Wieder da: Der hässliche Deutsche
Olaf Scholz schwächt die politische Position Deutschlands in Europa und erzeugt antideutsche Ressentiments
Ohne langfristige Strategien werden Politiker zu Gefangenen der Ereignisse. Einer dieser Gefangenen heißt Olaf Scholz. Das Ereignis, das ihn vor sich hertreibt, ist der Ukraine-Krieg.
Dass der deutsche Kanzler nicht nach Kiew reisen will – geschenkt. Dass die Bundesrepublik der Ukraine zunächst nur 5000 Zipfelmützen liefern wollte – geschenkt. Was wirklich zählt, ist etwas anderes: Die Bundesregierung weiß nicht, wie sie den Konflikt für die eigenen politischen Interessen nutzen soll. Daher wird Deutschland gegenüber Ländern verlieren, die eine Strategie besitzen.
Joe Biden mag senil sein, aber er hat offenkundig eine Vorstellung, was er mit dem Krieg erreichen möchte. Amerika hofft, durch die massiven Waffenlieferungen an die Ukraine Russland so zu schwächen, dass es im geopolitischen Wettbewerb entscheidend zurückfällt.
Moskau soll keine Bedrohung mehr darstellen, dafür funktioniert Washington Putins Überfall auf die Ukraine zu einem Stellvertreterkrieg um. Die Ukrainer kämpfen, die Amerikaner sind keine direkte Kriegspartei und begrenzen so das Risiko einer Eskalation. Den Gewinn streichen sie dennoch ein.
Die Logik des Stellvertreterkriegs
Diese Konstellation ist ein klassisches Muster in den russisch-amerikanischen Beziehungen. Die Sowjetunion rüstete Nordvietnam mit Waffen aus und leistete so einen erheblichen Beitrag zur amerikanischen Niederlage in Vietnam. Die USA revanchierten sich, indem sie den afghanischen Mudschahedin im Kampf gegen die Sowjetunion halfen.
In der Logik dieser Auseinandersetzung liegt, dass man den Kontrahenten in einen möglichst langwierigen und kostspieligen Abnutzungskrieg zu ziehen hofft. Der Gegner soll sich verausgaben. Ein schneller Waffenstillstand und die Verringerung des Leids sind in diesem geopolitischen Kalkül zweitrangig.
Emmanuel Macron weiß wenigstens, was er nicht will. Er möchte in alter französischer Tradition den Charakter der EU als einer im wesentlichen westeuropäischen Union bewahren, um die französische Vormachtstellung in Europa zu zementieren. Den Beitrittsgesuchen der Balkanländer und der Ukraine steht er skeptisch gegenüber, weil dies den Schwerpunkt der EU nach Osten verschieben würde.
Macron fürchtet die Schwächung Frankreichs und geht aktiv dagegen vor. Zu diesem Zweck brachte er die Idee einer Brüsseler Vorhölle ins Spiel, in der die Beitrittskandidaten bis zum Jüngsten Gericht schmoren können. Er nennt das eine „europäische politische Gemeinschaft“ als Ergänzung zur Europäischen Union. Das klingt sympathisch und hinlänglich vage, aber das eigentliche Ziel ist offensichtlich.
Berlin verzettelt sich
Was aber will Deutschland? Olaf Scholz verzettelt sich in Kleinigkeiten, in einer Fehde mit dem ukrainischen Botschafter in Berlin etwa oder in einer Debatte, woher die Munition für den als Rüstungshilfe an Kiew vorgesehenen Gepard-Panzer kommen soll.
Das alles wirkt unendlich kleinkariert. Scholz sieht nicht wie Biden den strategischen Gewinn, den der Krieg verspricht. Er geht aber auch nicht wie Macron beherzt gegen die aus nationaler Optik bestehenden Risiken vor. Die Ampel-Koalition wird stattdessen getrieben von den Oberflächlichkeiten des Tages, von offenen Briefen deutscher Intellektueller beispielsweise, die kein Jota an Verlauf und Ausgang des Kriegs ändern.
Bei aller Tristesse hat diese Haltung einen tieferen Grund. Der Kanzler und seine Partei wünschen Putin natürlich nicht den Sieg. Sie haben auch erkannt, dass sich Deutschland nicht dauerhaft dem Drängen der EU-Kommission widersetzen kann, Öl und Gas aus Russland zu boykottieren. Aber insgeheim trauern die Sozialdemokraten den bequemen Zeiten hinterher, als Moskau zuverlässig Energie lieferte und sich jede Regierung einen innenpolitischen Vorteil verschaffen konnte, indem sie an der Bundeswehr sparte.
Ein bisschen Gratis-Pazifismus geht immer, solange die USA und die Nato die Sicherheit garantieren. Mit dieser Haltung setzten Politiker aller Parteien den Wunsch der Volksmehrheit um. Viele Menschen in Deutschland – und auch in der Schweiz – haben vor ihre Tür ein Schild mit der Aufschrift „Bitte nicht stören“ gehängt. Sie wollen in Ruhe gelassen werden von den Zumutungen der Weltpolitik. Putin, der Störenfried, erinnert daran, dass dies eine Illusion war.
