Ukraine: Diplomatie ist billiger

Barry R. Posen: Langer Krieg oder Diplomatie? Beides Experimente mit ungewissem Ausgang, Foreign Affairs, 8.7.2022

von KARENINA
Barry Posen in Foreign Affairs: Krieg oder Diplomatie?

„Die Führer der Ukraine und ihre Unterstützer sprechen, als stünde der Sieg kurz bevor“, wundert sich Barry R. Posen. Für den Professor für Internationale Politik am Massachusetts Institute of Technology (MIT) scheint das „zunehmend eine Fantasie zu sein“. Die Ukraine und der Westen sollten „zu einem realistischeren Ansatz übergehen: einen diplomatischen Kompromiss finden, der die Kämpfe beendet“.

Er hält einen Sieg des ukrainischen Militärs durch Zermürbung nicht für möglich, selbst dann, wenn der Westen die Ukraine mit besten Waffen ausrüstet. „Es ist nicht ersichtlich, welche spezielle Technologie des Westens dem ukrainischen Militär eine solche Überlegenheit verschaffen würde, dass es die russische Verteidigung knacken könnte.“

Auch einen Aufstand gegen Putin, ausgelöst etwa durch Familienmitglieder getöteter und verletzter Soldaten oder wirtschaftlichen Druck, hält Posen nicht für möglich. Eine Strategie des Regime Change hält er für unseriös, selbst wenn es Menschen in Moskau geben sollte, die ihr Leben riskieren wollen, um Putin zu töten.

Posen scheint anzunehmen, dass die Zeit eher für Russland arbeitet als für die Ukraine. Bei einem langen Krieg sei nicht klar, ob das Land dauernde Verluste lange aushalten können. „Selbst den patriotischsten Soldaten kann die Geduld ausgehen, wenn der Kampf aussichtslos erscheint.“

Die Russen dagegen hätten wahrscheinlich „eine hohe Schmerztoleranz“. Putin habe es geschafft, „dass viele russische Bürger den Kampf genauso sehen wie er – als einen entscheidenden Kampf um die nationale Sicherheit. Und Russland hat mehr Einwohner als die Ukraine.“

Das plausibelste Ergebnis nach langen Kämpfen sei ein Patt in der Nähe der aktuellen Kampflinien, ein Unentschieden auf dem Schlachtfeld. „Irgendwann werden die beiden Länder Verhandlungen wahrscheinlich für sinnvoll halten.“ Beide Seiten müssten dann erkennen, dass bei echten Verhandlungen „jeder auf etwas Wertvolles verzichten muss“.

Wenn dies das wahrscheinlichste Ergebnis sei, ergebe es für den Westen „wenig Sinn, noch mehr Waffen und Geld in einen Krieg zu stecken, der jede Woche mehr Tod und Zerstörung zur Folge hat“. Die Verbündeten der Ukraine sollten weiter Material zur Verteidigung bereitstellen, „aber sie sollten es nicht dazu ermutigen, Ressourcen für Gegenoffensiven aufzuwenden, die sich wahrscheinlich als vergeblich erweisen werden. Vielmehr sollte sich der Westen jetzt an den Verhandlungstisch bewegen.“

Diplomatie wäre ein Experiment mit ungewissem Ausgang, räumt Posen ein. Aber auch die Probe auf die ukrainischen und westlichen Siegestheorien erfordere fortgesetzte Kampf. „Der Unterschied zwischen diesen beiden Experimenten ist, dass Diplomatie billig ist.“  PHK

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