Putin am Ende? „Reines Wunschdenken“

Der Historiker Jörg Baberowski über Putins Strategie und Wege zum Frieden, t-online, 27.9.2022

von KARENINA
Jörg Baberowski über Putins Zukunft

Sind Putins Tage im Kreml bereits gezählt? Der Historiker Jörg Baberowski glaubt nicht, dass das Regime in Moskau kollabieren könnte; das sei reines Wunschdenken“.

Im Gegenteil: Die Reihen um Putin hätten sich noch fester geschlossen. „Je größer die Bedrängnis ist, desto entschlossener wird Putins Regime an seinen Zielen festhalten und den Krieg fortsetzen, auf welchem Niveau dies auch immer geschehen mag.“

Proteste gegen die Teilmobilmachung beschränkten sich bisher auf junge Menschen aus studentischem Milieu in den großen Städten, „denen es seither gelingt, sich vom Dienst in der Armee freizukaufen“, sowie auf Dagestan. „Ich habe allerdings Zweifel, dass daraus koordinierte und organisierte Widerstandshandlungen erwachsen werden.“ In Russland fehle eine organisierte Gegenwehr, es gebe „keine bürgerliche Gesellschaft, die imstande wäre, sich dem Regime kraftvoll zu widersetzen“.

Kritik am Versagen der Streitkräfte richte sich nicht gegen den Krieg an sich, sondern „gegen die Art und Weise, wie er bisher geführt worden ist: Von Verrat ist die Rede, Putin sei falsch informiert und beraten worden, und er müsse jetzt zeigen, dass dieser Krieg notfalls mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bis zum siegreichen Ende fortgeführt werden könne“. Mit der Teilmobilmachung sei Putins Reaktion auf diese Stimmen. „Er will zeigen, dass er entschlossen ist, nicht nachzugeben und um jeden Preis siegreich zu sein.“

Putin warte auf den Winter und rechne mit sozialen Protesten in Westeuropa und abnehmender Bereitschaft für militärische Unterstützung der Ukraine. „Auf diesen Moment wartet Putin, und ich fürchte, dass er kommen wird, wenn auf dem Schlachtfeld nichts Unvorhergesehenes mehr geschieht.“

Außerdem baue Putin inzwischen darauf, die „Spezialoperation“ als Verteidigungskrieg gegen die Nato zu verkaufen. „Stünde Russland militärisch am Abgrund, und gelänge es der Regierung, diesen Krieg als Überlebenskampf gegen die Nato zu verkaufen, dann könnte sich die Stimmung ändern“, so Baberowski. Viele Russen hielten dieses Szenario für plausibel.

Die Scharfmacher bestimmen, wie es weitergeht“, meint Baberowski, „Ich möchte mir nicht vorstellen, was geschehen würde, wenn einer von ihnen an die Schalthebel der Macht geriete.“

Russland werde möglicherweise den Krieg verlieren, meint Baberowski, werde aber nicht verschwinden. „Auch mit dem Erbe des untergegangenen Imperiums werden wir uns noch eine gewisse Zeit beschäftigen müssen.“ Zumal sich im Schatten des Ukraine-Kriegs und die momentane Schwäche Russlands ausnutzend Aserbaidschan und Armenien, Kirgistan und Tadschikistan bekriegen. „Bislang haben russische Soldaten die Konfliktparteien auseinandergehalten und den Frieden garantiert“, urteilt Baberowski. „Damit ist es nun vorbei. Soll man sich darüber freuen? Ich habe Zweifel.“

Er mahnt, es müsse „ein realistisches Szenario für die Zeit nach dem Krieg entworfen werden“. Dazu gehöre auch, „dass Russlands Sicherheitsinteressen auf die eine oder andere Weise berücksichtigt werden“.

Das liege auch im Interesse des Westens, „denn wer kann schon wollen, dass sich in Russland eine Kultur der Rache und der Vergeltung ausbreitet? Mit anderen Worten: Es kommt darauf an, eine Nachkriegsordnung zu schaffen, die es Russland erleichtert, sich vom Imperium zu verabschieden. Wenn das nicht gelingt, werden die kriegerischen Konflikte kein Ende nehmen.“

Auch Russland und die Ukraine müssten nach dem Krieg wieder ein friedliches Verhältnis zueinander finden. „Es ist einfach Unfug, wenn nun behauptet wird, diese Frage werde allein auf dem Schlachtfeld entschieden“, so Baberowksi. Nach 1945 sei der Frieden erst „durch Integration und Verständigung dauerhaft gesichert“ worden. „Ohne die Einbindung Deutschlands in eine europäische Wirtschafts- und Sicherheitsarchitektur wäre der Frieden stets brüchig geblieben.“  PHK

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