Arktis: Was will Moskau am Nordpol?
Russland-Analysen: Russlands Vorsitz im Arktischen Rat – Was plant der Kreml?
Russland-Analysen widmet seine Augustausgabe der Arktis, einer „Region mit ungebrochen großem Potential“, so Elias Angele, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas an der Universität Bremen in einem einführenden historischen Rückblick. „Letzteres auszuschöpfen hat sich erst in den letzten Jahren die russische Politik wieder zur Aufgabe gemacht.“ Wladimir Putin sagte über die Arktis, sie sei „ohne Übertreibung die Schatzkammer der Welt und wir sind bereit, diesen Schatz zu bergen“.
Laut Angele hat die Sowjetunion schon 1926 ein großes Gebiet als sein Territorium markiert, ein Dreieck vom westlichsten und östlichsten Rand seines Staatsgebiets bis zum Nordpol. Bereits seit Gründung der Sowjetunion existiert ein staatliches Programm zur wirtschaftlichen Ausbeutung, vor allem Rohstoffen wie Öl und Gas. Alt sei auch der Wunsch nach einer dauerhaft befahrbaren und intensiv genutzten Nordostpassage, so Angele, einem „Seeweg, der auf dem Papier betrachtet ohne Weiteres dem Suez-Kanal den Rang ablaufen könnte“. Nach dem Zweiten Weltkrieg zog viel Militär in der Arktis ein, der Versuch, die Arktis zu demilitarisieren und für den internationalen Verkehr erneut zu öffnen, endete mit der Sowjetunion.
Russlands Arktisstrategie bis 2035
Heute gebe, so Janis Kluge und Michael Paul von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), „allein die mächtige Energieindustrie in Russlands Norden den Takt vor“. Unter dem Titel „Russlands Arktis-Strategie bis 2035 – Große Pläne und ihre Grenzen“ schreiben sie in einem schon im November 2020 erschienenen Beitrag, Russland habe dort mit Umweltproblemen zu kämpfen: durch marode Schwerindustrie und das Auftauen des Permafrosts, wodurch es im Juni 2020 zu einer Katastrophe kam, als mehr als 20000 Tonnen Diesel in den Ambarnaja-Fluss liefen.
Dagegen wolle die neue Arktis-Strategie vorgehen, so die Autoren, bis 2035 empfindliche Infrastruktur solle für den Klimawandel fit gemacht, Umweltschutzgebiete ausgewiesen und die Abfallwirtschaft staatlich unterstützt werden. Außerdem solle die russische Arktis regelmäßig auf Verschmutzungen geprüft werden, „für die die Staaten Nordamerikas, Europas oder Asiens verantwortlich gemacht werden könnten“.
Russland hege bezüglich der Erwärmung der Arktis gleichzeitig Hoffnungen und Sorgen: Rohstoffe könnten leichter erschlossen, der Bevölkerung bessere Lebensstandards geboten werden, außerdem könnte mit einer Nördlichen Seeroute „langfristig eine neue Arterie der Weltschifffahrt“ entstehen, die Russland kontrolliere. Gleichzeitig mache die zusehend eisfreie Arktis Russland in seinem nördlichen Territorium verwundbar. „Diesen Sorgen“, so Kluge und Paul, „begegnet es mit dem Wiederaufbau seiner Militärpräsenz.“
Außerdem hoffe Russland auf „Entwicklungsimpulse durch kommerzielle Projekte“ bei der Offshore-Förderung von Öl und Gas in der Arktis. „Bisherige Vorstöße sind größtenteils infolge der westlichen Sanktionen zum Erliegen gekommen. Der umworbene Ersatz-Partner China kann nur begrenzt die Technologie (u. a. zur seismischen Erkundung von Ölfeldern in der Barentssee) und das notwendige Kapital zur Verfügung stellen.“
Das Militär springe in der russischen Arktis häufig „als Ersatz für mangelnde oder zu teure zivile Fähigkeiten“ ein, etwa bei der Seenotrettung. „Die zunehmende militärische Präsenz muss also kein Anzeichen für ein expansives Vorgehen sein.“ Russland zeige „ein defensives Verständnis der Arktis“, sei aber im Konfliktfall „auf eine rasche Eskalation vorbereitet, die zur Verteidigung der Bastion offensive Operationen – darunter die Eroberung von Teilen Nordskandinaviens – umfassen kann“.
Russlands Vorsitz im Arktischen Rat
Alexander Sergunin von der Sankt Petersburger Staatlichen Universität untersucht „Prioritäten und Implikationen für den Hohen Norden Russlands“, die Russland in der Zeit des Vorsitzes im Arktischen Rat von 2021 bis 2023 zeigen werde.
Er nennt Klimaschutz, nachhaltige Entwicklung, sozialen Zusammenhalt und Konnektivität in der Region, die indigenen Völker, Erhaltung der Biodiversität, Wissenschaftsdiplomatie und eine institutionelle Teilreform des Rats. „Moskau dürfte allerdings kaum seine früheren Versuche wiederholen, den Rat aus einem zwischenstaatlichen Forum in eine vollwertige internationale Organisation zu verwandeln und militärische Sicherheitsfragen auf die Agenda des Arktischen Rats zu setzen.
Andere Autoren haben in der Vergangenheit genau dies prophezeit: Nationale Sicherheit stehe ganz oben auf der Agenda. So steht es ja auch schon im Titel von Putins „Erlass zur Entwicklungsstrategie für den Hohen Norden und für die nationalen Sicherheit bis 2035“.
Sergunin sieht „das gegenseitige Vertrauen zwischen Russland und den übrigen Mitgliedsstaaten des Arktischen Rates reichlich erschüttert“. Letztere hätten allesamt Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt. „Fünf von ihnen, sämtlich NATO-Mitglieder, hatten die Kontakte zu Russland auf militärischer Ebene eingestellt und begonnen, ihre militärischen Stellungen im Norden auszubauen und die militärischen Aktivitäten zu verstärken (unter anderem in Form von Manövern zu Land und zur See sowie von Luft- und Meerespatrouillen in der Arktis).“ Es werde dauern, bis die Bereiche möglicher Zusammenarbeit identifiziert und die Konfliktfeldern abgegrenzt seien. Dass der Arktische Rat auch militärische Sicherheitsfragen in sein Mandat aufnehmen könne, hält Sergunin seit 2014 für unmöglich. Er werde sich mit „weichen“ Sicherheitsfragen beschäftigen.
Russische Gebietsansprüche am Nordpol
Russlands Gebietsansprüche in der Arktis kommentiert schließlich Nadja Douglas vom Berliner Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS). Laut Seerechtsabkommen der UN gehöre der Nordpol niemandem. Zwar sei das Thema Militarisierung im russischen Arktisstrategiepapier nur eine Nebenrolle, aber es gehöre „zu den erklärten Zielen der neuen Strategie, die militärischen Kapazitäten in der Region auszubauen. Folge sei, dass die US-Regierung ihre Strategie zu ändern scheine und die USA und die NATO wieder Einfluss in der Region zurückgewinnen wolle.
Für Russland sei der Arktische Rat „nach wie vor unverzichtbar“, so die Autorin. „Er stellt einen der wenigen verbliebenen Kommunikationskanäle zwischen Russland und Mitgliedsstaaten der NATO dar.“ PHK