Russland und Ukraine

Putins Aufmarsch nur eine Botschaft?

Truppen an den Grenzen zur Ukraine: Washington fürchtet Krieg, Berlin und Kiew sind entspannter

von Thomas Gutschker und Konrad Schuller
Gute Stimmung im Mai 2021 beim Arctic Council in Reykjavik bei den Außenministern Lawrow und Blinken. Heute befürchtet der Amerikaner eine russische Aggression gegen die Ukraine.

Amerika, Deutschland und die Ukraine machen sich Sorgen über russische Truppenbewegungen an der ukrainischen Grenze. Sie sind aber uneins darüber, ob sie mit einem neuen Überfall auf die Ukraine wie im Jahr 2014 rechnen müssen.

Washington trägt diese Befürchtung sehr konkret vor, in Berlin und Kiew dagegen glaubt man eher an Moskauer Einschüchterungsversuche als an Kriegsabsichten. 2014 hatte Russland die ukrainische Halbinsel Krim erobert und auf dem Festland zwei prorussische „Republiken“ errichtet.

Der amerikanische Außenminister Antony Blinken hat die amerikanischen Sorgen am 10. November in die Worte gefasst, er sei „beunruhigt“ über russische Militäraktivitäten an der ukrainischen Grenze. Er fürchte, Russland könne „einen ernsten Fehler machen“ und versuchen, das zu wiederholen, „was es 2014 getan hat, als es Truppen an der Grenze zusammenzog und in souveränes ukrainisches Gebiet eindrang“. Wie die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) erfuhr, fürchtet Washington einen Überfall im Dezember, wenn in Osteuropa die Böden gefrieren und Panzer nicht mehr im Schlamm versinken.

Putin hat Haltung zur Ukraine verschärft

In Washington und Berlin ist wahrgenommen worden, dass Russlands Präsident Wladimir Putin seine Haltung zur Ukraine verschärft hat. Bisher galt, dass erst ein formeller Beitritt des Lands zur NATO in Moskau als „rote Linie“ gesehen werde.

Im Oktober aber hat Putin auf einer Tagung des Waldai-Klubs gesagt, auch wenn die Ukraine nie der NATO beitrete, sei die „militärische Expansion“ des Westens dort „eine Gefahr“ für Russland. Letzten Donnerstag sprach er wieder von roten Linien und sagte, Russlands westliche Partner eskalierten die Lage, indem sie „tödliche“ Waffen an Kiew lieferten und „provokante“ Manöver im Schwarzen Meer abhielten. Wie die FAS erfuhr, wird das im Westen so gedeutet, dass Russland die bisher üblichen bilateralen Übungen Amerikas oder Großbritanniens mit der Ukraine sowie die Lieferung amerikanischer Panzerabwehrwaffen nicht mehr dulden will.

Berlin und Kiew erwarten keinen Angriff

Berlin ist zwar auch besorgt über russische Truppenverstärkungen, sieht aber keine akute Kriegsgefahr. Sprecher von Bundesregierung und Auswärtigem Amt haben Fragen nach einer drohenden militärischen Konfrontation deshalb zuletzt so beantwortet, dass keine solche Befürchtung zu erkennen war.

Auch nach einem Telefonat Bundeskanzlerin Angela Merkels mit Putin am Tag nach dem Warnruf Antony Blinkens war im Kommuniqué der deutschen Seite nicht davon die Rede, dass die Kanzlerin über einen drohenden Krieg gesprochen habe. Wie die FAS erfuhr, sieht zwar auch Berlin beunruhigende russische Bewegungen nahe an der Ukraine, leitet aus ihnen aber keine unmittelbare Angriffsabsicht ab.

Die ukrainische Führung denkt ähnlich wie die deutsche. Das geht aus einer Stellungnahme hervor, die der erste stellvertretende Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, Ruslan Demtschenko, der FAS geschickt hat. Er schreibt, die „Gefahr einer Invasion der russischen Streitkräfte in die Ukraine“ sei zwar „erhöht“, aber im Augenblick sei es nicht möglich, „eine Aussage darüber zu treffen, wie hoch der Grad der militärischen Vorbereitungen des Kremls ist“.

