USA

USA: Die gefährdete Demokratie

Die Vereinigten Staaten haben einen neuen Präsidenten, doch die Probleme können etablierte Politiker der USA kaum lösen

Wer kann Gegensätze überwinden? Abraham Lincoln bekämpfte die Spaltung der Vereinigten Staaten

Die USA bleiben eine gefährdete Demokratie. Ein paar Wochen lang hatte es so ausgesehen, als tobe unter Republikanern ein „Bürgerkrieg“: für oder gegen Trump. Doch nun ist klar: Der Reality-TV-Star dominiert weiter.

Anders als oft dargestellt, haben wir es nicht mit einer Mainstream-Mitte-Rechts-Partei inklusive eines extremen Flügels zu tun, sondern mit einer demokratiefeindlichen Vereinigung, in der sich noch eine moderate Minderheit behauptet. Was tun?

Anders als in Deutschland kann man in den USA Parteien nicht verbieten. Sogar während der übelsten antikommunistischen Hetze eines Joseph McCarthy blieb die Communist Party USA legal, es gibt sie sogar heute noch.

Die Hürden zu einer Verfassungsänderung sind sehr hoch. Doch die Qualität einer Demokratie hängt weder an der Konstitution noch am Charakter einzelner Parteien oder gar Personen.

Was man die kritische Infrastruktur der Demokratie nennen könnte – vor allem das Parteiensystem (aber auch das Mediensystem) –, ist weitgehend durch einfache Gesetze geregelt. Da ließe sich in den USA an vielen Stellschrauben drehen. Und zwar nicht, wie Populismusversteher sofort monieren werden, um den vermeintlichen „liberalen Eliten“ irgendwie unbequeme Stimmen zu „canceln“, sondern um Institutionen, die Volksvertretung versprechen, auch für eine demokratiekompatible Rechte offener und vor allem insgesamt repräsentativer zu machen.

Das Klischee: konservatives Land, liberale Stadt

Demokratie ist undenkbar ohne Grundrechte wie Meinungs- und Vereinigungsfreiheit. Der Wert dieser Rechte erhöht sich entscheidend, wenn ihr Gebrauch von Organisationen erleichtert wird – was oft als „vermittelnde Institutionen“ bezeichnet wird. Ich kann ganz alleine demonstrieren, unermüdlich tweeten, all meine unveröffentlichten Zeitungsartikel im Spam-Filter von Unbekannten landen lassen. Aber offensichtlich vermögen zivilgesellschaftliche Vereinigungen, politische Parteien und die sogenannten legacy media wahre Wunder zu wirken, wenn es darum geht, meine Botschaft zu vervielfältigen.

Demokratien brauchen daher eine kritische Infrastruktur solcher Institutionen. Wie die physische Infrastruktur oder auch wie die Post macht sie es leichter, Menschen zu erreichen und von ihnen erreicht zu werden. Nicht umsonst trug die erste deutschsprachige Wochenzeitung, die im frühen 17. Jahrhundert in Straßburg herausgegeben wurde, den Namen Relation. Und nicht umsonst verglich Bertolt Brecht das frühe Radio mit einem „ungeheuren Kanalsystem“.

Diese Infrastruktur wird von Verfassungen reguliert – aber kaum je umfassend und im Detail. In den USA sind Wahl- und Parteienrecht durch einfache Gesetze geregelt – und das nicht immer gut. Die derzeitige asymmetrische Polarisierung der amerikanischen Politik erklärt sich kaum, wie es das Klischee will, dadurch, dass ein ländliches konservatives Amerika einen Kulturkampf gegen liberale kosmopolitische Eliten an den Küsten führt.

Die Partei wählt ihr Volk

Es ist vielmehr eine unheilvolle Kombination aus Manipulation des Wahlsystems und mangelnder Regulierung der Parteien, die dazu führt, dass die politische Klasse sehr viel polarisierter ist als das Wahlvolk. Wobei diese Elitenpolarisierung eben nicht symmetrisch ist: Demokraten mögen im politischen Inhalt etwas linker geworden sein, versuchen aber nicht, Wahlen zu stehlen oder ihre Anhänger zum Angriff auf das Capitol anzustacheln.

Die USA haben ein fast reines Zweiparteiensystem, weil jeder Wahlbezirk nur einen Repräsentanten hat – den Gewinner der meisten Stimmen, nicht notwendigerweise einer Mehrheit. Das begünstigt gerade bei Vorwahlen mit relativ geringer Beteiligung hochmobilisierte, aber für das Parteivolk als Ganzes nicht repräsentative Minderheiten.

Hinzu kommt, dass in weiten Teilen des Landes keine überparteilichen Kommissionen für den Zuschnitt der Wahlkreise verantwortlich sind. Es sind vielmehr die Parteien selbst, die sich, frei nach Brechts Gedicht, ihr eigenes Volk wählen können.

„Gerrymandering“, die Verschiebung von Wahlkreisgrenzen, wird von beiden Seiten kräftig betrieben, zum Teil gedeckt von einer Art gentlemen’s agreement, denn es macht die horrend teuren Wahlkämpfe billiger. Die Republikaner betreiben es allerdings weit eifriger als die Demokraten. Wenn es aber keinen wirklichen Wettbewerb gibt, braucht einen auch die Mitte nicht besonders zu kümmern.

Rechten Amtsinhabern raubt vielmehr der Gedanke den Schlaf, ein Radikaler aus den eigenen Reihen könnte ihm bei Vorwahlen in den Rücken fallen. Trump hat gerade gedroht, er werde Herausforderer auf jene Republikaner hetzen, die ihm nach dem Sturm aufs Capitol untreu wurden.

Drall ins Extreme, Wunsch einer dritten Partei

Dieser Drall ins Extreme ist kein Resultat der Verfassung; theoretisch könnte der Kongress morgen ein Verhältniswahlrecht einführen. Weniger offensichtlich: Die Zahl der Abgeordneten ließe sich drastisch erhöhen. Bei der Gründung der USA sollte jedes Mitglied des Repräsentantenhauses nicht mehr als 30 000 Bürger vertreten; heute sind es jedoch mehr als zwanzig Mal so viele. Seit 1967 gilt, dass jeder Distrikt nur einen Vertreter hat; ein Gesetz aus dem Jahre 1929 regelt, dass es nur 435 Abgeordnete geben darf.

All das ließe sich ändern von einer Volksvertretung, deren derzeitige Fasson nicht gerade populär ist: Laut einer vielzitierten Umfrage von 2013 haben die Amerikaner eine schlechtere Meinung vom Kongress als von Verkehrsstaus, Zahnwurzelbehandlungen und einigen sehr unangenehmen körperlichen Beschwerden, die hier nicht näher ausgeführt werden sollen.

Zudem wünschen sich derzeit 62 Prozent der Bürger eine kompetitive dritte Partei (darunter vor allem vom Trumpismus angewiderte Republikaner). Doch wird das existierende Polit-Duopol kaum eine Systemveränderung akzeptieren, die neuen Wettbewerbern eine echte Chance gäbe.

Nicht nur profitieren die beiden Parteien vom Mehrheitswahlrecht; sie kontrollieren auch, wer überhaupt zur Wahl steht. Das hat zur Folge, dass manch prominente Kandidaten, die reichlich Spenden einsammeln konnten, einen Großteil ihrer Gelder dafür verwenden müssen, sich vor Gericht überhaupt einen Platz auf dem Wahlzettel zu erstreiten.

Third Parties: Sie stechen wie die Bienen

Das bedeutet nicht, dass dritte Parteien schon immer irrelevant gewesen wären. Martin Van Buren, von 1837 bis 1841 Präsident, schuf das erste US-amerikanische Parteiensystem, in dem zwei zentristische Parteien einen geordneten Wettbewerb um Ämter und moderate inhaltliche Auseinandersetzungen zu führen hatten. Jede für sich sollte schon eine Art große Koalition darstellen, die viele Interessen bündelt. Oft wird vergessen, dass Van Buren sich auch für die Gründung neuer Parteien einsetzte, falls die bestehenden einander allzu ähnlich werden oder auf andere Weise versagen sollten. Und er blieb seinem Wort treu: 1848 trat er als Kandidat der Free Soil Party an.

Gemäß Beobachtung des Historikers Richard Hofstadter sind third parties immer wie Bienen gewesen: Sie stechen die großen Parteien empfindlich und bringen sie dazu, sich neuer gesellschaftlicher Ansprüche anzunehmen – aber nachdem sie gestochen haben, sterben sie (so zuletzt geschehen mit der Reform Party des Milliardärs Ross Perot, der 1992 sensationell gut abschnitt).

Eine für die USA realistische – weil nicht dem Eigeninteresse der großen Parteien direkt widersprechende – Alternative zur Verhältniswahl ist Ranked Choice Voting. Bim RCV können die Bürgerinnen und Bürger auch ihre zweite und dritte und jede weitere Präferenz angeben. Sollte ihre Wunschkandidatin oder ihr Wunschkandidat ausscheiden, würde ihre Stimme den im Rennen Verbliebenen zugutekommen. Das bringt Politikerinnen und Politiker dazu, sich inhaltlich breiter aufzustellen, anstatt nur einer fanatisierten Bewegung wie den Trumpisten hinterherzulaufen.

Außerdem haben Bürger, anders als beim Winner-Takes-All-Mehrheitswahlrecht, nicht das Gefühl, sie hätten ihre Stimme völlig verschenkt und seien gar nicht repräsentiert. Der Gliedstaat Maine hat 2016 ein solches System eingeführt; die Bürger Alaskas haben sich vergangenes Jahr entschieden, dem Beispiel zu folgen.

Das Volk als Retter

Hilfreich wäre es zudem, sogenannte Gesetze gegen schlechte Verlierer zu ändern; derzeit ist es den Unterlegenen bei Vorwahlen nicht erlaubt, beim allgemeinen Urnengang anzutreten – auch wenn sie von einer völlig unrepräsentativen Minderheit bei geringer Wahlbeteiligung innerhalb der eigenen Partei besiegt wurden und eigentlich bei der Bürgerschaft als ganze sehr populär sind und als independents reüssieren könnten.

Dass Parteien in eigener Sache gegen ihre Interessen entscheiden, ist offensichtlich eine Wunschvorstellung. Verbesserungen an der kritischen Infrastruktur der Demokratie müssten von unabhängigen Kommissionen oder auch von nach dem Zufallsprinzip zusammengesetzten Bürgerräten vorgenommen werden.

Nur: Institutionen, die Reformen anstoßen könnten, setzen selber Reformen voraus. Doch hier enthält die Abwahl Trumps eine wichtige Lektion: Am Ende retten uns eben nicht primär die gatekeeper, die professionellen Demokratie-Verteidiger oder die Polit-Ingenieure, die wissen, wie man an den Stellschrauben dreht – sondern das vielgescholtene Volk. Soll heißen: mobilisierte Bürgerinnen und Bürger, die Druck von unten machen, weil ihnen ihre Demokratie und auch deren Infrastruktur am Herzen liegt.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 5. März 2021 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen. Wir danken Verlag und Autor für die Erlaubnis zum „Nachdruck“.

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