Stehen wir am Rand eines Kriegs?
Dmitri Trenin glaubt nicht daran, niemand gewönne, Russland fordere nur Respekt ein, Carnegie Moscow Center, 29.1.2022
Elena Chernenko, Journalistin der Zeitung Kommersant, fragte Dmitri Trenin: Stehen wir am Rand eines Kriegs? Der auch im Westen anerkannte Direktor des Carnegie Moscow Center schließt einen militärischen Konflikt für die nächsten Monate aus. Ein „georgisches Szenario“ sei unwahrscheinlich.
1. Weil die USA die ukrainische Regierung „und andere in der Ukraine tätige Elemente“ ausreichend kontrolliere, so dass eine Provokation unwahrscheinlich sei.
2. Weil die russische Seite etwas erreicht habe (wenn auch nicht – erwartbar – die Zusage für die große Frage Nato-Expansion): „Wir mussten die festgefahrene Situation aufbrechen, die politische und diplomatische Szene des Westens, insbesondere in Washington, aufrütteln und ihnen unsere Ernsthaftigkeit beweisen“, so Trenin. Der Westen habe die Vorschläge Russlands nicht rundweg abgelehnt, sondern die Ernsthaftigkeit der Anliegen und Forderungen erkannt. „Russland hat seine Forderungen so entschieden vorgetragen, um die westlichen Mächte, vor allem die Vereinigten Staaten, zu Maßnahmen zu bewegen, die unserer Sicherheit zugutekommen.“ Und nun beginne der Dialog über europäische Sicherheit unter Beteiligung Russland – erstmals seit der deutschen Wiedervereinigung.
Trenin hält es noch immer für möglich, dass die Minsker Abkommen – „der Schlüssel zur Entspannung der Lage in der Ukraine“ – umgesetzt werden, so dass die Rechte der in der Region lebenden Menschen garantiert und die territoriale Integrität der Ukraine innerhalb der von Russland anerkannten Grenzen gewahrt würden. Allerdings sieht Trenin „keine Bereitschaft Washingtons, Kiew unter Druck zu setzen, die Minsker Vereinbarungen zu erfüllen“.
Ohnehin könne alles anders kommen, so ist Trenin zu verstehen. Er habe das Gefühl, dass Russland nach einem neuen Ausgangspunkt gesucht habe, um Territorien im postsowjetischen Raum neu zusammensetzen zu können. Als eine Option sieht er, dass Russland in Richtung Bundesstaat expandiere, Russland und Belarus könnten – weil das Minsker Abkommen nicht umgesetzt werde – dazu übergehen, die selbsterklärten Republiken Donezk and Luhansk in den Unionsstaat einzuverleiben. Das könnte theoretisch auch mit Abchasien und Südossetien geschehen. Die USA könnten dagegen nicht viel unternehmen, so Trenin.
Eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine erscheint bei Trenin nicht als bedrohlich für Russland. Auch von der Stationierung von Raketen in der Nachbarschaft sowohl Russlands als auch der USA hätten beide Seiten keinen Gewinn; Trenin beschreibt Gegenmaßnahmen, mit denen die Abschreckung gewahrt bliebe.
Das derzeitige Geschehen sieht Trenin als Folge der Nichtberücksichtigung des Verlierers der vergangenen Jahrzehnte. Er fasst es mit dem Satz zusammen. „Ich glaube der Moment ist gekommen, in dem die Verliererseite des Kalten Kriegs Respekt fordert.“ PHK
Das russische Original des Interviews ist am 25.1.2022 in der Moskauer Zeitung Kommersant erschienen.