Es dauert lange, bis schlechte Gewohnheiten überwunden werden. Das Paket von 100 Milliarden Euro für die „Zeitenwende“ sollte dazu dienen, die schlimmsten Missstände bei der Bundeswehr zu beseitigen, damit alles so bleiben kann, wie es war. Sich bloß nicht festlegen: mit Putin reden, mit Selensky auch, keine Waffen liefern – und vor allem nichts tun, was die Vorstellung von der moralischen Überlegenheit der deutschen Außenpolitik gefährden könnte. Scholz übersah jedoch, wie grundlegend der durch den Krieg ausgelöste Wandel ist.
Innerhalb des Westens werden die Rollen neu verteilt. Die USA, die zuletzt als egoistisch, isolationistisch und von der innenpolitischen Polarisierung gelähmt wirkten, haben ihren Führungsanspruch neu begründet. Ob das mehr als nur eine Momentaufnahme ist, muss sich zeigen, aber auch der Augenblick zählt.
Großbritannien hatte sich mit dem Brexit aus der EU hinauskatapultiert. Indem es sich schon vor Kriegsbeginn auf die ukrainische Seite stellte und diese mit Waffen und Militärberatern unterstützte, unterstreicht es jetzt, wie unentbehrlich es für die europäische Sicherheit ist.
Boris Johnson mag ein Hallodri sein, aber er bewies einmal mehr seinen politischen Instinkt. Auch die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erkannte ihre Chance. Sie befreit sich etwas aus der Bevormundung durch Paris und Berlin, indem sie allgegenwärtig ist. Sie reiste nach Kiew, sie drängt auf den Energie-Boykott.
Deutschland braucht Stabilität im Osten
Deutschland hingegen wirkt verzagt und ratlos. Scholz bringt anders als von der Leyen nicht einmal den einfachen Satz über die Lippen, dass die Ukraine den Krieg gewinnen soll. Indem er sagt, Russland dürfe nicht gewinnen, lässt er Raum für Spekulationen. Will die Bundesregierung eine Teilung der Ukraine?
In der Euro-Krise gab Berlin noch die Richtung vor und entschied schließlich über das Schicksal Griechenlands. Jetzt kann die Bundesrepublik dank ihrer Größe und Wirtschaftskraft die Entwicklungen in der EU bremsen, aber sie gestaltet nicht.
Im Gegenteil: Durch die ungeschickte Ukraine-Politik hat Deutschland in Osteuropa einen erheblichen Vertrauensverlust erlitten. Das Bild des hässlichen Deutschen ist zurück. Das antideutsche Ressentiment ist verständlich und dennoch irrational, denn die Osteuropäer benötigen in der EU die Unterstützung Deutschlands. So verlieren beide Seiten.
Dabei bietet die aktuelle Gewichtsverschiebung in der EU nach Osten Berlin zahlreiche Optionen. Deutschland war immer dann sicher, wenn in Osteuropa stabile Verhältnisse herrschten. Deshalb setzte sich Kanzler Kohl noch für eine rasche Osterweiterung von EU und Nato ein. Der „wilde Osten“ beginnt seither nicht mehr an der Oder, sondern am Bug.
So viel strategischer Weitblick ist passé. Jeder weiß, dass die Ukraine erst zahlreiche Kriterien erfüllen muss, bevor sie aufgenommen werden kann. Aber eine klare Beitrittsperspektive trüge dazu bei, die Zone der Stabilität ostwärts auszudehnen. Solange Moskau vom Krieg absorbiert ist, wäre die beste Gelegenheit, um Fakten zu schaffen.
Scholz zog es hingegen vor, sich Macrons Initiative anzuschließen. Die Idee, eine neue Organisation für die minderen Brüder im Osten und Süden zu schaffen, erlitt mit der „privilegierten Partnerschaft“ für die Türkei bereits einmal Schiffbruch. Nur ein französischer Präsident vermag es, einen gescheiterten Vorschlag so geschickt zu drapieren, dass er nicht ausgelacht wird. Für Macron erfüllt die Charade einstweilen ihren Zweck.
Für Berlin hingegen hat sich der Einsatz im Osten gegenüber den 1990er-Jahren noch einmal erhöht. Die deutsche Industrie hat Polen, Tschechien, die Slowakei zu ihrer verlängerten Werkbank erkoren. Je länger der Krieg dauert, je erbitterter gekämpft wird, umso mehr steigt das Risiko, dass die östlichen Mitglieder der EU destabilisiert werden. Es läge daher im deutschen Interesse, die eigenen Investitionen im Osten zu schützen. Dafür braucht man allerdings eine Strategie.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 27.5.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung