Zivilgesellschaft in Bedrängnis
Die neuen „Agentengesetze“ und Nawalny – der russische Staat zieht die Schrauben an
Die russische Gesellschaft stehe unter „Stress“ und „Schock“, die russische Regierung leide an „Phobie“ und „Hysterie“– der Runde Tisch der Arbeitsgruppe Zivilgesellschaft erinnerte bisweilen an ein Ärztekonsilium. Gegenstand der Diskussion und Anlass zur Besorgnis war die aktuelle Situation in Russland: Zivilgesellschaftliche Arbeit wird zunehmend erschwert, politische Opposition unterdrückt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer beschäftigten unter der Überschrift „Staat und Zivilgesellschaft in Deutschland und Russland“ vor allem die Gesetze bezüglich „ausländischen Agenten“ und die Inhaftierung von Alexei Nawalny.
So klar die Diagnose, so schwierig die Therapie. Sätze wie „Wir müssen Ruhe bewahren und sehen, wie es weitergehen kann“ waren auf der von Michail Fedotow und Johann Saathoff geleiteten Sitzung mehrfach zu hören. Ein Patentrezept hatte niemand parat.
Noch im Dezember vergangenen Jahres hatte die AG in einer gemeinsamen Erklärung die Duma aufgefordert, die Entwürfe zu einer weiteren Verschärfung der „Agentengesetzgebung“ abzulehnen – ohne Erfolg. Auch am 21. Januar gab es ein gemeinsames Votum: Die Zusammenarbeit der Zivilgesellschaften muss trotz aller Komplikationen fortgesetzt werden.
Unerwünschte Organisationen und Einreisesperren
Wie schwierig die Kooperation geworden ist, veranschaulichten die Erfahrungsberichte von Stefanie Schiffer und Johannes Rohr.
Schiffers gemeinnützige GmbH Europäischer Austausch koordiniert die Europäische Plattform für Demokratische Wahlen (EPDE). Die Wahlbeobachter wurden in Russland zur unerwünschten Organisation erklärt. Russische Bürger, die mit der EPDE zusammenarbeiten, erläuterte Schiffer, könnten nun strafrechtlich verfolgt werden. Um ihre Partner nicht zu gefährden, sei die EPDE gezwungen, die Zusammenarbeit einzuschränken oder zu beenden.
Schiffer wertete die Repression als eine Fehlwahrnehmung europäischer NGOs. Die russische Regierung verdächtige diese, sich in die innerpolitischen Prozesse einzumischen.
Johannes Rohr setzt sich als Vorstandsmitglied des Instituts für Ökologie und Aktions-Ethnologie e. V. für die indigenen Völker Russlands ein. Auf einer Sitzung des UN-Forums für Wirtschaft und Menschenrechte in Genf habe er 2018 kritisiert, so Rohr, dass die Rechte dieser Völker besonders in den Öl- und Gasförderregionen verletzt würden. Anschließend sei gegen ihn eine Einreisesperre bis zu seinem hundertsten Geburtstag im Jahr 2069 verhängt worden.
Rohr betonte, dass Deutschland als Hauptabnehmer russischer Gasexporte besondere Verantwortung trage und forderte, solche Einreisesperren, die die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit immer mehr beeinträchtigen, stärker zu verurteilen.
Akteure, aber keine Agenten
Stefan Melle, Geschäftsführer des Vereins Deutsch-Russischer Austausch, ging auf das Wesen zivilgesellschaftlichen Engagements ein. Bürgerinitiative bedeute immer auch eine Beteiligung an politischen Prozessen und Entscheidungen: Diskussionen anregen, eigene Ideen einbringen und eigene Projekte realisieren. Arbeitsfelder seien zum Beispiel Umweltschutz, Menschenrechte und Inklusion.
Melle berichtete, dass in Russland auch auf die Partner seiner Organisation Druck ausgeübt werde und unterstrich, dass zivilgesellschaftliche Akteure selbständig handelten und unabhängig seien, auch wenn sie etwa von Staat oder Kommunen gefördert würden: „Wir sind Akteure, wir sind Lobbyisten für bestimmte Vorstellungen von Gesellschaft, aber keine Agenten in irgendjemandes Auftrag.“
Eine detaillierte Analyse der Gesetzgebung zu „ausländischen Agenten“ legte Natalja Jewdokimowa vom St. Petersburger Rat für Menschenrechte vor. Zu „ausländischen Agenten“ können seit 2012 NGOs erklärt werden, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten. Mit den von der Duma Ende 2020 verabschiedeten Änderungen werde diese Regelung nun auf natürliche Personen ausgeweitet, erläuterte Jewdokimowa. Demnach könne schon der als „ausländischer Agent“ klassifiziert werden, der „organisatorische und methodische Hilfe“ aus dem Ausland in Anspruch nehme.
Jewdokimowa warf die Frage auf, ob auch sie als Teilnehmerin der AG „Zivilgesellschaft“ zum ausländischen Agenten erklärt werden könne. Die neuen Regelungen seien ausgesprochen vage, teils auch verfassungswidrig. Wie und auf wen diese in der Praxis angewendet würden, sei juristisch völlig unklar. Genau darin aber liege der eigentliche Clou: „Das Damoklesschwert hängt über allen.“
System ohne Opposition
Wie blicken die Menschen in Russland auf den Fall Nawalny? Jelena Shemkowa von der Gesellschaft „Memorial“, Tatjana Margolina von der Universität Perm und Tatjana Mersljakowa, Menschenrechtsbeauftragte im Gebiet Swerdlowsk, erklärten, dass die Ereignisse – Nawalnys Vergiftung, seine Rückkehr nach Russland und seine Festnahme, auch die Verweigerung von Ermittlungen – in der russischen Gesellschaft mit großer Aufmerksamkeit und Sorge verfolgt würden. Kritisiert wurde, dass Nawalnys Anhänger über soziale Medien wie TikTok auch junge Schülerinnen und Schüler zu Protesten aufriefen.
Ilja Schablinski von der Higher School of Economics konstatierte, dass die russische Gesellschaft gespalten sei: Ein Teil wolle den Status quo beibehalten, der andere wolle Veränderung. Nawalny stehe für diesen wachsenden Teil der Bevölkerung, der im politischen System nicht repräsentiert sei, weil oppositionelle Parteien von den Wahlen ausgeschlossen würden.
Für die Befürworter einer Demokratisierung zog Schablinskij, bis 2019 Mitglied des Menschenrechtsrats beim Präsidenten, ein ernüchterndes Fazit: „Wir treten dafür ein, einen ehrlichen politischen Wettbewerb zuzulassen, an dem alle wesentlichen Kräfte im Land beteiligt sind. Das wird uns verwehrt.“