Beispielsweise fielen im Vergleich zum Frühjahr, als Russland schon einmal die Ukraine durch einen Truppenaufmarsch beunruhigt hatte, die Manöver vom Oktober und November „an Zahl und Intensität geringer aus“. Demtschenko schrieb, Mitte November habe die Ukraine jenseits ihrer östlichen und nördlichen Grenze etwa „2500 Einheiten“ russischen militärischen Großgeräts identifiziert. "Im Mai waren es 6000."

Ein Teil der neuen russischen Truppen ist nach der Darstellung Demtschenkos „aus Sibirien herangeschafft“ worden. Das gilt auch in Berlin als plausibel. Heute liegen diese Einheiten offenbar in der westrussischen Stadt Jelnia. Die ersten Satellitenaufnahmen von ihnen tauchten Ende Oktober auf.

Der polnische Militärfachmann Konrad Muzyka sagte der FAS, auf den Bildern sehe man das mobile Luftabwehrsystem BUK-M3, das Kurzstreckengeschoss Iskander, den Raketenwerfer TOS-1A sowie Artillerie und Panzer. Die Ausrüstung gehöre der 41. russischen Armee, die eigentlich in Sibirien stationiert ist.

Entwicklung ist langfristiger Trend

Auch der frühere beigeordnete Generalsekretär der NATO, Generalleutnant Heinrich Brauß, sowie der Militärfachmann András Rácz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, bestätigen eine wachsende russische Militärpräsenz an den ukrainischen Grenzen. Rácz erwähnt außer den sibirischen Truppen Verstärkungen bei der achten russische Armee östlich der Ukraine und bei der 22. Armee im Norden des Landes. „Hier sind in den letzten Jahren neue Divisionen und Stützpunkte geschaffen worden, mit mehr Soldaten und mehr Material als früher.“

Rácz leitet daraus aber keine unmittelbare Kriegsgefahr ab. Der FAS sagte er, die Entwicklung sei zwar „besorgniserregend“, aber sie heiße „nicht unbedingt, dass wir unmittelbar vor einer militärischen Eskalation stehen“. Vielmehr setze sich hier ein „Trend“ zur Verstärkung fort, den Russlands Verteidigungsminister Sergei Schoigu schon vor Jahren angekündigt habe. Das werde „jetzt verwirklicht“.

Auch Demtschenko vom Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine weist darauf hin, dass Russlands Vorgehen mit den längst bekannten „Postulaten“ der russischen Militärführung „vollkommen im Einklang“ stehe. Ihre Methode sei dabei ein „hybrider Krieg“, in dem der Gegner durch die „Drohung einer militärischen Invasion“ manipuliert werde.

Putins drei Optionen

General Brauß nennt im Gespräch mit der FAS drei mögliche Ziele für den Aufwuchs der letzten Jahre. „Erstens Einschüchterung der ukrainischen Regierung“, um die Annäherung des Lands an den Westen zu stoppen. Zweitens „eine begrenzte Operation in der besetzten Ostukraine“. Dabei könne Putin seinen Zugriff auf die prorussischen Satellitenrepubliken in der ostukrainischen Region Donbass festigen und die Ukraine weiter destabilisieren. „Die dritte Option wäre ein neuer groß angelegter militärischer Vorstoß in die Ukraine hinein, um beispielsweise eine Landverbindung zur Krim herzustellen.“

Brauß meint zu dieser Möglichkeit eines großen Kriegs, die Gefahr sei zwar da, aber weil Kiew mittlerweile eine starke Armee habe, müsse Putin mit hohen Verlusten rechnen. „Deshalb mag diese dritte Möglichkeit vielleicht wirklich nicht sehr wahrscheinlich sein.“

Diese Folgerung wird von Beobachtungen gestützt, die der frühere Kommandeur der amerikanischen Landstreitkräfte in Europa, Generalleutnant Ben Hodges, gemacht hat. Er sagte der FAS zwar, heute sei er „noch besorgter als im Frühjahr“. Aber er stellte auch fest, dass bestimmte Voraussetzungen für eine russische Militäroperation noch nicht sichtbar seien: große Lager für Treibstoff und Munition, ein Feldkrankenhaus oder Luftlandetruppen. Außerdem falle auf, dass Russland seine Einheiten nicht verstecke.

Hodges strich heraus, dass das amerikanische Militär seine Ausrüstung niemals „so exponieren“ würde, wie es auf den Satellitenbildern aus Russland zu sehen sei. Das könnte darauf hindeuten, dass Moskau bewusst Botschaften sende.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 20.11.2021 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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