als von einem Zusammenbruch in Moskau zu träumen.“ PHK