Nathalie Tocci: Kann Russland Europa spalten?

Die Politikwissenschaftlerin erklärt, warum ein falscher Frieden schlimmer ist als ein langer Krieg, Foreign Affairs, 5.8.2022

von KARENINA
Nathalie Tocci in Foreign Affairs über Russland und Europa

Die EU-Staatengemeinschaft müsse sich davor hüten, in Putins Falle zu gehen, warnt Nathalie Tocci. Sie befürchtet, Europa könnte die Einigkeit gegenüber Russland verlieren.

Zunehmend äußerten sich europäische Staats- und Regierungschefs über die sozioökonomischen Folgen des Kriegs in der Ukraine und seine politischen und geopolitischen Auswirkungen, hat die Direktorin des Istituto Affari Internazionali beobachtet. Unter der „äußerlichen Show des Konsenses“ gebe es Spannungen darüber, wie man mit dem Krieg umgeht: Deutschland verzögere Waffenlieferungen in die Ukraine. In Italien wachse unter den populistischen Parteien der Widerstand gegen die militärische Unterstützung Kiews. Dort und in Frankreich wendeten die Rechten sich gegen Sanktionen, weil diese zusammen mit der grünen Agenda die Inflation trieben, die Industrie beschädigten und Arbeitsplätze vernichteten. Und Victor Orbán verhindere ein Sanktionspaket, das auf russisches Öl abziele.

Schon macht Tocci eine größere Gefahr für Europas Einigkeit aus, die von Russland ausgehe. Ausgerechnet eine „vergleichsweise Flaute im Konflikt“ könnte einige EU-Staaten dazu verleiten, Kiew zu Zugeständnissen zu drängen, „insbesondere wenn sich die Energiekrise weiter verschlimmert“. Es könnte den Krieg paradoxerweise verlängern, wenn einige Europäer „der Illusion von Frieden nachgeben“.

Rückkehr der alten Spaltungen

Tocci befürchtet „die Rückkehr alter geopolitischer Spaltungen“. Das sei einerseits, eine wachsende Kluft zwischen dem Osten und dem Westen des Kontinents. Die an die Ukraine angrenzenden Staaten wie Polen und die baltischen Länder könnten Gerechtigkeit durch Sanktionen und robuste militärische Unterstützung für die Ukraine fordern, die westeuropäischen Staaten wie Italien und Frankreich und Deutschland zu einem Kompromiss mit Russland neigen.

Andererseits gebe es eine zweite Spaltung; sie verläuft von Nord nach Süd. Im Fall einer Rezession und vielleicht sogar einer Stagflation wachse die Differenz bei den Kreditkosten zwischen den nördlichen und südlichen EU-Mitgliedstaaten – insbesondere zwischen Deutschland und Italien. Schon forderten Frankreich, Spanien und Italien eine neue Brüsseler Initiative, um den europäischen Wiederaufbaufonds nach der Pandemie aufzustocken und bei der Bewältigung der wirtschaftlichen Kosten des Kriegs einzusetzen.

„Genau auf diese Spaltungen hat Putin gehofft“, schreibt Tocci. „Überzeugt, dass Europas liberale Demokratien schwach und moralisch korrupt sind, hat der russische Staatschef auf die Annahme gesetzt, dass die Einheit des Westens in der Ukraine in den kommenden Monaten zerbröckeln und letztendlich zerbrechen könnte.“ Er gehe davon aus, dass liberale Demokratien eine niedrige Schmerzgrenze haben; sie könnten hohe soziale oder wirtschaftliche Kosten nicht lange aushalten.

Mit jedem Monat Krieg wachse das Risiko der europäischen Uneinigkeit. Zwar blieben die Europäer auf Kurs, solange Russland seinen brutalen Angriff fortsetze. Aber was, wenn Putin aus Notwendigkeit und nicht aus freiem Willen die Taktik in der Ukraine ändert?

„Wenn die russischen Operationen in der Ukraine nachlassen und Moskau anfängt, eine Art Kompromiss oder Waffenstillstand anzudeuten, könnten die Europäer in eine Falle tappen“, fürchtet Tocci. Wenn Russlands Gewalt sich abschwäche und gleichzeitig die Energiekrise sich verschärfe, könnten europäische Staats- und Regierungschefs nicht nur streiten und schwanken, sondern sich insgesamt auseinanderdividieren.

Das dürfe nicht geschehen, fleht Tocci. „Gerade wenn die Gewalt nachlässt, sollte der Westen seine wahre Widerstandskraft zeigen und seine Unterstützung für Kiew verdoppeln, um sicherzustellen, dass Russland diesen Krieg nicht nur verliert, sondern dass die Ukraine ihn gewinnt.“  PHK

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