Russlands Eliten fürchten den Frieden

Tatiana Stanovaya: Wenn der Westen Frieden will, muss er dem Kreml ein Angebot machen, Foreign Affairs 16.11.2022

von KARENINA
Wie Frieden schaffen? Foreign Affairs

Der Rückzug aus Cherson hat viele russische Eliten veranlasst, die Invasion in Frage zu stellen, schreibt Tatiana Stanovaya in Foreign Affairs. Den Menschen, die von Anfang an gegen den Krieg waren (aber aus Sicherheitsgründen geschwiegen hätten), hätten sich frühere Kriegsbefürworter angeschlossen, die den Krieg aktiv unterstützt haben, aber jetzt davon überzeugt sind, dass die Invasion von Anfang an falsch war. Es gebe Stimmen, die den russischen Präsidenten Wladimir Putin für unfähig halten, das Land zu führen, dass er zu Fehltritten neigt und bei seinen Entscheidungen übermäßig emotional ist.

Selbst unter den patriotischen Pro-Krieg-Kräften klinge die Einschätzung der Lage inzwischen realistischer. Einige seien der Meinung, Russland müsse, statt in der Ukraine zu kämpfen, sich mit innenpolitischen Problemen befassen – einschließlich Korruption.

Das heiße aber nicht, dass diese Realisten sich in Friedensstifter verwandelt hätten, betont Stanovaya. Sie seien misstrauisch gegenüber Verhandlungen, die zu einer demütigenden Lösung führen und ihre politische Zukunft bedrohen könnten, ja sogar ihre physische Sicherheit.

Und niemand in der russischen Führung habe öffentlich irgendeine Form von territorialen Zugeständnissen unterstützt. Deshalb, so Stanovaya, „werden die Eliten des Lands es nicht wagen, sich gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu stellen. Trotz all seiner Fehler bleibt Russlands Führer ihre beste Wahl, um das Regime zu bewahren, das sie schützt.“

Für Russlands Eliten wäre ein Rückzug nicht nur demütigend, er wäre gefährlich. „Sie glauben nicht, dass Moskau die Feindseligkeiten beenden kann, ohne zu riskieren, die Krim zu verlieren. Tatsächlich glauben sie, dass Russland selbst anfällig für einen Zusammenbruch wäre, wenn Russland seine Truppen Anfang 2022 dorthin zurückziehen würde, wo sie sich befanden.“ Für die russische Elite sei der Krieg gegen die Ukraine nicht ein Expansionskrieg, sondern ein Krieg zur Selbsterhaltung.

Denn sie rechnen damit, dass dem möglichen Zusammenbruch des Staats internationale strafrechtliche Ermittlungen folgen würden, vielleicht sogar ein Kriegsverbrechertribunal. „Diese Aussicht erschreckt sogar russische Eliten, die nicht an den Kämpfen beteiligt sind.“

Ändern könne das eventuell der Westen, so Stanovaya: „Wenn der Westen will, dass sich diese Realisten in eine Partei des Friedens verwandeln, sollte er Moskau klar machen, dass der Frieden nicht zu einem strategischen Desaster Russlands oder einem Staatszerfall führen wird.“

Stanovaya empfiehlt dem Westen, dem Kreml einen Vorschlag zu skizzieren, bei dem russisch-ukrainische Friedensgespräche gleichzeitig zu einem Dialog über Moskaus strategische Anliegen führen würde. „Dieser Dialog sollte Moskau nachdrücklich garantieren, dass Russland ein stabiler, autonomer Staat bleibt.“ Der Westen müsste Russland außerdem garantieren, dass die Ukraine nicht als Teil eines westlichen „Anti-Russland“-Projekts missbraucht werde, wie Putin behauptet.„Den Realisten zu signalisieren, dass der Frieden mit der Ukraine nicht zwangsläufig zum Zusammenbruch Russlands führen wird, ist eine dramatisch herausfordernde Aufgabe“, schreibt Stanovaya. „Aber es könnte der einzige Weg sein, den Kreml dazu zu bringen, seine katastrophale Invasion zu beenden. Bis dahin bleibt selbst den realistischen Eliten nichts anderes übrig, als auf den starken Staat und den starken Mann zu setzen.“  PHK

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